Dir fällt es schwer, über Sex zu reden? Dann ist dieser Text für dich
Konstruktiv miteinander zu reden, ist auch beim Sex das A und O. Es macht intime Erlebnisse schöner und steigert die Zufriedenheit in Beziehungen. Sexualtherapeut Umut Özdemir erklärt, wie es geht.
Als Jugendlicher hat Umut Özdemir gerne das Jugendmagazin Bravo gelesen – wie Millionen andere auch. Besonders interessierten ihn die Seiten vom »Dr. Sommer«-Team. Darauf beantworten Gynäkolog:innen, Psycholog:innen sowie Kinder- und Jugendärzt:innen seit 1969 Leser:innen-Fragen rund um Sexualität, und Pubertät. Heute gibt es das Format auch online. Schon bald fing Özdemir an, die Antworten zu verdecken und sich zu überlegen, wie er auf die verschiedenen Fragen antworten würde. Das vielleicht etwas ungewöhnliche Hobby hat sein Interesse für die Themen geweckt.
Mittlerweile arbeitet Umut Özdemir als Psycho-, Paar- und Sexualtherapeut in seiner eigenen Praxis in Berlin. Dort behandelt er Menschen mit psychischen Diagnosen und sexuellen Problemen. Außerdem arbeitet er als Dozent für Sexualpsychologie und klärt Menschen auf Instagram und Tiktok zu Psychologie, Liebe und Beziehungen auf.
Was ihn bis heute am Thema Sexualität reizt, warum wir viel zu wenig über Sex reden und wie du es besser machen kannst – das erklärt der Experte im Interview.
Lisa Marie Güth:
Herr Özdemir, was macht guten Sex aus?
Umut Özdemir:
Dass man erst mal für sich selbst definiert, was »gut« bedeutet. Für Person 1 ist guter Sex: Missionarsstellung, Licht aus. Für Person 2 ist guter Sex, dass man sich gegenseitig anpinkelt und anspuckt.
Solange alle Beteiligten erwachsen sind, freiwillig mitmachen und das wollen, würde ich sagen: »Super, ihr habt guten Sex!«
Das, was wir als Gesellschaft wahrscheinlich unter gutem Sex verstehen, ist ein sexuelles Verhalten, das nicht eigengefährdend und nicht fremdgefährdend ist. Sie müssen zum Sex einwilligen. Dann wünschen sich viele Menschen von gutem Sex noch Befriedigung oder auch eine emotionale Komponente.
Mit Ihren knapp und erreichen Sie viele Menschen. Welche Fragen werden Ihnen am häufigsten gestellt?
Umut Özdemir:
In der Regel kann ich die runterbrechen auf »Bin ich normal?« oder »Ist das normal?«. Menschen haben vielleicht die Befürchtung, dass sie die einzige Person sind, die irgendwelche Probleme hat. Gleichzeitig sind rein organisatorische Fragen auch sehr häufig, etwa »Wie komme ich überhaupt an einen Therapieplatz?«. In unserem Gesundheitssystem ist es leider wie ein Dschungel, an diese Informationen dranzukommen.
In der Paartherapie gibt es ein paar Klassiker, die immer wieder gefragt werden: oder »Wir haben uns auseinandergelebt. Wie finden wir wieder zueinander?«. Andere hatten seit Jahren keinen Sex mehr miteinander oder eine sexuelle Funktionsstörung und suchen nach Rat.
Was raten Sie Betroffenen in der Therapie, wenn sie Ihnen erzählen, dass sie in einer Beziehung seit Jahren keinen Sex mehr haben?
Umut Özdemir:
Das ist individuell und kann ich gar nicht allgemein beantworten. Manche haben die Annahme, dass es normal ist, in Langzeitbeziehungen keinen Sex mehr zu haben. Vielleicht haben sie mit Freund:innen gesprochen, denen es ähnlich geht. Dann bin ich manchmal derjenige, der den Spiegel vorhält und ihnen klarmacht: »Es ist nicht das Los einer jeden Langzeitbeziehung, dass man jahrelang gar keinen Sex mehr miteinander hat.«
Man kann auch in Langzeitbeziehungen regelmäßig Sex haben. Ist es weniger als in der Verknalltheits-Phase am Anfang? Dann ist es vielleicht einmal im Monat oder einmal im Halbjahr. Aber nicht 7 Jahre gar kein Sex.
Was ist in langfristigen Beziehungen wichtig, um ein erfülltes Sexleben zu erhalten?
Umut Özdemir:
Kommunikation. Funktionale Langzeitbeziehungen haben Gemeinsamkeiten, eine davon ist die Kommunikation. Das andere ist, dass man sich gemeinsam, aber auch allein weiterentwickelt und neuartige Dinge erlebt.
Es ist wichtig, nicht auf der Stelle stehen zu bleiben und immer wieder den Mut zu haben, neuartige Erlebnisse im Alltag zu initiieren. Diese können, müssen aber nicht sexueller Natur sein. Wenn sich beide Personen nicht mehr trauen, kann es dazu kommen, dass man im schlimmsten Fall denkt, man sei nicht mehr attraktiv. Darunter leidet der Selbstwert und beim nächsten Mal initiiert weder die eine noch die andere Person. Daraus entwickelt sich ein Teufelskreis.
Wie können Betroffene diesem Teufelskreis entkommen und die Leidenschaft wieder neu entdecken?
Umut Özdemir:
Da stellt sich die Frage, wie Sie Leidenschaft definieren. Leidenschaft ist etwas Erlebnisorientiertes und total subjektiv. Für die eine Person ist es leidenschaftlich, wenn man sich beim Sex schlägt, würgt, anspuckt, anpinkelt. Für die andere Person ist es leidenschaftlich, wenn man eine 3/4-Stunde lang Zungenküsse austauscht. Wenn klar definiert ist, was Leidenschaft für einen bedeutet, kann man an diesen Parametern arbeiten und sagen: »Ich wünsche mir XY, denn XY repräsentiert für mich Leidenschaft.«
Man kann sich auch zum Knutschen verabreden. So kann der Druck weggenommen werden, dass es zu einem Orgasmus kommen muss oder dass Penetration stattfindet. Typischerweise nimmt das Knutschen in Langzeitbeziehungen ab.
Es kann also sinnvoll sein, sich zum Knutschen oder zum Sex zu verabreden? Oft schwingt ja die Vorstellung mit, dass Sex spontan sein muss.
Umut Özdemir:
Dass Sex aus einer spontanen Lust heraus geschehen soll, ist ein Mythos, an den einige Menschen glauben.
Ich hoffe, dass die Menschen nicht aus einer spontanen Lust heraus Sex haben, weil ich nicht Hinz und Kunz im Supermarkt beim Sex erwischen will. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Zu 99% haben 99% der Menschen nicht spontan Sex, sondern wir planen im Hinterkopf.
Wann haben wir denn klassischerweise Sex? Abends, bevor wir schlafen gehen, weil wir nach hinten raus Zeit haben. Oder morgens, wenn wir noch genug Zeit haben, bevor wir das Haus verlassen müssen. Das sind Dinge, die wir automatisch mitdenken.
Wir planen ganz oft und deswegen kann und sollte man auch Sex, Dating, Kuscheln oder Rummachen planen. Das Leben wird immer dazwischenkommen. Wenn ich an meiner Beziehung arbeiten und sie weiterführen möchte, dann muss ich mir Zeit für diese Beziehung nehmen. Es berichten viele Menschen, dass es für sie ein »Killer« ist, wenn sie als Selbstverständlichkeit wahrgenommen werden. Also als eine Person, um die man sich nicht mehr bemühen muss. Eine Beziehung ist Arbeit und das geht mit Zeitinvestment und Energie einher.
Unabhängig von Langzeitbeziehungen, oder anderen Beziehungsformen, in denen Sex stattfindet, ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren. Warum fällt es einigen Menschen schwer, über ihre sexuellen Bedürfnisse zu reden?
Umut Özdemir:
Ja, es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig Menschen in einer Beziehung direkt kommunizieren. Es wird ganz viel auf indirekte Kommunikation gesetzt und dann fragen sich viele: »Warum weiß sie nicht, was ich meine?« Weil niemand von uns Gedanken lesen kann.
Warum es Menschen schwerfällt, über sexuelle Bedürfnisse zu sprechen, Wir üben das nicht. Keiner von uns sitzt mit Freundinnen und Freunden abends bei einem Glas Wein und sagt: »Oh, als ich mir gestern einen runtergeholt habe, hatte ich diese und jene Fantasie.«
Andererseits setzt Ihre Frage voraus, dass Menschen wissen, was ihre Bedürfnisse sind. Und das setzt wiederum voraus, dass ich mich mit mir selbst auseinandersetze und ehrlich zu mir selbst bin. Das kann wehtun, denn man muss sich ja einen Mangel eingestehen – Bedürfnisse, die nicht gestillt sind.
Haben Sie Tipps, wie Menschen ihre Bedürfnisse erkennen können?
Umut Özdemir:
Ehrlichkeit! Ich muss mir die Fragen stellen: »Was ist da eigentlich wirklich los? Was will ich?« Oder wenn wir über Beziehungen reden, die fieseste aller Fragen: »Bin ich glücklich?«
Ich sehe es so: Egal wie man das Pflaster abzieht, man muss es abziehen. Auch wenn ich ein Pflaster langsam abziehe, tut es weh, wenn es auf einer haarigen Stelle klebt.
Und wie können Menschen dann ein konstruktives Gespräch über sexuelle Bedürfnisse miteinander führen?
Umut Özdemir:
Erst mal ganz basal die Kommunikationsregeln: in der Ich-Form kommunizieren, keine Vorwürfe machen, Wörter wie immer oder nie vermeiden. Sie führen eher dazu, dass die andere Person Gegenbeispiele sucht. Ich-Botschaften sind eine hilfreiche Wahl, wenn es darum geht, das eigene Erleben und Wahrnehmen zu beschreiben.
Was ich immer wieder höre, ist, dass Menschen den perfekten Moment suchen. Den gibt es nicht. Es gibt keine richtigen Momente, es gibt aber sehr unpassende Momente. Wenn ich mit einem Körperteil in jemandem drin bin oder andersherum, weiß ich nicht, ob das der richtige Moment ist, um zu sagen: »Hey, irgendwie gefällt mir das nicht«. Natürlich sollte man »nein« sagen. Aber für ein tiefgründiges Gespräch sollte man sich vielleicht wirklich an den Küchentisch setzen.
Es ist auch wichtig, Zeitdruck zu vermeiden und gleichzeitig im Hinterkopf zu behalten, dass das Gespräch nicht komplett ausarten sollte. Es kann helfen, das Gespräch auf eine Sache zu beschränken, die einem wichtig ist.
Wie lässt sich so ein Gespräch gut eröffnen?
Umut Özdemir:
Es spricht nichts dagegen zu sagen: »Es fällt mir schwer, weil ich höllische Angst davor habe, dir wehzutun. Das ist gar nicht meine Absicht. Ich würde mir wünschen, dass wir unser Sexualleben noch besser miteinander gestalten.« Ich vermute, dass das eine bessere Einleitung ist, als zu sagen: »Ey, du enttäuschst mich jedes Mal, wenn wir Sex haben, weil du XY nicht machst.«
Es gibt ein paar Schlagwörter und Formulierungen, bei denen Menschen fast automatisch in Defensivhaltung gehen und versuchen, sich zu schützen. Als Folge werden sie trotzig oder wütend, anstatt sich auf ein Gespräch einzulassen.
Wenn es im Gespräch zu einer negativen Rückmeldung kommt – wie kann man mit dieser Kritik am besten umgehen?
Umut Özdemir:
Es darf mich im ersten Moment ruhig treffen. Das ist völlig normal und zu erwarten. Aber dann sollte ich mir klarmachen, dass nicht ich als Mensch niedergemacht werde, sondern dass es um das Verhalten geht. Ich finde es legitim, sich dann zu fragen, ob da etwas dran sein könnte: »Habe ich schon mal Ähnliches gehört oder fällt mir das vielleicht auch auf?«
Der Klassiker in einer Langzeitbeziehung ist, dass beim Sex nur noch der Wir wissen, welche Knöpfe wir drücken müssen und was wir zu tun haben. Einem wird manchmal klar, dass früher mehr Leidenschaft da war, dass es intensiver war. Und dann sind wir wieder an dem Punkt, sehr ehrlich zueinander zu sein.
Vielleicht wird der anderen Person auch bewusst, dass die Vermutung schon bei ihr selbst da war, sie diese aber nicht wahrhaben wollte. Die Gefühle dürfen da sein, aber für eine rationale Auseinandersetzung müssen wir uns von diesen Gefühlen distanzieren. Ich habe ein Gefühl, ich bin aber nicht mein Gefühl.
Gibt es Beispiele aus Ihrer Berufspraxis, bei denen ein sexuelles Problem durch Kommunikation gelöst wurde?
Umut Özdemir:
Ja, einige. Kommunikation ist die Grundidee von Psycho- und Paartherapie.
Ich hatte einmal eine Patientin mit Sie hat ihren Partner bei den Übungen, die sie gemacht hat, mit ins Boot geholt. Sie hat gelernt, beim Sex »Stopp« zu sagen, wenn es unangenehm wurde, und er hat gelernt, darauf zu horchen. Sie mussten und haben miteinander gesprochen.
Dann gibt es Paare, die darüber sprechen »Warum sind wir so geworden, wie wir sind in unserer Beziehung?« und »Wie können wir das verändern?«. Manche Frauen in heterosexuellen Beziehungen fühlen sich irgendwann nur noch als die Mutter ihres gemeinsamen Kindes. Als hätte sie die ganze Verantwortung und ihr wird nicht geholfen. Dann hat sie am Ende des Tages auch keine Lust auf Sex mehr.
Im Gespräch kommt manchmal heraus, dass der Partner im Gegenzug denkt, er dürfe gar nicht helfen und Verantwortung übernehmen – zum Beispiel das Kind anziehen –, weil er das Gefühl hat, es nicht richtig machen zu können. Man ist so in seinem eigenen Film festgefahren, dass man aneinander vorbei kommuniziert.
Das klingt, als ob Menschen sehr schnell Annahmen treffen, die dann im Raum stehen.
Umut Özdemir:
Ja. Wir alle interpretieren Situationen ständig und haben dadurch Annahmen im Kopf. Wir reagieren eigentlich gar nicht auf die andere Person, sondern auf unsere Interpretationen der Situation. Deswegen müssen wir konstruktiv miteinander reden.
Konstruktiv miteinander zu kommunizieren, scheint die Lösung vieler Probleme zu sein. Sollten wir es alle lernen?
Umut Özdemir:
Ja, das sagt auch die Forschung. Paare sind zufriedener mit ihren Beziehungen, wenn sie sexuell miteinander kommunizieren. Gleichzeitig auch andersherum. Mehr Zufriedenheit führt dazu, dass man noch besser sexuell miteinander kommuniziert. Wenn ich zufrieden bin mit meiner Beziehung, dann traue ich mich auch eher, sexuelle Dinge anzusprechen. Zufriedenheit mit der Beziehung und auch sexuelle Kommunikation können bei Diagnosen über sexuelle Funktionsstörungen helfen – wie beispielsweise beim eben genannten Vaginismus-Fall.
Wann empfehlen Sie eine Paar- oder Sexualtherapie?
Umut Özdemir:
In der Paartherapie arbeiten wir ohne Diagnose. Wenn sich ein Paar immer wieder um ein bestimmtes Thema dreht, selbst nicht mehr weiterkommt und immer wieder auf der Stelle tritt, kann eine Paartherapie hilfreich sein.
Eine Sexualtherapie ist eigentlich nichts anderes als eine Psychotherapie, nur dass es um sexuelle Themen geht. Diese kann man einzeln machen, in einer Gruppenpsychotherapie, aber auch in einer Paartherapie. Ich empfehle, zugelassene Psychotherapeut:innen aufzusuchen. Das Problem ist nämlich, dass »Paartherapeut:in« oder »Sexualtherapeut:in« in Deutschland keine geschützten Begriffe sind und es keine staatliche Überprüfung gibt.
Anders sieht es mit der Berufsbezeichnung »Psychotherapeut:in« aus. Wenn man die Energie und die Zeit hat, kann man sich mit den einzelnen Lebensläufen von Paar- und Sexualtherapeut:innen auseinandersetzen und gucken, ob jemand wirklich gut ausgebildet ist. Der leichtere Weg ist jedoch, dass man zu uns Approbierten geht, weil da eine staatliche Überprüfung stattgefunden hat.
Lisa Güth hat Soziale Arbeit studiert und dadurch eine feine Antenne für Themen rund um soziale Ungleichheit. Von Oktober bis Dezember 2023 unterstützte sie die Redaktion von Perspective Daily als Praktikantin.