Du fühlst dich als »Teil der Natur«? Die Natur gibt es aber nicht
Das sagen zumindest einige Philosoph:innen. Warum es so verdammt schwierig ist, Natur klar zu benennen, und welche Fragen viel wichtiger sind.
Meine Augen sind oft sehr trocken. Dagegen hat mir meine Ärztin einen Tipp gegeben: regelmäßig Pausen von der Arbeit am Laptop machen und abwechselnd auf etwas Nahes und etwas weit Entferntes schauen. Im Sommer habe ich die Übung für mich ein wenig verändert: Ich saß im Garten und schaute abwechselnd auf »Natur« und auf »Nichtnatur«. Einfach, oder?
- Nichtnatur: Laptop.
- Natur: Die Birke auf der gegenüberliegenden Seite des Grundstücks.
- Nichtnatur: Der Stuhl, auf dem meine Füße liegen und der vermutlich zu großen Teilen aus Plastik besteht.
- Natur: Die Schwebfliege, die sich einen meiner Füße als Landeplatz ausgesucht hat. (Sind meine Füße eigentlich Natur oder Nichtnatur?!)
- Nichtnatur: Das Schaukelpferd, das aus einer dicken Metallfeder und einem Sitz aus Holz gefertigt ist. Moment, Holz ist ja eigentlich Natur – oder zumindest ein »natürliches« Material. Aber es wurde zugeschnitten, geleimt, geölt. Hm.
- Natur: Die Tomaten im Hochbeet. Zählt das? Schließlich wurden sie
Oder ist die Einteilung insgesamt hinfällig, weil ich in einem Garten und mitten in der Stadt sitze?
Meine Augen haben sich inzwischen etwas erholt. Dafür hat sich in meinem Kopf ein Knoten gebildet. Je mehr ich über die auf den ersten Blick triviale Frage, was Natur ist, nachdenke und lese, desto weniger greifbar fühlt sich das Konzept an. Dabei wird ständig über Natur gesprochen: wie wir Menschen uns von ihr entfremden und wie wir sie vor uns schützen (können). Und es wird heute mehr denn je sowohl
Nahezu jeder Winkel der Erde ist vom Menschen durchdrungen
Die Vorstellung von »Natur« gibt es schon genauso lange, wie sich der Mensch bewusst Gedanken darüber macht, dass er eine (vermeintlich) herausragende Stellung in der Welt einnimmt.

Zwar ist Natur manchmal als »Kosmos« oder »Welt« definiert; als alles, was den Naturgesetzen unterliegt – bei dieser Definition bleibt allerdings nicht viel übrig, was nicht Natur ist. Doch in den meisten Fällen geschieht die Definition über eine Abgrenzung des Menschengemachten von dessen Umwelt. Natur ist immer Gegenteil: Gegenteil von Technik, von Kultur oder von Gesellschaft.
Natur (physis) [wird definiert] als das, was von sich aus da ist; das aus eigener Kraft Gewachsene und Wachsende; als Inbegriff ursprünglicher Kräfte – im Unterschied zur Kultur (thesis) als dem Gemachten; dem, was vom Menschen ›gesetzt‹ ist und an dem daraufhin der Charakter des Artifiziellen, Autonomen und darin Naturfremden betont werden kann.
Tiere, Pflanzen und Landschaften sind im westlichen Denken demnach Natur. Gebaute Umwelt – also zum Beispiel Häuser und Städte – sowie Gegenstände sind Kultur und damit Nichtnatur. Doch so trennscharf wie das in der Theorie klingt, lassen sich diese Dinge in der Realität nicht immer benennen.
Was Natur ist, hängt immer auch davon ab, wer den Begriff nutzt und zu welchem Zweck. Es kommt auf das eigene Menschenbild und die Weltanschauung an.
Doch selbst in Gesetzestexten bleibt das Konzept von Natur bisweilen maximal vage. So heißt es beispielsweise
Welche Erfahrungen ein Mensch in seinem Leben mit Natur gemacht hat, prägt ebenfalls sein oder ihr Bild. In
Menschen einer Generation halten den Zustand der Natur für normal, den sie aus ihrer Kindheit kennen. Demnach ist die Natur, die wir als Kind erleben, das Maximum an vorstellbarer Fülle. Eine Verarmung der Natur empfinden wir nur im Rahmen der eigenen Erfahrung.
In einer Zeit, in der nahezu jeder Winkel der Welt vom Menschen in irgendeiner Weise durchdrungen und verändert ist, argumentieren manche Philosoph:innen dafür, dass es so etwas wie Natur

Später in diesem Sommer, in dem ich begann, darüber nachzudenken, was Natur eigentlich ist, unternahm ich im Altmühltal einen kleinen Ausflug. Nach nicht einmal einer halben Stunde Aufstieg stand ich auf einer felsigen Anhöhe auf dem Urdonautalsteig.
Zu meinen Füßen erstreckte sich die für Deutschland heute so typische Landschaft: akkurate Linien teilen die Schattierungen von Grün und Braun in unterschiedlich große Rechtecke. Ein Fluss schlängelt sich entschuldigend durch das Bild, eine Straße zerschneidet es ohne schlechtes Gewissen. Etwas weiter weg ließ sich ein Wäldchen erahnen.
Dort oben roch es nach Schafskot. Vielleicht war es auch Mufflonkot – die einst exotischen Tiere sind in dieser Gegend
Natur als Feind, den es zu zähmen, fesseln, erobern gilt
Das uralte philosophische Problem, was Natur ist, lässt sich wohl nicht auflösen. Die Theorieschublade zu schließen und nicht weiter darüber nachzudenken, geht aber auch nicht. Schließlich beobachte ich immer wieder, wie unser Verständnis davon alltäglich reale Folgen hat.
Aber wichtiger, als eine eindeutige allgemeingültige Definition zu finden, ist vermutlich etwas anderes: wie die wie auch immer definierte Natur bewertet und was daraus für den Umgang mit ihr abgeleitet wird. Hat Natur einen Wert an sich? Welche Konsequenzen hat es, wenn sich Menschen als Teil der Natur fühlen? Welche, wenn sie sich eher als außerhalb stehend wahrnehmen?
Menschen greifen genau wie nichtmenschliche Tiere seit jeher in ihre Umgebung ein und verändern sie – anders wäre es nicht möglich, zu überleben. Alle Tiere müssen essen, trinken, an einem geschützten Ort schlafen. Der Specht schlägt sich seine eigene Höhle in Baumstämme. Manche Ameisenarten graben

Doch als der Mensch zunehmend sesshaft wurde, wurden die Eingriffe in die Natur immer intensiver: Man rang der belebten Umgebung Acker- und Weideflächen ab, rodete Wälder, um Platz für die Landwirtschaft zu schaffen – eine Entwicklung, die laut Simone Böcker bis heute eines der größten Probleme für die verbleibende Tierwelt darstellt.
Mit der Aufklärung und zunehmendem technischen Fortschritt gewann die Landnutzung noch einmal eine ganz neue Qualität: »Es begann ein systematischer Umbau der Natur, der allein dem Interesse des Menschen diente.« Dazu trug sicher auch der Philosoph und Mathematiker René Descartes bei, von dem der bekannte Ausspruch »Ich denke, also bin ich« stammt. Er sah in den Naturwissenschaften das Potenzial, den Menschen »zu Herren und Eigentümern der Natur zu machen«.
Der unerschütterliche Glaube an Wissenschaft und Fortschritt ging einher mit der Idee, dass die Natur dem Menschen Feind sei, die es zu zähmen, fesseln und erobern galt.
Der Wert der Natur bemaß sich fortan überwiegend an ihrem Nutzen als Ressource. Würden wir ein paar Hundert Jahre in der Zeit zurückreisen können – wir würden wohl kein Fleckchen Deutschlands wiedererkennen. Die Landschaften waren damals geprägt von Tümpeln, Teichen, Seen, Sümpfen und wild mäandernden Flüssen. Ab dem 18. Jahrhundert wurden diese Wasserlandschaften zunehmend trockengelegt, begradigt, eingehegt. Ab den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschleunigte sich die Ausbeutung natürlicher Ressourcen noch einmal rasant.
Von der Bedrohung zum Bedrohten
Das Denken von Natur als etwas Lästigem, bisweilen Gefährlichem, wirkt bis heute. Ins Gegenteil zu kippen, also eine verklärende, romantische Sichtweise anzunehmen, die alles »Natürliche« als gut und alles
Natürlich vs. chemisch
Dieser Gegensatz wird bei Lebensmitteln oder Kosmetik gerne aufgemacht. Dabei ist alles »Chemie«. Es ergibt auf molekularer Ebene keinen Unterschied, ob ein bestimmter Inhaltsstoff im Labor hergestellt wurde oder aus der Natur stammt. Zwar gibt es auch Stoffe, die ausschließlich synthetisch hergestellt werden können und nicht in der Natur vorkommen – doch das sagt zunächst nichts darüber aus, wie gefährlich oder umweltschädlich diese sind. Umgekehrt stammen viele der giftigsten Stoffe der Welt aus der Natur, zum Beispiel Botulinumtoxin (Botox), ein Stoffwechselprodukt anaerober Bakterien.
Aber so sehr sich manche das vielleicht wünschen – der Mensch kann nicht völlig entkoppelt von der Natur leben, sich über sie hinwegsetzen, sie grenzenlos ausbeuten. Geht das Artensterben im gleichen Tempo weiter wie bisher, brechen nach und nach alle Ökosysteme zusammen und
Der Historiker und Philosoph Philipp Blom stellt in einer Folge des
Diese Einsicht, dass wir unseren Stoffwechsel umstellen müssen, schwappt mehr und mehr in das Bewusstsein westlicher Gesellschaften und deren Politik. Doch wie sieht eine Welt aus, in der Natur und Mensch nicht mehr als gegenseitige Bedrohung – mal von der einen, mal von der anderen Seite – gesehen werden? Wie viel Raum darf der Mensch einnehmen, wie viel die nichtmenschliche Natur?
Diese Fragen werden immer wieder neu verhandelt: wenn eine neue Autobahn oder Wohnsiedlung gebaut werden soll, wenn ein Tagebau stillgelegt wird, wenn
Anfang September wanderte ich einen ganzen Tag im Bayerischen Wald. Die »Schachtenwanderung«, die ich mir ausgesucht hatte, führt streckenweise durch Wald, dann in Abschnitten des Hochmoors über lange Stege, durch ein Meer aus Heidelbeerbüschen hindurch. Um diese Jahreszeit hingen allerdings nur noch vereinzelt Beeren an den Büschen. Alle paar Meter sonnten sich nur wenige Zentimeter große Eidechsen auf den Holzbohlen.
Auf dieser Tour öffnet sich die Landschaft immer wieder und man steht plötzlich auf inselartigen Lichtungen:

Wie die Wildnis nach Deutschland zurückkehren kann
Noch sind Beispiele wie der Bayerische Wald eine Rarität, sie reichen längst nicht aus. Doch es tut sich etwas. Konzentrierte man sich früher eher darauf, einzelne Arten oder Lebensräume zu schützen, ist heute klar: Ökosysteme funktionieren nur in ihrer Gesamtheit. Zwischen unterschiedlichen Tier- und Pflanzenarten gibt es komplexe Wechselbeziehungen.
Auf europäischer Ebene wurde in diesem Jahr ein
Alle EU-Mitgliedstaaten verpflichten sich darin, zerstörte Natur wieder in einen guten ökologischen Zustand zu bringen und damit den Bestand von Bestäubern, sauberer Luft und Wasser zu sichern. Bis das Gesetz tatsächlich steht, dauert es vermutlich noch bis März – doch
Ein noch weiter reichendes Verständnis von Renaturierung liegt dem sogenannten »Rewilding« zugrunde, wofür es im Deutschen bislang keine passende Entsprechung gibt. Das Konzept kam bereits vor 20 Jahren als mögliche Lösung für sowohl die Klimakrise als auch das Artensterben auf.
Der Grundgedanke: Die Natur kann selbst am besten für ihr ökologisches Gleichgewicht sorgen. Unter Umständen ist zunächst menschliche Hilfe nötig, um zerstörte Ökosysteme wiederherzustellen – doch dann können sich diese selbst regulieren. Auch der Mensch hat in diesem Konzept seinen Platz: so entstehen beispielsweise im Umweltschutz oder Naturtourismus neue Arbeitsplätze und diese Gebiete können zur Erholung und für die Gesundheit dienen.

Vorreiter in Europa ist die Initiative
Dabei geht es nicht darum, einen ganz konkreten Zustand aus der Vergangenheit wiederherzustellen, sondern Möglichkeiten zu schaffen, dass sich die Natur nach ihren eigenen Regeln ausbreiten und entwickeln kann. Hier und da hilft die Organisation mit der Ansiedlung bestimmter Arten nach, die an diesem Ort einmal typisch waren. Im
Wie viel Raum Deutschland völlig der Natur überlassen will, ist in der Nationalen Biodiversitätsstrategie festgeschrieben:
Wildnisgebiete sind ausreichend große, (weitgehend) unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten.
Inzwischen ist Winter. Bei einem Spaziergang durch den ersten Schnee des Jahres gehe ich am Flussufer in der Nähe meiner Wohnung entlang. Links von mir der Damm, der aus Erde aufgeschüttet wurde, um die dahinterliegenden Häuser vor Hochwasser zu schützen. Ein paar Kinder schlittern den grün-weiß gefleckten Hang hinunter. Rechts von mir steht eine Weide halb im Wasser, Maschendraht umarmt ihre untere Hälfte.
Beim Anblick der Zahnabdrücke im Holz muss ich an einen weiteren Satz aus Simone Böckers Buch denken. Sie schreibt: »Wir müssen die Qualität möglichst vieler Flächen auf der Wildnisskala nach oben verschieben – und zwar auch in Gebieten, die vom Menschen genutzt werden.«
Statt Natur über Gegensätze zu definieren, ist vielleicht die Vorstellung eines Spektrums hilfreicher: auf der einen Seite die (derzeit de facto nichtexistierende) vom Menschen komplett unberührte Wildnis, auf der anderen Seite beispielsweise Industriegebiete ohne jegliche Vegetation oder Tiere (die so auch nicht existieren). Und dazwischen ganz viele Grau- äh, Grüntöne.
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