Dauerkrise? »Es geht vor allem darum, sich nicht in eine Ohnmacht treiben zu lassen«
Die bekannte Beteiligungspädagogin und Autorin Marina Weisband hat jüdische Wurzeln und Familie in der Ukraine. Trotzdem lässt sie sich nicht unterkriegen. Was sie durch die Krise trägt – und wie du eine Krisen-Life-Balance findest.
Jeden Tag prasseln neue Nachrichten aus Konfliktgebieten auf uns ein, jeden Tag neue Todeszahlen und Berichte über eskalierende Gewalt und menschliches Leid. Währenddessen sind Rechtsradikale in Europa auf dem Vormarsch und rütteln an den Fundamenten unserer Gesellschaften. Die Wirtschaft schlittert von einer Krise in die nächste und die Schere zwischen Arm und Reich wird immer breiter. Als wäre das nicht genug, steht die Menschheit mit der Klimakrise vor einer der größten Herausforderungen unserer Geschichte – und versagt bisher darin, sie zu bewältigen.
Wir erleben momentan eine besonders unruhige Zeit, auch im ansonsten vergleichsweise ruhigen und sicheren Deutschland. Wie aber hält man das aus?
Auf der Suche nach Antworten stieß ich auf Was uns durch die Krise trägt, ein Buch der jüdischen Diplom-Psychologin, Beteiligungspädagogin und Politikerin (Bündnis 90/Die Grünen) Marina Weisband und des Psychologen und Autors Erschienen ist es bereits im März, vor dem .
Deshalb wollte ich von Marina Weisband wissen, ob sich an ihrem hoffnungsvollen Blick etwas geändert hat und was sie gerade durch die Krise(n) trägt.
Dirk Walbrühl:
Was hat der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel bei dir ausgelöst?
Marina Weisband:
Für Juden und Jüdinnen wie mich war das besonders schwer. Dazu muss man wissen, dass wir es beim Krieg der Hamas gegen Israel mit einem Konflikt zu tun haben, der ganz viel generationelles Trauma triggert – sowohl auf jüdischer als auch auf palästinensischer Seite.
Was meinst du damit?
Marina Weisband:
Da kommen Emotionen hoch, vor denen man selbst Angst hatte, bei denen man auch Ängste der Eltern und Großeltern spürt. Es beraubt einen des Gefühls der Sicherheit, der Idee, dass es irgendwo auf der Welt einen Ort gibt, an dem Juden sicher leben können.
Gegen Judenhass in Deutschland
Umso schlimmer, dass in Deutschland judenfeindliche Handlungen derzeit zunehmen, Israelflaggen abgerissen werden, jüdische Geschäfte beschmiert und überfallen werden …
Marina Weisband:
Wann immer im Nahen Osten ein Konflikt losbricht, steigt der Antisemitismus in Deutschland. Man hat als Jude dann ein anderes Gefühl, in Deutschland zu sein. Das habe ich schon
Was können wir dagegen tun – mehr offene Solidarität mit Israel zeigen?
Marina Weisband:
Wir tendieren dazu, bei einem Konflikt eine Seite zu wählen und nur solidarisch mit dieser Seite zu sein. Bei der Ukraine war die Solidarität leichter, dort gibt es ein mächtiges Land, das ein kleineres Land überfällt. Beim aktuellen Israel-Hamas-Krieg ist es komplexer. Dort haben wir es mit Terror zu tun, mit Vertreibung und konstanter Bedrohung. Ich glaube, in dieser Situation ist es nicht gut, sich in eine Flagge zu hüllen und keine Solidarität mit der anderen Seite und ihren Opfern zu zeigen. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass fast ganz Israel zuletzt noch gegen die Politik von Benjamin Netanjahu auf der Straße war. Dass es viele Menschen dort gibt, die ihm eine Mitschuld am 7. Oktober und an der Entstehung der Hamas geben. Reines Mannschaftsdenken passt hier also einfach nicht.
Was hilft dann?
Marina Weisband:
Wir könnten darüber reflektieren, wie wir gerade sprechen. Zum Beispiel fällt mir auf, dass selbst Medien derzeit das Wort »Jude« vermeiden. Dann fallen Formulierungen wie »Menschen jüdischen Glaubens« oder »jüdische Mitbürger:innen«. Als wäre das Wort »Jude« ein Schimpfwort oder negativ behaftet. Das sagt auch etwas darüber aus, wie wenig Menschen in Deutschland über Jüd:innen und ihre Kultur hierzulande wissen.
Woher kommt das?
Marina Weisband:
Deutsche lernen über Juden im Unterricht, in Geschichtsbüchern und von Schwarz-Weiß-Fotos der NS-Zeit. Aber wir leben hier, wir sind lebendig und ein Teil der Gesellschaft! Oft höre ich dann: »Warum muss ich denn etwas darüber wissen?« Eine Antwort liegt auf der Hand: Die Nazis haben aktiv versucht, die jüdische Kultur auszulöschen – eine Kultur, die zu Deutschland gehörte und gehört. Wir sollten ihnen da keinen Erfolg lassen. Anders gedacht: Selbst so viele Jahre nach dem Krieg haben wir es in der Hand, die Politik der Nazis immer wieder zu besiegen. Und das ist ein sehr schöner Gedanke.
Also differenzieren, über jüdische Kultur lernen, mit Jüd:innen reden und zuhören – um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Das war ja auch ein wichtiger Punkt aus deinem Buch. Aber es ist ja nur eine Lösung und wir erleben dieses Jahr noch viel mehr Krisen.
Marina Weisband:
Ich lebe ja schon seit 2 Jahren im Dauerkrisenmodus …
Perspektiven in der Systemkrise
Du meinst den Ukraine-Krieg.
Marina Weisband:
Genau. Ich habe ja Familie dort.
Der Ukraine-Krieg wurde in den Medien ja teilweise verdrängt. Viele Menschen finden es derzeit schwierig, ihre Aufmerksamkeit auf beide Kriege aufzuteilen. Wie gelingt uns das?
Marina Weisband:
Das nicht gut zu können, ist nur natürlich. Wir Menschen können nicht alles Leid der Welt auf dem Schirm haben. Das würde unsere Psyche kaputtmachen. Wenn wir bestimmte Themen erst mal ausklammern, agieren wir mit einem gesunden Selbstschutz. Für die Ukraine ist das natürlich tragisch.
Wieso?
Marina Weisband:
In dieser Dunkelheit rutscht die Ukraine gerade in eine Niederlage. Und die Verantwortlichen im Westen können sich durch das Schweigen und die Ablenkung still aus der Verantwortung ziehen. Fragen wie »Was lief in der Ukraine falsch?« werden nicht gestellt. Das ähnelt der Annexion der Krim 2014. Es wurde stiller und stiller und irgendwann war es Fakt.
Gegen diese militärisch-politischen Entwicklungen kann eine Einzelperson natürlich erst mal wenig tun. Da liegt die Verlockung nah, bei all den Krisen die Nachrichten ganz auszuschalten, den Kopf in den Sand zu stecken und sich nur noch um sich selbst zu kümmern.
Marina Weisband:
Wir erleben tatsächlich multiple Krisen. Mehr noch: Wir erleben, wie derzeit das System – wie die Welt bisher funktioniert hat und welche Elemente dafür zusammenspielen – keine Antworten mehr auf neue internationale Herausforderungen findet.
Deinem Buch entnehme ich, was du mit »System« meinst: Entregulierter Hyperkapitalismus, Konzentration von Macht und Geld in der Hand weniger Privatkonzerne, Lobbypolitik und kaum handlungsfähige, internationale politische Gremien. Korrekt?
Marina Weisband:
Grob. Es ist die von uns als natürlich angesehene Ehe von Kapitalismus und Demokratie. Und genau dieses System ist nicht dafür gemacht, langfristig zu denken. Es werden nur Symptome bekämpft, Pflaster auf Risse geklebt. Das System erzeugt vor allem Reiche, die reicher werden, und Arme, die ärmer werden. Das spüren die Menschen, und nicht zuletzt deswegen wählen so viele Menschen gerade extrem rechts, weil dort Alternativen versprochen werden. Ohne das jetzt in Schutz nehmen zu wollen.
Du verstehst also Menschen, die rechtsradikal wählen?
Marina Weisband:
Ich verstehe den Impuls, nach Alternativen zu suchen. Dabei versprechen Rechtsextreme nur vordergründig Wandel. Dahinter steht lediglich ein radikalisiertes »Weiter so«. Eine echte, wirkmächtige politische Kraft für Systemwandel sehe ich derzeit nicht. Ich sehe aber gerade viele Menschen, die vom System gekränkt und gedemütigt werden.
Wie das?
Marina Weisband:
Ich meine die Schere zwischen Arm und Reich, die macht etwas mit Menschen. Wenn alle arm sind, ist das erträglich. Ich bin in Kiew auch mit Sozialhilfe großgeworden – das ging allen damals so und wir waren solidarisch miteinander. Wir sehen aber heute beständig die Ungleichheit, die Reichen und Superreichen, vergleichen unsere Leben mit denen von Nachbarn und Bekannten.
Das erinnert mich an einen Satz aus einem Gespräch mit einem AfD-Wähler, der mir nicht aus dem Kopf geht: »Wenn ich meinem Kind kein Pausenbrot kaufen kann, ist mir alles andere egal.«
Marina Weisband:
So etwas ist eine ständige Demütigung. Und Menschen unter Kränkungen werden sehr hässlich und destruktiv. Und genau das kann in einer Krise ausgenutzt werden – zum Beispiel von Faschisten.
Das klingt jetzt auch eher hoffnungslos und nach Kopf in den Sand stecken, oder?
Marina Weisband:
Jein, denn eine Krise kann auch konstruktiv sein. Sie übt erst mal Druck auf ein System aus, sich zu verändern. Vielleicht ist das sogar die einzige Art, wie sich Gesellschaften grundlegend verändern. Wir sind also viel eher in einer Transformationszeit – und diese sind immer schmerzhaft und scheiße.
Und was können wir da als Bürger:innen tun?
Marina Weisband:
In einer Transformationszeit kann man 2 Dinge tun. Erstens: Darauf achten, dass wir und unsere Nächsten gut durch diese Zeit kommen. Aber auch solidarisch mit den Schwächsten in unserer Gesellschaft sein. Freundlich bleiben und Anteil nehmen. Zweitens: Wir müssen uns daran erinnern, dass Transformationszeiten vorbeigehen und es irgendwann besser werden wird.
Die richtige Balance für unruhige Zeiten
Was ist mit Zivilcourage und Demonstrationen? Brauchen wir die nicht auch gerade jetzt?
Marina Weisband:
Wir brauchen Zivilcourage dort, wo Menschen bedroht werden und Faschisten Macht gewinnen.
Und sonst?
Marina Weisband:
Sonst sollte man eher nicht gegen jemanden demonstrieren, sondern für etwas. Zum Beispiel für eine gerechtere Welt. Das ist automatisch stärker, als nur »gegen« etwas zu sein. Wir müssen viel mehr über Lösungen reden und Geschichten über die Menschen erzählen, die sie ausprobieren.
Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber wie helfen Geschichten, aus deiner Perspektive, konkret gegen Krisen?
Marina Weisband:
Menschliche Vorstellungskraft ist unser mächtigstes Werkzeug. Wir sind die einzigen Tiere, die sich vorstellen können »Was wäre, wenn …?«. Es ist der Vorteil von Krisen, dass solche Vorstellungen reizvoller werden.
Alternative Lebenskonzepte machen vielen Menschen aber auch Angst.
Marina Weisband:
Wovor haben sie denn Angst? Vor Chaos und Tod? Das ist doch alles schon hier.
Okay, aber gibt es nicht auch konkretere Lösungen, wo man mit anpacken kann?
Marina Weisband:
Klar, auch konkrete Projekte könnten schon hier sein. Was hält etwa eine Kommune davon ab, sich eine »Volkshochkneipe« in die Innenstadt zu setzen – mit öffentlichen Gärten, einer Gemeinschaftswerkstatt, einem Mitbring-Café, angeschlossener Bibliothek und Volkshochschule. Das kann man doch machen und dann kann jeder daran sehen, dass Leben auch ganz anders aussehen können.
Ich bemerke deine Begeisterung. Ist es das, was dich gerade durch die Krise trägt – die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und Menschen, die schon heute daran bauen?
Marina Weisband:
Ja. Das trägt mich. Aber auch ich beschäftige mich nicht ständig mit allen Krisen. Und das ist okay.
Also hast du eine Art »Krisen-Life-Balance« gefunden. Hast du da Tipps?
Marina Weisband:
Es geht vor allem darum, sich nicht frustrieren und in eine Ohnmacht treiben zu lassen. Wenn wir alle Menschen sind, die nur mit Krisen hadern und daran scheitern, dann sind wir keine freundliche oder gute Gesellschaft. Wir können viel mehr erreichen, wenn es uns selbst psychisch gut geht. Es geht darum, zu schauen, was uns guttut und was man selbst leisten und verändern kann. Für mich ganz persönlich heißt das: Ich nähe und sticke. Ich arbeite im Bereich Bildung und versuche, dort etwas zu verändern. Und ich versuche, mich um Menschen in meinem Umfeld zu kümmern – denn in der direkten Hilfe steckt die kleinste Einheit der Demokratie. Frag doch mal deinen Nachbarn: »Brauchst du etwas?« Es sind die kleinen Gesten, die Brücken bauen können.
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
Dirk ist ein Internetbewohner der ersten Generation. Ihn faszinieren die Möglichkeiten und die noch junge Kultur der digitalen Welt, mit all ihren Fallstricken. Als Germanist ist er sich sicher: Was wir heute posten und chatten, formt das, was wir morgen sein werden. Die Schnittstellen zu unserer Zukunft sind online.