So bereiten wir uns besser auf die Krisen der Zukunft vor
Google und Amazon reagieren schnell auf Marktkrisen. Die EU hingegen hinkt dem Klimawandel oder der Alterung der Gesellschaft hinterher. Geht Politik auch effizienter?
29. April 2024
– 9 Minuten
Universität Bocconi
Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi schätzt die Europäische Union als nicht für die Zukunft gewappnet ein. Auf einer Mitte April 2024 sagte er:
Unsere Organisation, Entscheidungsfindung und Finanzierung sind auf die Welt von gestern ausgerichtet. […] Aber wir brauchen eine Europäische Union, die für die Welt von heute und morgen geeignet ist.
Wie die Welt von morgen aussieht, können Forschende nicht genau vorhersehen. Doch sie können Zukunftsszenarien entwerfen, um auf dieser Basis Lösungen für potenziell anstehende Krisen zu entwickeln.
Genau das macht der norwegische Krisenforscher Arnstein Aassve. Er leitet das und lehrt als Professor für Demografie an der Bocconi-Universität in Mailand.
Im Interview erklärt er, was Demokratien brauchen, um gegen künftige Schocks besser gewappnet zu sein; wie sich Deutschland besser auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hätte vorbereiten können – und ob eine neue Spezialeinheit die Folgen des Klimawandels besser abfedern könnte als eine gewählte Regierung.
Julia Tappeiner:
Herr Aassve, Sie entwerfen Szenarien für die Zukunft Europas. Welche Herausforderungen erwarten uns in naher Zukunft?
Arnstein Aassve:
Zum einen wird unsere Gesellschaft immer älter. Selbst wenn wir es durch ein Wunder schaffen würden, die Geburtenrate nach oben zu bringen – bis die Neugeborenen im produktiven Alter sind, dauert es mindestens 20 Jahre. Diese Entwicklung können wir also mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen.
Zudem erwarten uns unvorhersehbare Schocks. Zum Beispiel Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels. Auch aus geopolitischer Sicht wird die Welt unsicherer. Internationale Konflikte flammen wieder auf.
Das beunruhigt die Gesetzgeber der Europäischen Union natürlich. In unserem Projekt versuchen wir daher, über diese Szenarien nachzudenken. Das Ziel dabei ist es, politische Maßnahmen zu entwickeln, die Gesellschaften resilienter machen.
Was ist Resilienz?
Arnstein Aassve:
Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit. Also: Wie schnell kann man sich von einem externen Schock erholen und wieder zur ursprünglichen Lage zurückkehren? Bei manchen Krisen kann es allerdings nicht wieder so werden, wie es vorher war. Resilienz bedeutet in diesem Fall, dass man die neue Situation schnell in Bahnen lenken kann, die von Vorteil sind.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Arnstein Aassve:
Nehmen wir den Klimawandel. Dieser Schock ist so groß, dass wir wohl nicht mehr zum vorherigen Zustand zurückkehren können. Um resilient zu sein, müssen wir also neue Wege gehen, die es uns erlauben, unser Niveau an Wohlbefinden und Wohlstand so gut es geht zu halten.
Wenn wir über Resilienz sprechen, denken wir meist an Einzelpersonen …
Arnstein Aassve:
Wir neigen dazu, vor allem über individuelle Resilienz zu sprechen. Zum Beispiel: Wie kann ein Mensch mit einer traumatischen Kindheit trotzdem erfolgreich aufwachsen? Oder:
Dann gibt es aber noch die systemische Resilienz. Also: Wie widerstandsfähig sind Institutionen eines Landes im Angesicht von Krisen? Wie schnell können sich politische Entscheidungsträger einem externen Schock anpassen?
Ist Krisenfestigkeit die Aufgabe Einzelner oder staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen?
Arnstein Aassve:
Empirische Untersuchungen zeigen, dass ein System als Ganzes widerstandsfähiger ist, wenn auch die Individuen resilient sind, die in ihm leben. Deshalb brauchen wir Institutionen, die Einzelpersonen helfen, diese Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Beide Ebenen hängen zusammen.
Wie werden wir resilienter?
Arnstein Aassve:
Es gibt 3 Bereiche, in die die Politik investieren müsste, um Individuen, und damit auch das System, widerstandsfähiger zu machen: Beschäftigung, Gesundheit und Bildung. Wenn wir gut ausgebildete, kluge Leute haben, die in Institutionen arbeiten, erhöht das die Widerstandsfähigkeit des ganzen Systems.
Was brauchen Institutionen, um für die Zukunft und die Krisen von morgen gewappnet zu sein?
Arnstein Aassve:
Da gibt es 2 unterschiedliche Ebenen. Zum einen die Resilienz, von der wir bereits gesprochen haben. Also die Fähigkeit, schnell auf Schocks zu reagieren, die unvorbereitet kommen.
Institutionen müssen aber auch robust sein. Diese zweite Ebene meint, dass ein System so gut auf künftige Krisen vorbereitet ist, dass die daraus folgenden Risiken minimiert werden.
Können Sie das anhand eines Beispiels erklären?
Arnstein Aassve:
Als Russland in die Ukraine einfiel, war Deutschland komplett von russischem Der Schock war deshalb groß. Wären die deutschen Institutionen robuster gewesen, das heißt in diesem Fall, hätte man die Energiequellen stärker differenziert, wären die negativen Folgen kleiner ausgefallen.
Gleichzeitig hat sich Deutschland aber sehr resilient gezeigt, denn es hat den Schock unglaublich schnell überwunden, indem es auf Flüssiggas umgestiegen ist und überall im Land Das ist der Unterschied zwischen Resilienz und Robustheit. Im besten Fall haben Institutionen beides.
Wie gut ist die EU auf künftige Krisen vorbereitet?
Arnstein Aassve:
Blicken wir mal auf Techfirmen wie Google, Amazon und so weiter. Sie sind alle flach organisiert. Warum? Weil sie innovativ sein wollen, ständig auf neue Entwicklungen der Märkte reagieren müssen. Sie können sich keine hierarchischen Strukturen leisten. Hierarchische Strukturen sind nicht resilient.
Dann hat die EU schlechte Karten?
Arnstein Aassve:
Es braucht einen Ausgleich zwischen Struktur und Ordnung und Institutionen, die schnell reagieren können, wenn es darauf ankommt.
Wie könnte das in der Realität aussehen?
Arnstein Aassve:
Man muss Institutionen auf lokaler Ebene ermöglichen, autonom zu handeln. So war es zum Beispiel in Deutschland im Sommer 2021, als Teile des Landes von einer Flutkatastrophe getroffen wurden. Hier musste man Entscheidungen schnell und effizient vor Ort treffen. Man konnte nicht zuerst abwarten, ob man die Erlaubnis von der Zentralregierung erhält. Studien deuten darauf hin, dass die ukrainische Armee deshalb so erfolgreich in ihrer Abwehr war, weil sie wichtige Entscheidungen auch den unteren Ebenen überlassen hat, die vor Ort waren und damit besser wussten, was getan werden muss.
Liberale Demokratien arbeiten langsam, da sie politischen Konsens herstellen müssen. Steht Demokratie resilienten Institutionen im Weg?
Arnstein Aassve:
Das muss nicht unbedingt sein. Schauen Sie sich die skandinavischen Länder an: Sie alle haben einen effizienten öffentlichen Sektor – etwa was das Bildungs- oder das Gesundheitssystem betrifft. Und trotzdem heißt das nicht, dass die institutionellen Strukturen dort schlampig organisiert wären. Im Gegenteil: Die nordischen Länder schneiden im internationalen Vergleich sehr gut ab, was Demokratie angeht. Das liegt daran, dass die Menschen, die im öffentlichen Sektor arbeiten, sehr gut ausgebildet sind. Und auch sehr gut bezahlt werden. Man muss also in diese Institutionen und in die Ausbildung der Mitarbeitenden investieren, wenn man sie resilient machen will.
Wie effizient sind internationale Organisationen und Foren, um auf globale Krisen zu reagieren? Ich denke etwa an den UN-Klimagipfel.
Arnstein Aassve:
Es ist zwar besser, sie zu haben, als sie nicht zu haben. Denn am Ende haben sie kaum oder nur wenig Macht, Entscheidungen umzusetzen. Dasselbe gilt für die Europäische Union.
Gibt es ein Beispiel aus der Vergangenheit, wo die Institutionen eines Landes bewiesen haben, gut mit Krisen umgehen zu können? Während der Covidpandemie zum Beispiel?
Arnstein Aassve:
Die Pandemie ist ein besonderer Fall. Nehmen wir hier Italien als Beispiel. Das Land, das nicht unbedingt für seine effizienten oder widerstandsfähigen Institutionen bekannt ist, hat sehr schnell und gut reagiert. Das liegt zum einen an der Schwere des Schocks und der Tatsache, dass er so überraschend kam. Man musste schnell drastische Maßnahmen ergreifen. Das war auch deshalb möglich, weil es eine recht einheitliche kollektive Einstellung gab, dass wir es mit einer Bedrohung zu tun haben, die diese Reaktion erfordert.
Ich mache mir mehr Sorgen um die Krisen wie die Klimakatastrophe, die langsam und schleichend kommen. Sie treffen auf eine Menge Trägheit in den Institutionen.
Weil Regierungen in westlichen Demokratien eher kurzfristig statt langfristig denken und handeln?
Arnstein Aassve:
Das ist richtig, ja. Das Problem ist, dass Politiker und Politikerinnen im sogenannten Politikzyklus denken. Sie treffen also Maßnahmen mit Blick auf die kommenden Wahlen – und nicht notwendige Entscheidungen, die erst in 10, 20 oder 30 Jahren Früchte tragen werden oder die im Moment vielleicht schmerzhaft sind.
Plötzlich auftretende Schocks wie eine Pandemie passen in diesen Politikzyklus hinein. Die Beliebtheitswerte von Giuseppe Conte, der zur Zeit der Covidpandemie Premierminister in Italien war, sind damals in die Höhe geschossen.
Wie schaffen wir es, politische Institutionen langfristiger auszurichten?
Arnstein Aassve:
Das ist die Millionen-Dollar-Frage. Ich bin der Meinung, dass man dafür zuerst das Vertrauen zwischen den Menschen und den politischen Institutionen stärken muss.
Brauchen wir vielleicht auch neue Institutionen?
Arnstein Aassve:
Ideal wäre es, wenn wir neben den herkömmlichen Institutionen, die sich dem täglichen Politikgeschäft widmen, Einrichtungen hätten, die langfristige Herausforderungen angehen.
Eine Art Krisenministerium?
Arnstein Aassve:
Eher eine Art Spezialeinheit für langfristige Strategien. Diese erörtert dann Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft. Wichtig dabei ist, dass solche Institutionen über Parteigrenzen hinweg akzeptiert sind, sodass sich die Arbeit darin jenseits des politischen Wettbewerbs abspielt. Wenn diese Lösungen dann vor das Parlament kommen oder an die Regierung getragen werden, kann man argumentieren, dass alle politischen Kräfte dahinterstehen.
Das klingt visionär. Ist das umsetzbar?
Arnstein Aassve:
Wir müssen innovativ denken. Denn solange unsere Institutionen wie bisher einfach nur dem täglichen Politikgeschäft folgen, werden wir uns nicht angemessen auf den Klimawandel vorbereiten können.
Außerdem entwickeln sich bereits einige Länder in diese Richtung. bei dem Expertinnen und Politiker zusammenkommen, Zukunftsszenarien entwickeln und Lösungen analysieren. Dies geschieht jenseits der täglichen politischen Auseinandersetzungen, die man in den Medien sieht. Davon brauchen wir mehr.
Als Teil einer deutschen Minderheit in Italien aufgewachsen, hat Julia sich schon als Kind gefragt, wie Brücken zwischen verschiedenen Ländern und Perspektiven gebaut werden können. Dafür hat sie zuerst Europäische Politik studiert und später Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Diese Länder nimmt sie auch für Perspective Daily in den Fokus. Doch nicht nur ins Ausland, auch in andere Filterblasen will Julia Brücken schlagen – um zu zeigen, dass unsere Gesellschaft weniger gespalten ist, als viele meinen.