Lerne die Ideologie kennen, die Rechte und Superreiche vereint
Argentiniens neuer Präsident nennt sich »Anarcho-Kapitalist«. Andere nennen ihn »libertär«. Was dahintersteckt und wie diese gefährliche Strömung bis in deutsche Parteien reicht. Ein Interview mit dem Soziologen Andreas Kemper.
Backenbart, längere Haare, Lederjacke: Javier Milei sieht ein bisschen so aus, als wolle er bei einer Neuauflage des Biker-Klassikers »Easy Rider« mitspielen, der Verkörperung des Vor einigen Jahren war er noch ein krasser politischer Außenseiter, verdiente sich in seiner Jugend wegen berüchtigter Wutausbrüche den Spitznamen »El Loco«, der Verrückte. Seine Hunde hat er nach Milton Murray und Robert benannt, . Er selbst bezeichnet sich als .
Heute ist er Präsident Argentiniens, gewählt mit 56% aller Stimmen.
Du kennst dich mit Argentinien nicht gut aus und fragst dich, wie er das geschafft hat? Dann klicke hier für einen Kurzüberblick, wie Milei an die Macht kam und was dann passierte.
Du kennst dich mit Argentinien nicht gut aus und fragst dich, wie er das geschafft hat? Dann klicke hier für einen Kurzüberblick, wie Milei an die Macht kam und was dann passierte.
Die Bevölkerung wollte Veränderung: Fast die Hälfte der Argentinier lebt unterhalb der Armutsschwelle, die Inflation lag bei mehr als 100%. Da schien die Radikalität Mileis vielen attraktiv. Seit 2021 saß der Ökonom im Parlament und verloste öffentlichkeitswirksam monatlich seine Bezüge. Im Wahlkampf gab er sich volksnah, schimpfte auf die politische Klasse, vor allem auf Linke, und kündigte eine harte »Kur« für Argentinien an: Sparen, die Wirtschaft deregulieren, den Peso abschaffen und den US-Dollar zur Hauptwährung machen, Staatsbetriebe privatisieren – das volle wirtschaftsliberale Programm.
Die Zahl der Ministerien halbierte er auf 9, anschließend setzte er die politische Kettensäge per Verordnungen an: Er schränkte unter anderem mit einem Notrechtsdekret das Demonstrations- und Streikrecht ein. Ein Gesetzespaket mit 660 Maßnahmen soll nun das Parlament außerdem absegnen – und Mileis Befugnisse ausweiten. Es wird deutlich: Er würde am liebsten am Parlament vorbei regieren. Ob die Abgeordneten dem zustimmen, ist noch nicht klar, denn eine Mehrheit hat er eigentlich nicht. Expert:innen wittern Verfassungsbruch, in den vergangenen Tagen gingen immer mehr Menschen gegen Milei auf die Straße. Mileis Präsidentschaft wird also vom Kampf um die Demokratie und um Freiheiten geprägt sein.
Die einen halten ihn für den argentinischen Donald Trump, einen polternden Rechtspopulisten, der die Demokratie aushebeln will. Die anderen sehen in ihm einen radikalen Reformer, Kämpfer für Freiheit und die vielleicht letzte Chance für ein kaputtes Land, dessen Inflation inzwischen bei mehr als 200% liegt. Milei hat sich gegen Abtreibungen und Sexualkundeunterricht positioniert, er leugnet den Klimawandel. Doch vor allem ist er von Hause aus Ökonom und vertritt eine wenig bekannte Strömung: Libertarismus bzw. Anarcho-Kapitalismus.
Aber was bedeutet das alles eigentlich?
Darüber habe ich mit dem Soziologen Andreas Kemper gesprochen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Libertarismus, hält Vorträge und schreibt Bücher über Klassismus, Faschismus und Antifeminismus. Ich spreche mit ihm darüber, wie libertäre Ideen Teile der AfD, Milliardäre und die deutsche Werteunion um Hans-Georg Maaßen zusammenführen und bis zum Springer-Konzern reichen.
Benjamin Fuchs:
Seit Anfang Dezember ist Javier Milei Präsident Argentiniens. Machen wirtschaftliche Ausnahmesituationen Gesellschaften besonders anfällig für radikale Politiker:innen?
Andreas Kemper:
Wir haben schon seit 2008 mit der Weltfinanzkrise gesehen, dass rechte Parteien überall profitiert haben. Sie sind seitdem aus dem Boden geschossen, in den verschiedensten Spielarten. Und für Deutschland hat der Soziologe Wilhelm Heitmeyer gesagt: Für Rechte bietet sich eine Möglichkeit, davon zu profitieren. Milei ist eine Spätfolge davon.
»Libertären geht es um Freiheit für das Eigentum der Reichen«
Milei hat die Zahl der Ministerien halbiert, plant der Wirtschaft möglichst viele Freiheiten zu geben. Er wird den Libertären zugeordnet. Was bedeutet es, libertär zu sein?
Andreas Kemper:
Libertär ist eigentlich der falsche Begriff. Er hat sich inzwischen eingebürgert, aber er ist falsch. In »libertär« steckt ja »Freiheit«. Libertären geht es letztlich aber um Freiheit in einem ganz bestimmten Sinne: nämlich um Freiheit für das Eigentum der Reichen. Da soll alles befreit werden. Reiche sollen befreit werden von Arbeiter:innenrechten, von Gewerkschaftsrechten, von Steuern, von Sozialstaat und von Zollschranken. Das ist ja nicht, was wir alle unter Freiheit verstehen. Deswegen nenne ich sie Proprietaristen. Das kommt von Eigentum, im Englischen: Property. Es sind Eigentumsfanatiker, und zwar im Sinne der Reichen.
Aber die absolute Freiheit der Unternehmer:innen oder Reichen vor staatlichen .
Andreas Kemper:
Das ist der springende Punkt. Weil Gewerkschaftsrechte, Rechte für Arbeiter:innen oder überhaupt demokratische Rechte letztlich Freiheitsrechte sind. Wenn die Gewerkschaft für eine 35-Stunden-Woche kämpft, dann heißt das: Die Arbeiter:innen haben mehr Freizeit, also buchstäblich mehr freie Zeit, weil sie für den gleichen Lohn weniger arbeiten müssen. Das heißt, die sogenannten »Libertarians«, wie sie im Englischen heißen, wollen letztlich mehr Unfreiheit für die Masse des Volkes, aber mehr Freiheit für die Reichen. Da ist tatsächlich die Freiheit der einen die Unfreiheit der anderen.
Milei bezeichnet sich selbst auch als Anarcho-Kapitalist. Warum mögen Sie den Begriff auch nicht?
Andreas Kemper:
Anarchismus heißt Herrschaftsfreiheit. Die ist im Kapitalismus nicht möglich. Herrschaft ist institutionalisierte Macht, jedes Unternehmen ist institutionalisierte Macht. Vor allem, wenn die Unternehmen dann noch in einem kapitalistischen System zusammengeschlossen sind, mit kapitalistischen Spielregeln. Das ist kein herrschaftsfreies System, es gibt Bosse.
Anarchismus würde eigentlich heißen: »Keine Macht für niemand«, dass alle gleich sind und keiner über andere herrscht. Das wollen diese Leute aber nicht. Die wollen den Staat zurückdrängen, vor allem den Sozialstaat. Das hat mit Anarchismus nichts zu tun, es ist das Gegenteil. Denkbar wäre in einer anarcho-kapitalistischen Gesellschaft nämlich, dass Privatunternehmen Privatarmeen und private Gefängnisse haben. Und das hat nichts mit Herrschaftsfreiheit zu tun.Andreas Kemper, Soziologe
Es gibt bei Milei Züge, die zeigen, dass es ihm eben nicht um Freiheit für alle geht. Er möchte zum Beispiel Abtreibungen verbieten. Also ein Widerspruch zum Libertären?
Andreas Kemper:
Das ist kein Widerspruch, weil Milei tatsächlich nicht für die Freiheit kämpft. Nicht für das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, sondern für das der Reichen. Der Zusammenhang von Abtreibungsverbot und sogenanntem »Libertarismus« besteht in der sakralen von Erbschaften.
Diesen Zusammenhang sieht man auch in der Vorherrschaft des Adels in der deutschen Anti-Abtreibungsbewegung – um die Erbschaften zu legitimieren wird der männliche Zeugungsakt sakralisiert, heiliggesprochen. Milei und seine Leute stellen sich als Rebellen und Anarchisten hin, aber sie wollen nur frei sein von den Rechten der Ärmeren und von den Rechten der Frauen.
Im Wahlkampf 2023, der Milei zum Präsidenten machte, gab es auch viele Unterstützer:innen unter armen Menschen und jungen Leuten, die in der Gig-Economy arbeiten, zum Beispiel Essen ausliefern. Die haben damit ja gegen ihr eigenes Interesse gestimmt. Wie kommt das?
Andreas Kemper:
Viele denken immer noch, es gäbe diesen Mythos »vom Tellerwäscher zum Millionär« wirklich. Wenn man sich nur genug anstrengt, dann schafft man das auch. Dieses Bild haben sie verinnerlicht. Sie sehen dabei nicht, dass es überhaupt nicht klappt. Wer Millionär wird, hat meistens schon geerbt, hat eine gute Ausbildung, die bezahlt
»Rechte treffen sich bei neuen Narrativen«
Man sieht, es gibt internationale Verbindungen zwischen neueren rechten Politiker:innen: Milei verehrt Donald Trump, der wiederum hat sich über den Wahlsieg des Argentiniers gefreut. Auch der rechtsextreme brasilianische Ex-Präsident Bolsonaro sympathisiert mit Milei. AfD-Politikerin Beatrix von Storch hat sich mit Bolsonaro und dessen Sohn getroffen. Wo kommen diese Figuren ideologisch zusammen?
Andreas Kemper:
Sie treffen sich bei neuen Narrativen, neuen Strategien, die sie sich ausdenken. Jetzt zum Beispiel gegen den sogenannten Sie sagen, der Kapitalismus sei woke, weil er plötzlich grüne Ideen unterstütze. Verschiedene Bundesstaaten der USA stellen sich zum Beispiel aktiv gegen den »woken Kapitalismus«, gegen .
Es finden auch immer wieder Vernetzungstreffen statt. Es gibt in dem Bereich 3 grundsätzlich unterschiedliche Positionen. Ich unterscheide zwischen einem völkisch-nationalistischen Ansatz wie »Make America Great Again« oder »White Supremacy«, also »weiße Vorherrschaft«, einem christlich-fundamentalistischen Ansatz, wo die ganzen evangelikalen oder rechts-katholischen Gruppierungen zusammenkommen, und dann, noch mal radikalisierter als der Neoliberalismus, einem rechts-»libertären« Ansatz. Das sind unterschiedliche Schwerpunkte, die aber gemeinsame Gegner haben und so ganz gut zusammenfinden
Ist die libertäre oder proprietaristische Ideologie wie von Milei bei uns überhaupt relevant?
Andreas Kemper:
Bislang noch nicht wirklich, sie hat lange eher ein Schattendasein geführt. Das hat sich mit August von Finck junior geändert, einem Milliardärserben. Sein Vater hat schon Hitler unterstützt und von der Arisierung der Banken profitiert. Er wurde so zum reichsten Deutschen. Von Finck junior hat um 2010 angefangen, innerhalb seines Firmengeflechts ein Goldunternehmen aufzubauen, die Gleichzeitig hat er ganz viele verschiedene Leute zusammengeholt, die diese Ideologie des Proprietarismus verbreiten. Da war auch Markus Krall Er ist der lautstärkste Vordenker des Proprietarismus in Deutschland.
Aber wo geht das konkret hin? Wo gibt es da Verbindungen?
Andreas Kemper:
Die AfD ist erst mal ein Sammelbecken. Da gibt es sowohl christlichen Fundamentalismus als auch völkischen Nationalismus. Dominierende Kraft momentan ist der faschistische und völkisch-nationalistische Ansatz von Björn Höcke und anderen. Aber es gibt auch proprietaristische Ansätze. Zum Beispiel bei Thomasz Froelich (stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen Alternative und AfD-Europakandidat, Anm. d. Red.), der gefordert hat, das Bildungssystem komplett zu privatisieren und Kinderarbeit zu erlauben. Das wäre ein Vertreter von Proprietarismus in der AfD.
Gerade hat der frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen angekündigt, die Werteunion, einen rechtskonservativen . Was bedeutet das?
Andreas Kemper:
Die sind auch beflügelt worden durch Milei. Wenn man sich anschaut, wie Markus Krall auftritt (er ist parteiloses Mitglied der Werteunion, Anm. d. Red.) Er war immer schon extrem radikal in seiner Wortwahl. Und mit Milei hat sich das Ganze noch potenziert. Eine klare Anlehnung an das Auftreten von Milei.
Als August von Finck junior 2021 gestorben ist, hatten dessen Erben keine Lust mehr, das Ganze weiterzutreiben. Sie haben die ganzen Leute wie Markus Krall aus dem Degussa Goldhandel entlassen. Seither plant Krall, das Projekt als Partei aufzuziehen. Er hat immer geheim gehalten, mit wem er das machen will. Maaßen hat sich selbst auch schon als libertär bezeichnet und Krall fordert jetzt dazu auf, in die Werteunion
Für wie gefährlich halten Sie diese Gruppe? Bisher könnte man es ja als Randphänomen abtun. Hat das Projekt Potenzial?
Andreas Kemper:
Ja, das hat es. , dass eine Privatarmee auf Moskau dass der Großteil der Milliardäre aus Erben besteht, nicht aus Leuten, die selbst etwas geschaffen haben. Der reichste Mensch der Welt ist ein Das ist eine Tendenz, die man zusammendenken muss.
Und da ist die neue Ideologie des Proprietarismus wichtig. Wenn die Reichen vorwiegend Erben sind, dann kann man nicht mehr sagen, der Kapitalismus funktioniere so, dass diejenigen, die sich am meisten anstrengten, auch am meisten Geld hätten. Stattdessen muss man Glück haben, reich geboren zu sein. Und in dieser Lage ist der Proprietarismus die neue Ideologie. Das liegt an der Entwicklung des Kapitalismus.
»Rechts sein heißt auch, gegen Ärmere vorzugehen«
Aber es gibt auch aktive Unterstützer, wie Finck junior, als er noch lebte. Wer ist da noch?
Andreas Kemper: Es gibt Verbindungen zum rechts-libertären Investor Ich halte das Ganze für gefährlich. Das heißt nicht, dass die Partei der Werteunion jetzt 30% bekommt. Wahrscheinlich bleiben die erst mal unter 5%. Aber die Bewegung ist gefährlich und mit dieser Partei bauen sie die Bewegung weiter auf.
Was kann eine Gesellschaft wie unsere tun, um dem zu begegnen?
Andreas Kemper:
Wichtig ist, zu erkennen, dass das keine Partei zwischen CDU und AfD wird. Die AfD ist völkisch-nationalistisch, rassistisch und in diesem Sinne demokratiefeindlich. Die Werteunion ist genauso extrem, aber nicht im völkisch-nationalistischen Sinne, sondern im Sinne von Sozialstaatsfeindlichkeit.
Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass rechts sein auch heißt, gegen Ärmere vorzugehen. Wir haben eine Verfassung, die das und der Sozialstaat wird gerade massiv angegriffen. Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Wird der angegriffen, ist bald auch die Demokratie weg.Andreas Kemper, Soziologe
Wie können Demokrat:innen darauf reagieren?
Andreas Kemper:
Die Reichen haben einen immer größeren Anteil am Gesamtvermögen. Das ist das Grundübel. Und wir haben gleichzeitig noch eine , die wir immer mitdenken müssen. Die Klimakatastrophe wurde hauptsächlich von Reichen und von Unternehmen verursacht. Und die Leute, die die Klimakatastrophe zuerst zu spüren bekommen, das sind die Ärmeren.
Ganz wichtig sind Gewerkschaften. Tretet in Gewerkschaften ein, unterstützt Gewerkschaften und den Grundgedanken dahinter, den die SPD immer mal wieder vergisst. , damit die Betroffenen sich zusammenschließen. Freiheit heißt in einer kapitalistischen Gesellschaft auch, dass man ein bisschen Geld hat, um sich etwas leisten zu können. Es gibt da genug Gruppierungen, denen man sich anschließen kann. Ich finde es wichtig, sich da zu verorten und zusammen zu kämpfen. Freiheit heißt auch soziale Teilhabe.
Mit Illustrationen von
Frauke Berger
für Perspective Daily
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von
Benjamin Fuchs
Jeder weiß: Unsere Arbeitswelt verändert sich radikal und rasend schnell. Nicht nur bei uns vor der Haustür, sondern auch anderorts. Wie können wir diese Veränderungen positiv gestalten und welche Anreize braucht es dafür? Genau darum geht es Benjamin, der erst Philosophie und Politikwissenschaft studiert hat, dann mehr als 5 Jahre als Journalist in Brasilien gelebt hat und 2018 zurück nach Deutschland gekommen ist. Es gibt viel zu tun – also: An die Arbeit!