»Mir war klar: Ich möchte nicht wie Martin Sonneborn enden«
Vor 5 Jahren ging die Kleinpartei Volt an den Start, um die europäische Demokratie zu revolutionieren. Damian Boeselager schaffte den Sprung ins EU-Parlament. Was hat er dort gelernt?
Am 6.–9. Juni wählen das neue EU-Parlament. Im Wahlkampf geht es dennoch mehr um nationale Einzelinteressen als um die gemeinsame europäische Zukunft. Auf diese hat sich die – nach eigenen Aussagen – »erste wirklich europäische Partei« Volt spezialisiert. Für sie gilt »Europa first«. Mit einem gehen Kandidat:innen in 15 Ländern ins Rennen um einen Sitz im Parlament.
Damian Boeselager hat den Sprung bereits geschafft und tritt in Deutschland erneut als Spitzenkandidat an. Im Interview erzählt er, was er als Politik-Quereinsteiger in Brüssel gelernt hat, wie konstruktive Arbeit möglich ist – und warum er nicht wie Martin Sonneborn enden will.
Katharina Wiegmann:
Was hat dich als neu gewählter Abgeordneter im Europaparlament am meisten überrascht?
Damian Boeselager:
Was mich am meisten überrascht hat, nachdem ich die Abläufe im Parlament durchblickt hatte, ist, wie viel man als einzelner Abgeordneter tatsächlich verändern kann.
Hast du diesbezüglich einen politischen Lieblingsmoment aus den letzten 5 Jahren?
Damian Boeselager:
Ein Erfolg war, dass wir es geschafft haben, die europäische durch das Parlament zu bringen. Das war ein Moment, in dem ich mich krass gefreut habe. Aber das hängt jetzt leider noch bei den 27 Minister:innen fest.
Ein zweiter Moment, an den ich mich gerne erinnere, ist das Ende der Verhandlungen zum Das ist das größte EU-Programm aller Zeiten, bei dem ich als Politikneuling mitverhandeln konnte.
Als wir damit durch waren, haben wir bei dem einzigen geöffneten Restaurant Sushi und Bier geholt. Und dann saßen wir in diesem schmucklosen Raum, alle 3 Meter voneinander entfernt, und haben gefeiert, indem wir uns irgendwie durch unsere Masken Sushi reingeschoben haben. Das war schon ein sehr witziger, auch historischer Moment, in dem ich mir dachte: »Krass, wir haben hier gerade über mehrere Wochen die ganze Nacht durchverhandelt, um irgendwie hinzubekommen, dass Europa auch in dieser Krise zusammensteht. Jetzt haben wir es geschafft, aber wahrscheinlich kriegt es kaum jemand mit.«
Wie war es für dich überhaupt möglich, als einzelner Abgeordneter für Volt Politik zu gestalten?
Damian Boeselager:
Als Abgeordneter muss man sich am Tag nach der Wahl überlegen, ob man einer Fraktion beitreten möchte oder nicht. Nur wenn du Teil einer Fraktion bist, kannst du bei Gesetzen mitverhandeln. Es gibt 7 Fraktionen im Europaparlament: Zwischen ganz links und den Nazis auf der rechten Seite gibt es Rechtskonservative, Konservative, Sozialdemokraten und in der Mitte die Grünen und die Liberalen. Mit diesen beiden haben wir über einen Fraktionsbeitritt verhandelt.
Mir war klar: Ich möchte nicht wie enden, der in seinen Jahren im Parlament überhaupt nichts verändert hat. Ich möchte die Wahlversprechen umsetzen, die wir gegeben haben.
Letztendlich bist du bei den Grünen gelandet. Warum?
Damian Boeselager:
Die Grünen haben uns die Ausschüsse gegeben, die wir haben wollten. Ich wollte den Verfassungsausschuss, weil die EU-Reform unser wichtigstes Thema ist. Dann den Innenausschuss, weil ich gerne zeigen wollte, dass wir für eine gerechtere Gesellschaft stehen. Ich wollte aber auch am Thema Migration und Asyl arbeiten. Und dann wollte ich noch den industriepolitischen Ausschuss, um zu zeigen, dass Volt für eine innovationsfreundliche Wirtschaft steht, die in einem klimafreundlichen Rahmen funktioniert.
Wie funktioniert die
Damian Boeselager:
Das läuft so ab: Du wirst von deiner Fraktion als Ansprechpartner für ein Gesetz definiert. Und dann verhandelst du mit den 6 anderen, die jeweils von ihren Fraktionen nominiert wurden.
Dabei hast du ein halbes Jahr Zeit, um dir im Detail deine Prioritäten zu überlegen und das mit deiner Fraktion abzusprechen. Du nimmst dann den Gesetzestext von der Kommission, machst Vorschläge im Nachverfolgen-Modus, die du als offizielle Änderungsanträge einreichst und mit den Ansprechpartner:innen der anderen Fraktionen diskutierst – also mit denen, die an konstruktiver Arbeit interessiert sind. Die Nazis und Teile der Linken tauchen bei den Ausschusstreffen oft gar nicht auf.
Dann geht man Satz für Satz durch und versucht, eine gemeinsame Position zu finden, hinter der eine Mehrheit steht. Dieser Kompromisstext geht ins Plenum, wird dort noch einmal abgestimmt und bei Erfolg zur Position des Europäischen Parlaments.
Damit sind die Verhandlungen aber noch nicht zu Ende …
Damian Boeselager:
Nein. Dann verhandeln die 7 Ansprechpartner:innen aus den Fraktionen mit dem Rat, also den 27 nationalen Minister:innen, die für das jeweilige Thema zuständig sind. Parallel laufen die gleichen Verhandlungen zwischen den 27 Minister:innen, also beim Beispiel des Data Acts zwischen den Wirtschafts- oder den Digitalminister:innen, die dann auch gemeinsam ihre Änderungsanträge schreiben.
Am Ende gibt es also 2 Versionen eines Gesetzestextes: die vom Parlament und die vom Rat. Und dann gibt es eine finale Verhandlungsrunde, in der sich das Parlament und die 27 relevanten Minister:innen auf jeden einzelnen Satz und jedes einzelne Wort einigen müssen.
»Die EU gibt heute den Ton an«
Wie hat sich dein Blick auf die EU in den letzten 5 Jahren verändert?
Damian Boeselager:
Die EU gestaltet die großen Themen unserer Zeit, das ist mir noch einmal klarer geworden. Egal, ob es um Landwirtschaft, Regionalförderung, Digitalisierung oder Krisenbekämpfung geht – eigentlich ist es die EU, die heute den Ton angibt.
Das Problem ist, dass bei diesen ganz großen Fragen nationale Interessen zu sehr im Vordergrund stehen und die gemeinsamen europäischen Interessen dahinter zurückfallen. Die 27 nationalen Regierungschefs schauen leider vor allem auf das eigene Land. Dadurch verlieren am Ende alle.
Kannst du ein konkretes Beispiel nennen, das diese Problematik verdeutlicht?
Damian Boeselager:
Das krasseste Beispiel aus der jüngsten Zeit sind die Verhandlungen um das 50-Milliarden-Euro-Paket für die Ukraine, das der ungarische Regierungschef Viktor Orbán Problematisch war auch, dass die Zustimmung Orbáns zu Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine daran geknüpft war, dass eingefrorene Fördergelder in Höhe von 10 Milliarden Euro für Ungarn freigegeben werden. Das war schon alles ziemlich absurd. Bei solchen Geschichten merkst du, wie das uns allen schadet.
Gewaltsame Pushbacks an den Außengrenzen, Blockaden im Inneren und schließlich ist da noch der Rechtsruck … Setzt da auch bei einem Europa-Enthusiasten wie dir manchmal Ernüchterung ein?
Damian Boeselager:
Nein, überhaupt nicht. Die EU schafft es, Krisen größtenteils gut zu bewältigen.
Zum Beispiel bei den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie: Die EU hat dafür gesorgt, dass mit den Wiederaufbaugeldern nicht nur die reichen Länder investieren können, sondern dass auch die, die wirtschaftlich Schwierigkeiten haben, eine Chance bekommen. Deutschland kann es sich leisten, die Lufthansa über so eine Krise hinweg zu retten, aber bei anderen kleineren Ländern wäre es ohne EU-Gelder zu massiven Einbußen gekommen. Auch mit dem EU-Ukraine-Hilfsfonds, den ich mitverhandelt habe, hat Europa bewiesen, dass es in der Lage ist, zu helfen.
Es gibt aber auch Themen, bei denen das noch nicht klappt, zum Beispiel bei Asyl und Pushbacks. Da ist das Hauptproblem, dass EU-Recht und internationales Recht von einigen Ländern nicht richtig umgesetzt werden. In solchen Fällen bräuchte es eigentlich Vertragsverletzungsverfahren, die mit Sanktionen behaftet sind.
Warum gibt es die nicht?
Damian Boeselager:
Die Europäische Kommission ist viel zu schwach, um diese Verfahren aufzusetzen. Deshalb fordert Volt, dass der Europäische Gerichtshof nationale Gesetze, die dem EU-Recht widersprechen, aufheben kann. Es ist dringend notwendig, dass wir den Orbán greift ihn in Ungarn an, dagegen müssten die Leute auch vor dem Europäischen Gerichtshof klagen können.
»Sicherheit gibt es nur, wenn wir weiter zusammenwachsen«
Vor 5 Jahren war die langfristige Vision von Volt ein föderaler europäischer Staat. Ist das immer noch so?
Damian Boeselager:
Natürlich. Das ist der Hauptgrund, warum ich das alles mache und warum wir eine europäische Partei aufbauen.
In den Niederlanden, Bulgarien und Zypern sitzen wir inzwischen in den nationalen Parlamenten. Aber unser Ziel ist weiterhin ein föderales Europa. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und auch die Pandemie haben gezeigt, dass wir dringend eine entscheidungs- und handlungsfähige EU brauchen, die mit diesen Themen umgehen kann. Verteidigung, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit sind auch riesige Themen, bei denen Europa besser werden muss.
In vielen europäischen Ländern ist der Nationalismus in den letzten Jahren eher stärker geworden.
Damian Boeselager:
Das ist der Grund, warum wir aktiv geworden sind: um dem etwas entgegenzusetzen. Sind wir groß genug, um das jetzt schon zu schaffen? Leider nicht. Aber wenn es Volt nicht schon gäbe, würde ich es heute gründen. Weil die Menschen dringend verstehen müssen, dass das Gegenteil von dem, was nationalistisch orientierte Politik fordert, das Richtige ist.
Wenn du dir die Wahlplakate der AfD oder auch anderer Parteien anschaust, geht es zum Beispiel um Sicherheit. Doch die gibt es nur, wenn wir in Europa weiter zusammenwachsen, und nicht, wenn wir uns voneinander entfernen.
Ich weiß das, ich war noch bei der Bundeswehr. Deutschland kann sich nicht allein verteidigen. Wir haben unsere Souveränität diesbezüglich schon lange verloren. Verteidigungsfähigkeit können wir nur gemeinsam erreichen. Genauso ist es bei vielen anderen Themen. Auch den Klimawandel können wir nur gemeinsam bekämpfen.
Viele entscheiden sich aus strategischen Gründen gegen die Wahl einer Zu gering die Chancen, zu wenig Einfluss, wenn sie tatsächlich doch ein Mandat erringen. Was sagst du dazu?
Damian Boeselager:
Bei den Europawahlen gibt es
Ich habe in den letzten 5 Jahren doppelt so viele Gesetze verhandelt wie ein durchschnittlicher Abgeordneter bei den Grünen und 3-mal so viele wie durchschnittliche CDU- oder SPD-Abgeordnete. Bei uns kriegt man also mehr für sein Steuerzahlergeld und für seine Stimme als bei irgendeiner anderen Partei.
Vielleicht ist das Folgende noch wichtig zum Verständnis: Bei Volt wählen wir ja auch aus anderen Ländern Leute ins Europaparlament. Und wenn wir, wie es jetzt aussieht, aus den Niederlanden 2 Abgeordnete kriegen, dann sind wir, wenn 2 Abgeordnete aus Deutschland dazu kommen, im Europaparlament so stark vertreten wie die FDP. Dann sind wir keine kleine Gruppe mehr und können viel bewegen. Man muss halt fleißig sein. Das sind wir.
Vielen Menschen ist nicht ganz klar, wo Volt sich ideologisch verortet …
Damian Boeselager:
Wir haben eine europäische Partei aufgebaut und in jedem europäischen Land verstehen die Menschen unterschiedliche Dinge unter Begriffen wie progressiv, liberal, rechts oder links.
Ich finde es viel spannender, über echte Themen zu reden, als sich hinter diesen Labels zu verstecken. Unsere höchste Priorität ist es, Europa zu retten, zusammenzuhalten und dafür weiterzuentwickeln. Dafür ist es wichtig, eine innovationsfreundliche, klimaneutrale Wirtschaft zu haben. Das wollen wir erreichen, ohne dass jemand irgendwo hinten runterfällt, mit guten Mindeststandards, die wirklich jedem Menschen gute Lebensverhältnisse ermöglichen. Du sollst jeden lieben können, den du lieben möchtest. Wir stehen für eine progressive Gesellschaft – und im politischen Spektrum genau auf der gegenüberliegenden Seite der AfD.
Wie hat sich dein Blick auf Politik allgemein verändert, seit du selbst Politiker bist?
Damian Boeselager:
Die meisten Politiker und Politikerinnen arbeiten viel. Es sind viele gutmeinende Menschen dabei. Und ich habe noch mal gelernt, wie wichtig es ist, verschiedene Perspektiven in der Demokratie zu haben. Dass es Leute gibt, die sozialdemokratische Interessen vertreten, und Leute, die eher liberal denken. Insgesamt habe ich ein positives Bild von der Politik.
Aber eine Sache gibt es, die ich tragisch finde: Wie wenig Europa in Deutschland stattfindet. Sehr viele der Gesetze, die durch den Bundestag gehen, sind Ich habe verstanden, dass viele der Themen, über die gestritten wird, eigentlich EU-Themen sind. Trotzdem findet Europa in der Öffentlichkeit kaum statt.
Wenn du eine Sache an der EU verändern könntest: Welche wäre das?
Damian Boeselager:
Dass wir eine europäische Regierung wählen könnten. Dann müsste nämlich nicht ich eine Sache ändern, sondern dann könnten wir alle wählen, was wir verändern wollten.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.