Diese Menschen lassen sich für die Verkehrswende freiwillig digital verfolgen
Sich »tracken« zu lassen, also Konzernen genau zu sagen, wo du wann bist, ist eigentlich eine dumme Idee. Doch eine Schweizer Genossenschaft nutzt solche Daten für das Allgemeinwohl und bittet um »Datenspenden«. Was steckt dahinter?
Roger besitzt kein Auto. Wenn er zum Bahnhof muss, fährt er mit dem Fahrrad. Das Rad kann er dort an einem der abschließbaren Fahrradständer zurücklassen. An seinem Zielort wird er mit einem Leihfahrrad oder E-Scooter weiterreisen. Womit genau, entscheidet er, kurz bevor er ankommt und je nach Verfügbarkeit. Für seine gesamte Reise zieht er sich keine Fahrkarte. Er lässt auch keine Kredit- oder Guthabenkarte scannen. Stattdessen öffnet er nur eine App, die seine Reise trackt und deren Anbieter er vertraut. Denn er weiß, dass seine Privatsphäre oberstes Gut ist – und dass er seine Reisedaten fürs Allgemeinwohl spendet und nicht einen gierigen Konzern damit füttert. Am Ende des Tages bekommt er dafür einen vergünstigten Ticketpreis für alle Verkehrsmittel, die er tagsüber verwendet hat.
An dieser Vision arbeitet Roger Fischer.
Was es für so eine Zukunft braucht? Daten. Bewegungsdaten von Menschen, um genau zu sein.
Städte und Gemeinden benötigen diese, damit sie ihre Verkehrsplanung an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten können. Woher sonst sollen sie wissen, wo sie noch weitere Bushaltestellen und -verbindungen, Fahrradständer, Rufbus-Stationen oder Fahrradverleihe anbieten müssen?
Doch es gibt 2 Herausforderungen:
- Unternehmen greifen Daten für den eigenen Gewinn ab (und wir haben uns alle daran gewöhnt): Wir leben in einer Welt,
- Sie bleiben auf ihren Daten sitzen und kooperieren nicht miteinander:
»Die Daten, mit denen Städte momentan für ihre Stadtplanung arbeiten, sind auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet.
Roger Fischer geht beide Herausforderungen zugleich an und will nichts anderes als »das System komplett verändern«. Dafür hat der Schweizer ein Zweigespann ins Leben gerufen: ein Unternehmen, das eine Software zum Tracken von Bewegungsdaten entwickelt hat, und eine Datengenossenschaft. Ihr Ziel: dass Menschen selbstbestimmt darüber entscheiden können, wie und wofür ihre Mobilitätsdaten genutzt werden. Zusammen sollen sie Mobilitätsdaten für das Gemeinwohl generieren.
So können Menschen die Macht über ihre Daten zurückbekommen
Rund 2 Jahre hat Roger Fischer mit seiner Familie im Silicon Valley gelebt, dem angesagtesten Hightech- und Innovationsstandort der Welt im Norden des US-Bundesstaats Kalifornien. Zuerst war er als Unternehmer und Technikliebhaber begeistert davon. Dann lernte er die Schattenseiten der digitalen Welt kennen: »Mir ist das erste Mal so richtig klar geworden, dass wir überhaupt kein Mitspracherecht in dieser digitalen Welt haben. Alle wollen Geld mit Daten verdienen, doch die Menschen, die die Daten generieren, bleiben außen vor. Die Macht, die sich da bei gewissen Unternehmen akkumuliert, das ist beängstigend«, sagt Fischer im Videogespräch. »Darum müssen wir nach Alternativen suchen und diese auch umsetzen.«
Begonnen hat er damit in Zürich. Im Jahr 2018 gründete er Datamap. Das Unternehmen liefert die Technologie für das Datensammeln. Das Herzstück seines Vorhabens folgte 2 Jahre später: die
Posmo verfolgt 2 Ziele:
- Sie will als nach eigenen Angaben weltweit erste Datengenossenschaft testen, welche Strukturen es braucht, damit Sicherheit und Rechte der Datengeber:innen im Fokus stehen.
- Sie will den ersten ethischen Datenmarkt schaffen. Gemeinden, Forschende und politische Entscheidungsträger:innen sollen in Zukunft auf diesen Datensatz gegen Bezahlung zugreifen können. Die Entscheidung, wer die Daten für welche Zwecke kaufen kann, liegt letztlich bei den Genossenschafter:innen selbst – also den Personen, die die Daten generieren. Diese sollen im besten Fall an ihren Daten mitverdienen.
270 Menschen spenden Daten für ein umweltfreundliches Zürich
Die Mobilitätsdaten sammelt Posmo über zeitlich begrenzte Projekte.
Sie mussten eine App auf ihr Handy laden, ihr die entsprechende Berechtigung für das Sammeln der Standortdaten geben und das Handy dabeihaben. Die von Datamap entwickelte App sammelte anonymisiert die Wege, welche die Teilnehmenden zurücklegten, und erkennt auch automatisch, welche Verkehrsmittel sie nutzen –
Das Projekt war in 8 unterschiedliche Schwerpunkte aufgeteilt. Ein Teilprojekt sollte beispielsweise herausfinden, welche Vorzugsstraßen Velos – wie die Schweizer:innen ihre Fahrräder nennen – besonders nutzen und wo es weitere Vorzugswege oder Anbindungen braucht.
»Das Pilotprojekt war bewusst klein gehalten. Wir haben die Zusammenarbeit mit der Stadtentwicklung Zürich getestet und unsere App dank den Rückmeldungen der Teilnehmenden weiterentwickelt«, sagt Roger Fischer.
»Unser Ansatz bringt die verschiedenen Parteien an einen Tisch. Es ist sehr praktisch, dass die Stadt mit den Daten unterschiedliche Fragen beantworten kann. Die Verkehrsbetriebe haben Interesse an den ÖPNV-Daten, andere an den Velodaten«, so Fischer. Alle gewonnenen Daten fließen aggregiert in eine Datenplattform, sodass sie nicht mehr auf Einzelpersonen zurückzuführen sind.
Die Stadt Zürich und andere Beteiligte können auf die anonymisierten und aggregierten Datenauswertungen zugreifen, die innerhalb des Projektes erfasst wurden. Wollen sie auf Daten aus anderen Projekten zugreifen, müssen sie dafür bezahlen und brauchen zuerst die Zustimmung des Ethikrates der Genossenschaft. Während die Verwaltung der Genossenschaft, wovon Roger Fischer ein Teil ist, Zusammenarbeiten an Land zieht, kontrolliert der Ethikrat seine Entscheidungen und die des Technologiepartners Datamap.
Daten transparent und ethisch verwalten
»Wir schauen uns bei jedem Projekt an, welche Daten zu welchem Zweck erhoben und wofür sie verwendet werden sollen. Ob die Privatsphäre geschützt ist und ob die Verwendung der Daten ethisch vertretbar ist«, erklärt Roberta Fischli. Sie ist ein halbes Jahr nach der Gründung der Datengenossenschaft Mitglied geworden und hat Roger Fischer auf einer Veranstaltung zum Thema Dateneigentum kennenglernt.
Bald steht ein Treffen des Ethikrates an. Ist es ethisch vertretbar, wie die Beteiligten des Zürcher Projekts die Daten weiterverwenden wollen? Für solche Entscheidungen werden die Daten in »Commons« und »Commercials« eingeteilt. Commons-Daten haben einen Mehrwert für das Allgemeinwohl, Commercials nicht.
Stempelt der Ethikrat ein Projekt als Commercial ab, wird jeder Datenspender und jede Datenspenderin einzeln über die App gefragt, ob sie teilnehmen wollen. Sie müssen aktiv zustimmen. Ist ein Genossenschaftsmitglied mit der Entscheidung des Ethikrates nicht einverstanden, kann er Gleichgesinnte finden und eine Generalversammlung einberufen. »Bisher gab es nur Commons-Projekte und eher grundlegende Diskussionen über die Art, wie wir im Ethikrat kommunizieren und Aufgaben aufteilen«, sagt Fischli.
Oberste Prämisse der Genossenschaft sei volle Transparenz. Sollten Daten außerhalb eines Projektes zweit- oder drittverwertet werden, müsse dies zuerst mit dem Ethikrat abgesprochen werden, erklärt Roger Fischer. In Zukunft sollten Datenspender:innen auch einsehen können, für welche weiteren Projekte ihre Daten genutzt würden.
Zusammen erfolgreich sein
Noch sei es nicht so weit, doch sollten in Zukunft auch Gewinne erzielt werden, so Roger Fischer. Momentan werde die Arbeit der Genossenschaft hauptsächlich von Fördergeldern finanziert, die Einnahmen sollten dann die Kosten des laufenden Betriebs decken, wie die Server- und Personalkosten. Gleichzeitig flössen mindestens 10% der Einnahmen eines jeden Projektes in einen Reservefonds. »Sobald wir wachsen, können die Genossenschafter:innen auf der Generalversammlung mit dem Geld machen, was sie wollen«, sagt Fischer. Es könne wieder neu investiert werden oder als Dividende an die Mitglieder ausgezahlt werden. Wer wie viel Geld erhält, hängt dabei nicht nur davon ab, wie viele Genossenschaftsanteile jemand besitzt – die Anzahl ist sogar pro Person begrenzt.
Es hängt von einigen Faktoren ab, wie der Zeit und Arbeit, welche die Mitglieder in die Genossenschaft investiert haben und an wie vielen Tagen sie sich tracken lassen. Also wie aktiv sie dazu beitragen, dass der Datenpool wächst. 7 Tage sind das jährliche Minimum. All dies wird in einer Art Währung abgebildet, die sich Ostrom nennt.
Was ich an der Genossenschaft so spannend fand, ist nicht nur, dass sie Daten zurück an die Menschen bringt. Sondern dass es gleichzeitig nicht ums Profitmachen geht. Die Genossenschaft versucht etwas Nachhaltiges umzusetzen, was wirklich der ganzen Bevölkerung dient.
Ein Ableger in Deutschland ist geplant
Bisher hat die Genossenschaft 54 Mitglieder und 6 Projekte am Laufen. »Nun haben wir die ersten Projekte durch und können zeigen, dass wir wirtschaftlich erfolgreich sein können. Jetzt gehen wir erst richtig an den Start«, sagt Roger Fischer. Der Datenanalyst und die anderen Gründungsmitglieder haben große Pläne für die Genossenschaft. Auch ein deutscher Genossenschaftsableger steht auf der To-do-Liste, die Posmo GmbH ist bereits in Gründung.
Demnächst soll die weiterentwickelte App an den Start gehen, worauf alle Projekte gebündelt werden. Interessierte können sich darüber über Projekte informieren und daran beteiligen, indem sie sich tracken lassen. Über das Tracking erhalten die Teilnehmenden außerdem Einsicht in ihr eigenes Mobilitätsverhalten. Wie bei einer Fitnessapp können sie etwa sehen, wie viel Zeit sie in Auto, Bus, Bahn oder auf dem Fahrrad unterwegs waren, wohin sie ihre Wege führten, wie viel CO2 sie produzierten und wie sie im Vergleich zu anderen Projektteilnehmenden dastehen.
Der Datenanalyst glaubt, dass sich die Idee der Genossenschaft gut skalieren lässt: »Viele Städte, Gemeinden, Hochschulen und Forschungseinrichtungen zeigen sich jetzt schon interessiert. Die Genossenschaft und der Ethikrat sind auch eine gute Möglichkeit, die unliebsame Datenschutzaufgabe für diese Projekte abzugeben.«
Für Roberta Fischli ist die Datengenossenschaft vor allem eines: ein Hebel für Veränderung.
Sie glaubt nicht, dass wir in einer hyperindividualisierten Gesellschaft leben, so wie es uns Unternehmen oder Werbung oft glauben lassen wollen. »Algorithmen, die inzwischen unseren Alltag bestimmen, sehen dich nicht als Individuum, sondern behandeln dich als Teil von Kollektiven. Als eine Person mit gewissen Merkmalen, wie viele andere sie auch haben. Das ist die Realität. Wir sind immer in Kollektiven unterwegs, immer miteinander in Verbindung. Deshalb sollten wir diesen Hebel nutzen, um gemeinsam für mehr Selbstbestimmung einzustehen. Darum unterstütze ich Posmo.«
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily