Am internationalen Flughafen O’Hare in Chicago gibt es ein Problem:
Die Handyaufnahmen aus Chicago zählen zu den zahllosen Videobeweisen für Gewalt, wie wir alle sie meist nur aus den Nachrichten kennen: Polizisten gegen Demonstranten, Sicherheitskräfte gegen Zivilisten, schockierende Einzelvorfälle. Viele davon schaffen es in die Medien – aus gutem Grund. Bewegte Bilder ermöglichen uns, die brisantesten Situationen nachzuempfinden, ohne selbst dabei gewesen zu sein. Doch was leicht in Vergessenheit gerät:
Kaum jemand weiß das so gut wie die israelische Menschenrechtsorganisation
Seine Ablehnung rührt daher, dass sich Organisationen wie B’Tselem offen gegen seine Regierung und das israelische Militär stellen – und zwar wegen der schlechten Behandlung der Palästinenser.
Das konkrete Ziel der NGO ist es, über das Geschehen in den
Dass Bildmaterial besonderes gut darin ist, Aufmerksamkeit für ein Problem zu erregen, wurde mehrfach wissenschaftlich untersucht und bestätigt:
Damit B’Tselem nicht auf zufällig eingesendetes Material angewiesen ist, hat die Organisation Struktur in die Sache gebracht und rund 200 Kameras an Bewohner des
Die im Folgenden eingebundenen Bilder sind von der palästinensischen Künstlerin/Fotografin Ahlam Shibli. Untertitel und Beschreibungen stammen von ihr, wurden auf ihren Wunsch hin unbearbeitet übernommen und spiegeln nicht zwingend die Meinung des Autors wider. Die Bilder sind Teil ihres Werks »Occupation (Al-Khalil, Palestine 2016–17)«, das sie dieses Jahr erstmals auf der documenta 14 in Athen präsentiert hat.
Israelische Soldaten kontrollieren die Straßen Hebrons, oft auch auf palästinensischer Seite. Manche Straßen dürfen Palästinenser nicht betreten.
Schnitt. Hebron am 24. März 2016. 2 Palästinenser attackieren einen israelischen Soldaten mit Messern. Sie verletzen ihn. Seine Kameraden eröffnen das Feuer. Einer der Palästinenser stirbt durch die Schüsse. Der andere liegt gekrümmt am Boden. Soldaten und Sanitäter eilen heran. Plötzlich fällt erneut ein Schuss.
Der israelische Sanitätssoldat Elor Azaria tötet Abed al-Fatah a-Sharif mit einer Kugel in den Kopf –
Warnung: Das folgende Video enthält gewalttätige Darstellungen. Daher ist es auch nur für volljährige Nutzer mit einem Youtube-Account einsehbar.
Elor Azaria erschießt den außer Gefecht gesetzten Abed al-Fatah a-Sharif, nachdem dieser einen Messerangriff auf einen israelischen Soldaten verübt hat.
Ohne die Videoaufnahme wäre der Vorfall in Vergessenheit geraten. Das Bildmaterial sorgte für einen großen Aufschrei, sowohl in Israel als auch in anderen Teilen der Welt. Zum einen luden viele Menschen das Video auf Online-Plattformen wie Youtube oder
Innerhalb Israels gibt es eine ausgeprägte Kultur der Verleugnung, was die Besatzung angeht. Jedes Mal, wenn wir ein Video rausbringen können, das so stark und daher nicht zu verleugnen ist, ist das ein großer Sieg für uns und das Projekt.
Doch wie genau geht B’Tselem die Sache an? Im Gespräch erklärt Pressesprecher Amit Gilutz, wie der Prozess im Detail abläuft:
B’Tselem bietet neben den Kameras auch
Ein gutes Beweisvideo dreht sich jedoch nicht einfach so. Die folgenden Tipps gelten nicht nur für die Arbeit in den palästinensischen Gebieten, sondern können auch hierzulande hilfreich sein:
Auch wenn diese Tipps von jedem und überall angewandt werden können, ist Vorsicht geboten: Ohne einen professionellen Überprüfungsprozess, wie ihn B’Tselem anwendet, hat Bürgerjournalismus schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem. Woher soll man schließlich sonst sicher wissen, wie man das nächste strittige Video im eigenen Facebookstream interpretieren soll? Einfach auf die Straße zu gehen und zu filmen ist also allerhöchstens die halbe Miete.
Das B’Tselem-Projekt aber ist ein Erfolg – mit konkreten positiven Auswirkungen auf das Leben der Palästinenser. So wurden bereits einige zu Unrecht verhaftete Palästinenser wieder freigelassen –
Das Projekt hat mir Selbstvertrauen gegeben. Früher lief ich die Hauptstraße entlang und hatte Angst, aber heute fühle ich mich sicherer … Bevor wir die Kameras bekommen haben, kamen die Siedler fast jeden Tag, jetzt kommt das nur noch selten vor.
Ob die Filme von B’Tselem dazu führen, dass auch das israelische Militär weniger rücksichtslos und aggressiv vorgeht? Das wäre zu wünschen. Doch ein Abschreckeffekt lässt sich schwer nachweisen. Manche der Videos zeigen aber, dass die Präsenz einer Kamera durchaus als Kontrollmechanismus funktionieren kann – wie in diesem Fall: Am 9. Juli 2013 verhaften israelische Soldaten einen 5-jährigen Jungen, nachdem dieser einen Stein geworfen hat.
»All das schadet unserem Image. […] Neben ihm mit seiner Kamera sind vielleicht noch andere da, nicht nur B’Tselem. Es ist immer irgendein Scheißkerl mit einer Kamera da, dessen Job es ist, euch dabei zu erwischen, wie ihr einen unnötigen Fehler begeht.«
Vater und Sohn kommen frei.
Wenn wir hier in Deutschland an Kameraüberwachung denken,
Ich denke, es kommt wirklich darauf an, wer die Kamera hält. Ist es der Staat und seine Sicherheitskräfte? Oder sind es Menschen, die diese Kameras als eine der wenigen Möglichkeiten nutzen, sich gegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zur Wehr zu setzen? Von der Form her scheint beides ähnlich zu sein, aber weil die Machtstruktur asymmetrisch ist, ist die Funktion gegensätzlich.
Die obigen Argumente halten einer genaueren Betrachtung nicht stand. Denn alles Material, was B’Tselem veröffentlicht, wird vorher verifiziert und überprüft. Überhaupt wird nur eine Auswahl des Materials gezielt veröffentlicht. Und auch der Kritik, dass jede Aufnahme nicht mehr als eine subjektive Perspektive auf das Geschehen sein kann, wird durch das Vergleichen mit anderen Zeugenaussagen und Dokumenten vorgebeugt.
Prekäre Situationen zu filmen kann gefährlich werden. Viele Kameraleute werden angegriffen und am Filmen gehindert oder sie werden gezwungen, ihre Aufnahmen zu löschen. Gilutz macht klar: »Auch mit einer Kamera bleibt das Machtverhältnis zwischen Besatzer und Besetztem dasselbe.« Auch der Aktivist, welcher den »Hebron Shooting Incident« mit seiner Kamera festhielt, bekam dies zu spüren:
Eine Kamera ist eben nicht nur eine Waffe im positiven Sinne, sondern auch eine Gefahr für die Person, die sie in der Hand hält.
Kein palästinensischer Journalist hat irgendeine Art Schutz, egal wo sie arbeiten, wenn es um Israel geht.
Und doch zeigt das Projekt, was geht – nicht nur in den palästinensischen Gebieten, sondern auch anderswo auf der Welt. Gilutz glaubt an die internationale Übertragbarkeit: »Technologie ist so allgegenwärtig geworden: Heutzutage hat fast jeder ein Smartphone, und jeder ist ein potenzieller Bürgerjournalist. Wir sehen ja auf der ganzen Welt, in so vielen verschiedenen sozialen und politischen Kämpfen, dass diese Formen der Dokumentation äußerst relevant und effektiv sind.«
In gewissem Sinne trägt folglich auch jeder Einzelne von uns die Verantwortung, über Geschehnisse und Situationen aufzuklären, wenn Informationen darüber Mangelware sind.
Woher stammt nur der Aberglaube, dass die Wahrheit sich selber Bahn breche?
Prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, welchen Effekt die Gegenwart einer Kamera haben kann: So etwa auch in Chicago. Als sich die Videos aus der United-Airlines-Maschine weit verbreitet hatten,
Ob ein Projekt wie das von B’Tselem in einem Land funktionieren kann, hängt aber letztlich zum Teil auch von rechtlichen Regelungen ab: Ist das Filmen von Polizisten im Dienst erlaubt?
Informiert euch! […] Ich denke es ist wichtig, dass man Teil einer politischen Community wird. Das ist eine große Aufgabe für jeden von uns und etwas, nach dem wir stets streben sollten. Je erfolgreicher wir dabei sind, desto effektiver können wir jedwede Art von politischem Wandel in der Welt herbeiführen.
Titelbild: Redd Angelo - CC0 1.0
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