Ist Deutschland wieder der »kranke Mann Europas«? 3 Gründe für mehr Optimismus
Hohe Energiepreise, teure Kredite und stockendes Wachstum: Steht unsere Wirtschaft am Abgrund? Der Ökonom, der vor 25 Jahren den Satz vom »kranken Mann Europas« geprägt hat, sagt: Keine Panik!
Rezession.
Es gibt kaum ein anderes Wort, das Politiker, Wirtschaftsbosse und Ökonomen derart in Aufruhr versetzt.
Um diesen sperrigen Begriff zu verstehen, stell dir die Wirtschaft als eine riesige Achterbahn vor, auf der es mal aufwärts und zwangsläufig irgendwann auch wieder abwärts geht. Besonders während der von Unsicherheit geprägten Zeit der Pandemie war die Fahrt wild und unvorhersehbar. Dennoch hat der deutsche Waggon trotz aller Probleme ruhig weiter seine Runden gedreht. Grund für die recht sichere Fahrt waren vor allem politische Stabilisierungsmaßnahmen in Form von milliardenschweren Hilfspaketen.
Doch damit ist es nun vorbei. Die Rezession entspricht dem Teil der Strecke, auf dem sich der Waggon langsam dem Punkt nähert, von dem aus am Horizont keine Gleise mehr zu sehen sind. Während die Fahrt immer langsamer wird, ist den Mitfahrenden klar: Gleich geht es abwärts. Angst greift um sich, Fahrgäste krallen sich fest und versuchen, die Talfahrt möglichst unbeschadet zu überstehen.
Auf die Wirtschaft übertragen heißt das: Im Abschwung halten Menschen wie Unternehmen ihr Geld zusammen und konsumieren und investieren weniger; die Zahl der Firmenpleiten steigt möglicherweise ebenso wie die Zahl der Arbeitssuchenden.
Genau an diesem Punkt der Achterbahnfahrt sehen viele Wirtschaftsexperten die deutsche Wirtschaft aktuell. Das international renommierte Wirtschaftsmagazin
Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?
Die Antwort gab das Magazin gleich mit: Auf dem Cover ist ein am Tropf hängendes Ampelmännchen zu sehen.
Einer der wichtigsten Gründe für die Diagnose: Zuletzt hat der Internationale Währungsfonds (IWF) seine ohnehin schon schlechte Prognose für Deutschland in diesem Jahr sogar noch einmal nach unten korrigiert. Statt zu wachsen, wird die Wirtschaftsleistung hierzulande wohl um 0,2% zurückgehen. Und das, während es scheinbar in nahezu allen anderen Industriestaaten mit dem Wirtschaftswachstum blendend läuft:
Wie kann das sein?
Sind die fetten Jahre nun endgültig vorbei? Haben sich die zahlreichen Probleme im Land so sehr akkumuliert, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland, einst beneidet von Menschen aus aller Welt, nun dem Untergang geweiht ist?
Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?
Es ist nicht zu leugnen: Deutschlands Wirtschaft tut sich aktuell über weite Strecken schwer. Hohe Energiepreise, Handelssanktionen und die
Glaubt man der Opposition, lautet die Antwort ganz klar: Ja.
»Wir sind
Doch es gibt auch weniger aufgeregte Stimmen, die zu einem ganz anderen Urteil kommen. Eine davon gehört Holger Schmieding. Schmieding ist Ökonom und Chefvolkswirt bei Deutschlands ältester Privatbank und hat sich in der Vergangenheit nicht als naiver Optimist hervorgetan.
Er war es, der Deutschland Ende der 90er-Jahre erstmals als »kranken Mann Europas« betitelte und damit ein Narrativ erschuf, das aktuell bereitwillig von vielen Oppositionspolitikern wie Linnemann wieder aufgewärmt wird.
Ich habe Holger Schmieding selbst gefragt, wie er die aktuelle Lage sieht. Im Interview hat er mir verraten, warum die Dinge heute ganz anders liegen als damals; warum Deutschland weit weniger schlecht dasteht, als viele behaupten – und was zu tun ist, damit das auch so bleibt.
1. Deutschland hat ein stabiles wirtschaftliches Rückgrat
Sie haben Deutschland Ende der 90er-Jahre genau die gleiche Diagnose gestellt – sind heute aber wesentlich gelassener. Warum?
Dahinter steht das Dogma, die Schuldenbremse ab dem kommenden Jahr unbedingt wieder einhalten zu wollen – und zwar ungeachtet der riesigen Herausforderungen in Sachen Wirtschaft und Klimaschutz. Dabei wurde Deutschland bereits vor Corona attestiert, dass hierzulande ein
2. Der Mittelstand ist Meister darin, sich durch Innovation an Probleme anzupassen
Solche Unternehmen sind nicht allein auf die deutsche Landesgrenze beschränkt. Auch in Österreich, der Schweiz und Norditalien, also in ganz Mitteleuropa, gibt es viele kleine und mittlere Unternehmen, die in
Es sind diese Unternehmen, die auch und gerade in Krisenzeiten besonders anpassungsfähig sind. In denen die Eigentümer schlaflose Nächte haben, wenn das Geschäft schlecht läuft. Hier kennt man seine Kunden oft noch persönlich. Wenn Bestellungen ausbleiben, wird hier direkt der Hörer in die Hand genommen, um zu hören, woran es hakt und wie man es besser machen kann.
Auf diese Weise funktioniert der Mittelstand in Deutschland wie eine regelrechte Suchmaschine für Innovation, die auf der ganzen Welt ihresgleichen sucht. Großunternehmen sind im Vergleich dazu oft behäbiger. Sie brauchen lange für Entscheidungen, für die es dann vielleicht schon zu spät ist oder die sich im Nachhinein als falsch erweisen.
Die mittelständischen »Hidden Champions« hingegen suchen in vielen kleinen Schritten und immens schnell nach Lösungen: Funktionierendes wird weiterentwickelt, Ineffizientes verworfen. Auf diese Weise können sich diese Firmen innerhalb bestehender Strukturen sehr schnell an neue Gegebenheiten anpassen. Und das wird natürlich gerade in unserer Zeit immer wichtiger, denn wir müssen uns ja anpassen – zum Beispiel an den Klimawandel.
3. Eine Bundesregierung, die die Probleme erkannt hat
Heute haben wir eine Regierung, die uns mit der Gas- und Strompreisbremse viel besser durch den vergangenen Winter gebracht hat, als zu erwarten war. Die mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz in die richtige Richtung geht. Wir brauchen Einwanderung, aber sie muss zu unseren Bedürfnissen passen.
Nicht zuletzt ist das
Das heißt, dass Unternehmen in dem Jahr, in dem sie zum Beispiel in neue, energiesparende Maschinen investieren, weniger Steuern bezahlen müssen. So können sie sich das auch dann leisten, wenn die wirtschaftliche Gesamtwetterlage nicht so gut ist. Das sind besonders für Mittelständler wichtige Punkte. Aber auch allgemein gilt: Es gibt einen riesigen Investitionsbedarf in Deutschland, in neue Geschäftsfelder, Energieeffizienz, Personal und noch vieles mehr.
Kein Grund, sich auf den eigenen Lorbeeren auszuruhen
Wenn doch etwas getan wurde, dann ging es mitunter in die falsche Richtung. Wenn es einem gut geht, gönnt man sich auch gerne mal etwas. Was wir uns aber mit der
Im Gegenteil: Wir müssen Anreize setzen, die es für dringend benötigte Fachkräfte interessant machen, länger zu arbeiten. Das geht zum Beispiel über Steuervergünstigungen für Menschen, die über die gesetzliche Altersgrenze hinaus arbeiten.
Schneller könnte man meiner Meinung nach auch werden, indem einige
Die Alternative dazu lautet, dass viel zu wenig oder eben gar nicht gebaut wird. Das muss immer im individuellen Fall abgewogen werden, aber in der aktuellen Situation müssen wir in Deutschland lernen, im Zweifel auch mal ein Auge zudrücken zu können.
Krisen als dornige Chance
Auch das Vermeiden von CO2 ist ein Thema, das bei uns wesentlich ernster genommen wird als in anderen Teilen der Welt, sodass auch hier Fortschritte zu erwarten sind, die wir später hoffentlich in die ganze Welt verkaufen können. Wenn wir es schaffen, Deutschland im größten Thema unserer Zeit, der Bekämpfung des Klimawandels, zum Vorreiter zu machen, haben wir gleichzeitig spannende neue Geschäftsfelder, von denen wir lange Zeit profitieren könnten.
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily