Kann Optimismus toxisch sein?
Finde es heraus!
Stelle dir vor, du hast gerade unerwartet deinen Job verloren. Du bist am Boden zerstört, weißt nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Am Abend triffst du eine Freundin, der du dein Leid klagst. Sie sagt: »Hey, immerhin hast du jetzt mehr Freizeit!« Oder: »Du hast dich doch ohnehin immer über deinen Chef beschwert – jetzt bist du ihn los!« Vielleicht auch: »Alles wird gut, du findest bestimmt bald etwas Neues.«
Die US-amerikanische Psychologin Whitney Goodman findet, dass derartige Aufmunterungsversuche Beispiele für »Toxic Positivity« sind – für toxisches Positivdenken. Goodman hat
Julia Tappeiner und Katharina Wiegmann haben sehr unterschiedlich auf den Gedanken reagiert, dass positives Denken auch toxisch sein kann. Julia war spontan empört – sie findet es gut, wenn ihr bei Problemen mit konstruktivem Optimismus begegnet wird. Dementsprechend begegnet sie auch anderen Menschen, die bei ihr Trost suchen.
Katharina hatte das Buch zuerst gelesen und sich bei der ein oder anderen Verhaltensweise ertappt gefühlt. Ihr hat schnell vieles eingeleuchtet: unter anderem der Tipp, erst mal zu schauen, was unser Gegenüber gerade wirklich braucht.
Was sich sowohl Julia als auch Katharina fragen: Steckt hinter Perspective Daily nicht gerade die Idee, dass Optimismus Selbstwirksamkeit fördert? Tappen wir auch mit unserer Arbeit manchmal in die toxische Optimismus-Falle? Das Gespräch dazu hörst du in der heutigen Audioversion dieses Artikels.
Warum wir den Drang verspüren, immer positiv zu sein
Hinter toxischem Optimismus stecken vor allem 2 Mantras, die viele Menschen in kapitalistischen und individualisierten Gesellschaften verinnerlicht haben.
- »Jeder ist seines Glückes Schmied!« Wir denken, dass wir es zu jeder Zeit selbst in der Hand haben, wie es uns geht und wie wir uns fühlen. Dass es bei jedem Menschen neben den internen auch viele externe Faktoren für das Wohlbefinden gibt, die nicht oder nur schwer beeinflussbar sind, blenden wir gern mal aus.
- »Auf das richtige Mindset kommt es an!« Wir sind getrieben von einem ständigen Drang zu Selbstoptimierung und -kontrolle und gehen davon aus, dass wir selbst dafür sorgen können (und müssen!), dass es uns besser geht, sollten wir uns doch einmal in einem Tief befinden.
Der Zwang zum Positivdenken, zum ständigen Lächeln und Gutdraufsein ist in der deutschen Kultur zwar nicht so stark verankert wie in der Heimat der Autorin Whitney Goodman, aber auch hierzulande gilt wohl niemand gern als »Jammerlappen«. Die meisten Menschen wollen nicht unbedingt als »negativ« erscheinen und haben Angst, sich unbeliebt zu machen, wenn sie sich zu viel beschweren.
Aber Moment mal, gibt es nicht jede Menge Forschung dazu, dass eine positive Grundeinstellung und Gefühle wie
Das bestreitet Goodman gar nicht. Sie sagt: Es komme darauf an, dass wir auf authentische Art und Weise mit unseren Emotionen umgingen. Optimismus ist also nur dann gut, wenn er echt ist, nicht gespielt. Alle Gefühle sollen Raum bekommen, auch die, die als »negativ« bezeichnet werden.
Toxisches Positivdenken verleugnet bestimmte Emotionen und zwingt uns, diese zu unterdrücken. Wenn wir toxisch positiv eingestellt sind, reden wir uns und anderen Menschen ein, dass diese Emotionen falsch sind.
Welche Folgen toxisches Positivdenken haben kann
Zurück zum Beispiel von oben, zum Tag, an dem du deinen Job verloren hast. Vielleicht hast du das toxische Positivdenken so weit internalisiert, dass du deine Freundin nicht mit deinen Problemen belasten willst. Du denkst dir: »So schlimm bin ich gar nicht dran, viele Menschen haben ganz andere Probleme. Immerhin habe ich ein Dach über dem Kopf. Es gibt Menschen, die mich unterstützen, wenn ich wirklich in finanzielle Schwierigkeiten gerate. Dafür sollte ich doch dankbar sein!« Die Verabredung mit deiner Freundin sagst du lieber ab, denn du schaffst es trotz allem nicht, die Traurigkeit beiseitezuschieben.
Laut Whitney Goodman kann sozialer Rückzug eine Folge von toxischem Positivdenken sein. Vielleicht würden uns Treffen mit Freund:innen zu anstrengend, wenn wir das Gefühl hätten, ständig etwas vorspielen zu müssen. Die negativen Folgen
Außerdem wisse die Psychologie, dass das Unterdrücken von Emotionen wirkungslos sei, so Goodman. Der dadurch ausgelöste Stress könne uns sogar krankmachen.
Das sollten wir uns klarmachen, wenn wir Menschen meiden, die in unseren Augen zu viel jammern. Denn letztlich sagt das auch etwas über unseren Umgang mit den eigenen Emotionen aus.
Das heißt aber noch lange nicht, dass wir jetzt alle hemmungslos meckern sollten …
Konstruktiv jammern: So geht es!
Die Bahn hat mal wieder Verspätung, im Supermarkt hat sich jemand vorgedrängelt und überhaupt – schon wieder Schei*wetter! All das kann Gefühle auslösen, unbestritten.
Doch wann ist Jammern berechtigt? Und wann sollten wir bei unserem Gegenüber genauer hinhören, wenn sie uns mal wieder ein Ohr abkauen?
Whitney Goodman hat dafür einen hilfreichen Tipp parat. Sie unterscheidet 2 Kategorien von Klagen:
- Primäre Klagen drehen sich um Themen, die weitreichende Auswirkungen auf unser Leben haben. Wenn sich jemand über
- Sekundäre Klagen sind solche, die sich um alltägliche Ärgernisse drehen – zum Beispiel um Bahnverspätungen oder das Wetter.
Aber auch hier lohnt es sich, deinem Gegenüber Aufmerksamkeit zu schenken. Julia beschwert sich gern über das Wetter; Katharina hat für diese Art von Gemecker wenig Geduld. Doch der Südtirolerin Julia geht es nicht nur ums Wetter – hinter ihren Klagen über den Berliner Winter steckt immer auch ein bisschen Heimweh.
Das kann Katharina nicht wissen, vielleicht hält sich Julia also künftig an einen weiteren Tipp von Whitney Goodman: Bevor du anfängst zu jammern, halte einmal kurz inne und überlege, wer dir bei einer bestimmten Thematik weiterhelfen kann. »Gibt es Personen, die deine Lage verstehen können oder aus eigenem Erleben kennen? […] Wähle Menschen aus, die dein Erleben validieren oder dir zu deinem Ziel verhelfen können.« In Julias Fall wären das andere italienische Freund:innen in Berlin, die ihre Wettergefühle und das dahinter sitzende Heimweh besser nachvollziehen können als ihre Kollegin (die nun, nachdem sie um die Hintergründe weiß, auch sensibler reagieren kann).
Wie du anderen besser beistehen kannst
Vielleicht bist du Team Julia und gehörst zu den Menschen, die immer einen (vermeintlich) aufmunternden Spruch auf den Lippen haben, sobald in deiner Gegenwart jemand mit einem Problem auftaucht? Dann unterstellen wir dir einmal wohlwollend – wie es natürlich auch bei Julia der Fall ist –, dass du es im Grunde gut meinst.
Wenn man sämtliche Leute gleich aus seinem Leben verbannt, die etwas Negatives ausstrahlen, wird es nie gelingen, enge Bindungen einzugehen, die auch Krisen und sonstige Herausforderungen überstehen.
Oft steckt ja auch ein Körnchen Wahrheit in den Sätzen, mit denen wir etwas zu schnell über die Befindlichkeiten unseres Gegenübers hinwegwischen. Wenn ich meinen Chef nicht mochte, ist es langfristig tatsächlich eine Erleichterung, dass ich ihn nicht mehr ertragen muss. Aber vielleicht bin ich am Tag der Kündigung noch nicht bereit dafür, so etwas zu hören. »Toxisch positiv sind Ratschläge, die wir theoretisch vielleicht beherzigen wollen, die uns jedoch im Moment überfordern. Sie bewirken, dass wir uns nicht gehört, verurteilt und missverstanden fühlen«, erklärt Goodman. Hinter toxisch positiven Bemerkungen steckt oft auch der Unwille oder die Unfähigkeit, sich mit den eigenen negativen Emotionen auseinanderzusetzen, die das Beklagen der anderen in uns auslösen.
Wie funktioniert es besser? Wie kann ich für andere da sein, wenn ich die Kapazität dafür habe?
Whitney Goodman rät zu Dingen, die allgemein eine gute Kommunikation ausmachen: neugierig sein,
Mit Illustrationen von Claudia Wieczorek für Perspective Daily