»Mir war klar: Ich möchte nicht wie Martin Sonneborn enden«
Vor 5 Jahren ging die Kleinpartei Volt an den Start, um die europäische Demokratie zu revolutionieren. Damian Boeselager schaffte den Sprung ins EU-Parlament. Was hat er dort gelernt?
Am 6.–9. Juni wählen
Damian Boeselager hat den Sprung bereits geschafft und tritt in Deutschland erneut als Spitzenkandidat an. Im Interview erzählt er, was er als Politik-Quereinsteiger in Brüssel gelernt hat, wie konstruktive Arbeit möglich ist – und warum er nicht wie Martin Sonneborn enden will.
Damian Boeselager

Damian Boeselager ist Mitgründer von Volt Europa und seit 2019 Abgeordneter im Europäischen Parlament. Vor seiner Zeit als Politiker war er als Unternehmensberater tätig.
Bildquelle: Marcus ReichmannAls wir damit durch waren, haben wir bei dem einzigen geöffneten Restaurant Sushi und Bier geholt. Und dann saßen wir in diesem schmucklosen Raum, alle 3 Meter voneinander entfernt, und haben gefeiert, indem wir uns irgendwie durch unsere Masken Sushi reingeschoben haben. Das war schon ein sehr witziger, auch historischer Moment, in dem ich mir dachte: »Krass, wir haben hier gerade über mehrere Wochen die ganze Nacht durchverhandelt, um irgendwie hinzubekommen, dass Europa auch in dieser Krise zusammensteht. Jetzt haben wir es geschafft, aber wahrscheinlich kriegt es kaum jemand mit.«
Mir war klar: Ich möchte nicht wie

Dabei hast du ein halbes Jahr Zeit, um dir im Detail deine Prioritäten zu überlegen und das mit deiner Fraktion abzusprechen. Du nimmst dann den Gesetzestext von der Kommission, machst Vorschläge im Nachverfolgen-Modus, die du als offizielle Änderungsanträge einreichst und mit den Ansprechpartner:innen der anderen Fraktionen diskutierst – also mit denen, die an konstruktiver Arbeit interessiert sind. Die Nazis und Teile der Linken tauchen bei den Ausschusstreffen oft gar nicht auf.
Dann geht man Satz für Satz durch und versucht, eine gemeinsame Position zu finden, hinter der eine Mehrheit steht. Dieser Kompromisstext geht ins Plenum, wird dort noch einmal abgestimmt und bei Erfolg zur Position des Europäischen Parlaments.
Am Ende gibt es also 2 Versionen eines Gesetzestextes: die vom Parlament und die vom Rat. Und dann gibt es eine finale Verhandlungsrunde, in der sich das Parlament und die 27 relevanten Minister:innen auf jeden einzelnen Satz und jedes einzelne Wort einigen müssen.
»Die EU gibt heute den Ton an«
Das Problem ist, dass bei diesen ganz großen Fragen nationale Interessen zu sehr im Vordergrund stehen und die gemeinsamen europäischen Interessen dahinter zurückfallen. Die 27 nationalen Regierungschefs schauen leider vor allem auf das eigene Land. Dadurch verlieren am Ende alle.
Volt Europa

Volt versteht sich als »paneuropäische, pragmatische und progressive« Partei. Aufgrund der aktuell geltenden Regeln ist sie in mehreren EU-Ländern als nationale Partei registriert, tritt jedoch bei den Europawahlen 2024 in 14 Mitgliedstaaten mit einem gemeinsamen europäischen Programm zur Wahl an.
Bildquelle: Volt DeutschlandZum Beispiel bei den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronapandemie: Die EU hat dafür gesorgt, dass mit den Wiederaufbaugeldern nicht nur die reichen Länder investieren können, sondern dass auch die, die wirtschaftlich Schwierigkeiten haben, eine Chance bekommen. Deutschland kann es sich leisten, die Lufthansa über so eine Krise hinweg zu retten, aber bei anderen kleineren Ländern wäre es ohne EU-Gelder zu massiven Einbußen gekommen. Auch mit dem EU-Ukraine-Hilfsfonds, den ich mitverhandelt habe, hat Europa bewiesen, dass es in der Lage ist, zu helfen.
Es gibt aber auch Themen, bei denen das noch nicht klappt, zum Beispiel bei Asyl und Pushbacks. Da ist das Hauptproblem, dass EU-Recht und internationales Recht von einigen Ländern nicht richtig umgesetzt werden. In solchen Fällen bräuchte es eigentlich Vertragsverletzungsverfahren, die mit Sanktionen behaftet sind.
»Sicherheit gibt es nur, wenn wir weiter zusammenwachsen«
In den Niederlanden, Bulgarien und Zypern sitzen wir inzwischen in den nationalen Parlamenten. Aber unser Ziel ist weiterhin ein föderales Europa. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und auch die Pandemie haben gezeigt, dass wir dringend eine entscheidungs- und handlungsfähige EU brauchen, die mit diesen Themen umgehen kann. Verteidigung, Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit sind auch riesige Themen, bei denen Europa besser werden muss.
Wenn du dir die Wahlplakate der AfD oder auch anderer Parteien anschaust, geht es zum Beispiel um Sicherheit. Doch die gibt es nur, wenn wir in Europa weiter zusammenwachsen, und nicht, wenn wir uns voneinander entfernen.

Ich weiß das, ich war noch bei der Bundeswehr. Deutschland kann sich nicht allein verteidigen. Wir haben unsere Souveränität diesbezüglich schon lange verloren. Verteidigungsfähigkeit können wir nur gemeinsam erreichen. Genauso ist es bei vielen anderen Themen. Auch den Klimawandel können wir nur gemeinsam bekämpfen.
Ich habe in den letzten 5 Jahren doppelt so viele Gesetze verhandelt wie ein durchschnittlicher Abgeordneter bei den Grünen und 3-mal so viele wie durchschnittliche CDU- oder SPD-Abgeordnete. Bei uns kriegt man also mehr für sein Steuerzahlergeld und für seine Stimme als bei irgendeiner anderen Partei.
Vielleicht ist das Folgende noch wichtig zum Verständnis: Bei Volt wählen wir ja auch aus anderen Ländern Leute ins Europaparlament. Und wenn wir, wie es jetzt aussieht, aus den Niederlanden 2 Abgeordnete kriegen, dann sind wir, wenn 2 Abgeordnete aus Deutschland dazu kommen, im Europaparlament so stark vertreten wie die FDP. Dann sind wir keine kleine Gruppe mehr und können viel bewegen. Man muss halt fleißig sein. Das sind wir.
Ich finde es viel spannender, über echte Themen zu reden, als sich hinter diesen Labels zu verstecken. Unsere höchste Priorität ist es, Europa zu retten, zusammenzuhalten und dafür weiterzuentwickeln. Dafür ist es wichtig, eine innovationsfreundliche, klimaneutrale Wirtschaft zu haben. Das wollen wir erreichen, ohne dass jemand irgendwo hinten runterfällt, mit guten Mindeststandards, die wirklich jedem Menschen gute Lebensverhältnisse ermöglichen. Du sollst jeden lieben können, den du lieben möchtest. Wir stehen für eine progressive Gesellschaft – und im politischen Spektrum genau auf der gegenüberliegenden Seite der AfD.
Aber eine Sache gibt es, die ich tragisch finde: Wie wenig Europa in Deutschland stattfindet. Sehr viele der Gesetze, die durch den Bundestag gehen, sind
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