Warum wir denken, dass sich arme Menschen weniger leisten dürfen
Menschen mit weniger Geld werden oft auch weniger Bedürfnisse zugestanden. Warum wir nicht darüber urteilen sollten, wie andere ihr Geld ausgeben – und welche einfache Lösung wirklich etwas bringt.
Menschen, die über wenig finanzielle Mittel verfügen, müssen sich oft kritische Urteile darüber gefallen lassen, wie sie ihr Geld ausgeben. Rund um das Jahr 2015 gab es in Deutschland in manchen Kreisen etwa Kritik daran,
Aber auch Eltern, die mit ihren Kindern trotz schwieriger finanzieller Lage ins Restaurant gehen, oder Paare, die sich trotz geringem Einkommen einen großen, neuen Fernseher kaufen, können sich meist auf negative Reaktionen gefasst machen.
Auch in meinem Umfeld entbrennen immer wieder Diskussionen darüber, wie andere Menschen ihr Geld ausgeben. Manchmal erwische ich mich selbst dabei, wie ich den Kopf über die vermeintliche Geldverschwendung anderer Personen schüttele und sofort einen Vorschlag parat habe, wie sie ihr Einkommen besser investieren sollten.
Welche Ausgaben wir anderen gönnen
Eine
In 2 Studien aus der Reihe baten die Wissenschaftlerinnen Serena Hagerty und Kate Barasz von der Harvard-Universität die Teilnehmer:innen, das Kaufverhalten von Haushalten mit geringem oder hohem Einkommen zu beurteilen. Um sicherzugehen, dass die Ergebnisse nicht vom finanziellen Status der Befragten beeinflusst werden, wählten die Autorinnen der Studien repräsentative Stichproben, die in Bezug auf das Einkommen der Zusammensetzung der US-amerikanischen Bevölkerung entsprachen.
Es zeigte sich, dass für Haushalte mit mehr finanziellen Mitteln nicht nur Luxusartikel wie iPhones, Reisen und Schmuck als angemessener angesehen wurden, sondern auch Ausgaben für grundlegende Dinge wie Zeitungen, Telefon- und Internetservices oder Möbel.
Darf sich mehr leisten, wer mehr Geld hat?
Die Forscherinnen vermuten, dass reichen Menschen auch deshalb mehr Ausgaben zugestanden werden, weil ihnen andere Bedürfnisse zugerechnet werden als Menschen mit geringeren finanziellen Mitteln. Serena Hagerty und Kate Barasz nehmen an, dass die Beurteilung des Kaufverhaltens nach dem Motto »Wer viel hat, braucht viel – wer wenig hat, braucht wenig« funktioniert.
Das Problem dieser Annahme wird in einem weiteren Experiment deutlich, mit dem die Forscherinnen ihre These überprüften. Sie ließen ihre Proband:innen einschätzen, wie notwendig verschiedene Artikel und Leistungen für einkommensstarke oder -schwache Haushalte sind.
Den Kauf einer Rückfahrkamera fürs Auto, die die Sicherheit beim Rückwärtsfahren erhöht, hielten die Teilnehmer:innen bei einem reichen Käufer beispielsweise für wichtig. Hatte der Käufer im Experiment ein niedriges Einkommen, wurde die zusätzliche Sicherheit durch die Kamera als unnötiger eingeschätzt.
Auch als es um den Kauf eines neuen Hauses ging, bewerteten die Befragten die meisten Ausstattungsmerkmale als notwendiger für eine Familie mit höherem Einkommen. Selbst wenn es sich um so wesentliche Punkte wie eine sichere Nachbarschaft und die Nähe zu Krankenhäusern handelte, urteilten sie, dass die finanziell besser gestellte Familie diese Vorteile mehr brauche.
Die Ergebnisse der Befragungen weisen also nicht nur darauf hin, dass wir denken, Menschen, die nicht viel haben, würden auch nicht viel zum Leben benötigen. Sie zeigen zudem, dass sich diese Denkweise sogar auf Standards wie ein sicheres Umfeld und den Zugang zu ärztlicher Versorgung beziehen kann.
Paradoxerweise finden wir es angemessener, wenn reiche Menschen mehr Geld bekommen
Die unbewusste Annahme, dass die Bedürfnisse einer Person mit ihrem finanziellen Status zusammenhängen, kann allerdings nicht nur beeinflussen, wie wir die Ausgaben anderer Menschen beurteilen. Sie kann sich auch darauf auswirken, wie Geld verteilt wird. Wenn wir als Individuen und als Gesellschaft über Spenden, Hilfsgelder oder die Festlegung von Sozialleistungen entscheiden, überlegen wir, was für die Empfänger:innen notwendig ist und was nicht. Wenn wir dabei ebenfalls davon ausgehen, dass Menschen, die wenig haben, auch weniger brauchen, könnte das dazu führen, dass
Wissen wir wirklich, was andere brauchen?
Auch diese These untersuchten Serena Hagerty und Kate Barasz in ihren Studien: Ihre Proband:innen durften wählen, welchen Gutschein eine Person aus ihrer Stadt bekommen sollte: einen Einkaufsgutschein im Wert von 100 US-Dollar beim Lebensmittelgeschäft »Trader Joe’s« oder einen 200-US-Dollar-Gutschein beim Elektronikhändler »Best Buy«. Die eine Hälfte der Teilnehmer:innen erfuhr, dass der Empfänger des Gutscheins ein geringes Einkommen hat, während die andere Hälfte den Gutschein für eine Person mit hohem Einkommen aussuchte.
Für den einkommensschwachen Empfänger wählte nur 1/4 der Befragten den höher dotierten Elektronikgutschein, weil sie Lebensmittel als notwendiger befanden. Für den finanziell besser gestellten Empfänger empfahl dagegen mehr als die Hälfte der Teilnehmenden den Elektronikgutschein.
Ironischerweise führte das dazu, dass die Person mit dem höheren Einkommen mit 152 US-Dollar durchschnittlich mehr Geld erhielt als die Person mit geringeren finanziellen Ressourcen, die im Schnitt 125 US-Dollar erhielt. Selbst wenn die Teilnehmenden wussten, dass sich der Empfänger des Gutscheins explizit einen neuen Fernseher wünschte, wählten sie für die einkommensschwache Person eher den Lebensmittelgutschein.
Warum geben wir Menschen, die in Armut leben, nicht einfach Geld?
Besonders die letzten beiden Studien zeigen, welche Folgen diese Denkweise auf die Verteilung von Geld in unserer Gesellschaft haben kann. Die Vorstellung, dass finanziell benachteiligte Menschen weniger brauchen als reichere, schränkt auch die Hilfe ein, die erstere erhalten. Die Unterstützung konzentriert sich auf klare Notwendigkeiten. Bedürfnisse, die weniger eindeutig sind, finden keine Beachtung. Obwohl die Proband:innen in der Studie wussten, was sich der Empfänger des Gutscheins wünschte, ignorierten sie es und wählten stattdessen den Gutschein für Lebensmittel, die sie als notwendiger erachteten.
Auch wenn es sich um US-amerikanische Studien handelt, deren Ergebnisse sich nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen lassen, sollten wir ihre Erkenntnisse im Hinterkopf behalten, wenn wir die Konsumentscheidungen anderer Menschen beurteilen. Besonders dann, wenn wir überlegen, wie wir helfen können. Statt unseren eigenen Annahmen blind zu folgen, sollten wir die Menschen, denen wir helfen möchten, lieber fragen, was sie wirklich benötigen. Oder
Geld hilft langfristig
Die Organisation
Das zeigt: Die meisten Menschen wissen selbst am besten, was sie brauchen und was ihnen hilft – und können auf das Urteil anderer getrost verzichten. Daran versuche auch ich mich in Zukunft häufiger zu erinnern.
Titelbild: Morgan Housel - CC0 1.0