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Jeden Tag buhlen unzählige Werbeplakate um unsere Blicke. Ihre Botschaften setzen sich in unseren Köpfen fest – zu welchem Preis?
Stelle dir vor, du leidest unter einer seltenen neurologischen Krankheit: Du kannst Bilder nicht so sehen wie andere Menschen. Stattdessen übersetzen deine
Du läufst durch die Stadt, vorbei an Bier- und Zigarettenwerbung und sich räkelnden Bikini-Girls im Großformat. Neben dir hält der Fußballstar das neueste Smartphone in den Händen, der ehemalige Leichtathlet lenkt den schweren Geländewagen durch die Savanne und du gehst vorbei unter Angela Merkels mildem, aber wachsamen Auge auf dem Wahlplakat. Was würdest du statt der vielen bunten Bilder sehen?
Nur Worte: »Gehöre dazu!« »Vermehre dich!« »Gehorche!« »Arbeite!« »Schaue fern!« »Fahre Auto!« Der häufigste Appell aber:
Unsere Städte sind voller Werbung für Produkte, Dienstleistungen, Ideen und Menschen, die wir kaufen, gut finden, übernehmen und wählen sollen. Auf die ein oder andere Art soll
Das Problem ist, dass uns die Werbung widersprüchliche Botschaften einredet: Bikini-Figur und das neue Sparangebot von McDonald’s? Neues Smartphone, neuer Thriller und neue Netflix-Serie? Das passt nicht zusammen und dafür haben wir auch gar keine Zeit. So zerren Konsumkultur auf der einen und das schlechte Gewissen auf der anderen Seite an uns.
Diese Zerreißprobe und das Chaos, in das die »Dauerbeschallung« die Städte stürzen, haben viele Menschen erkannt –
Damit wollen sie Konsum und Wirtschaft kein Ende setzen, sondern eine alte Frage neu verhandeln: Welchen Botschaften wollen wir uns von früh bis spät aussetzen? Denn damit hängt letztlich die Frage zusammen: Worüber denken wir eigentlich den ganzen Tag nach?
Werbung wirkt – aber wie?
Ein langer Arbeitstag ist vorbei, müde machst du dich auf den Heimweg und denkst darüber nach, was du gleich zu Hause essen wirst. Unterwegs fährst du an einer Pizza mit einem Durchmesser von 3 Metern vorbei – und warum eigentlich nicht? Pizza gab es ja schon länger nicht mehr …
Werbung bestimmt, wie und worüber wir nachdenken – und verändert nicht nur so die gesamte Gesellschaft:
- Markenbewusstsein: Verschiedene
- Gefährlicher Konsum: Kinder, die häufig mit Alkoholwerbung in Kontakt kommen, sammeln in der Regel auch früher
- Selbstwertgefühl: Gerade Mädchen und junge Frauen vergleichen sich ständig mit Frauen in der Werbung, die schlanker,
- Verschuldung: Werbung animiert uns dazu, zu konsumieren – ob wir gerade das nötige Kleingeld haben oder nicht. Das wissen auch die Banken und Händler und bieten günstige
- Umweltbelastung: Der Konsum, zu dem uns die Werbung verleiten soll, hat viele Facetten. Eines ist jedoch meistens gleich: Er belastet die Umwelt und somit unseren Lebensraum.
Außenwerbung – eine Hand wäscht die andere
Öffentliche Werbung ist meistens eine lukrative Symbiose zwischen Stadt und Unternehmen: Die Städte erzielen mit der Vermietung freier Flächen auf Litfaßsäulen, Bushaltestellen und Hauswänden ergiebige Nebeneinkünfte, während die Unternehmen im Gegenzug ihre Kunden erreichen.
São Paulo und Co. zeigen: Es geht auch ohne
Während die Werbung in Europa oft subtiler ins Stadtbild einfließt, hatte das Ausmaß der Werbung in São Paulo nach der Jahrtausendwende ein gewaltiges Ausmaß angenommen. Kaum eine Hauswand mehr ohne schrille Farben, von den Stadtautobahnen war wenig zu sehen außer gigantischen Reklametafeln. Die Stadt war eine einzige Litfaßsäule.
»Die Hyperposter unserer Topmodels waren so beeindruckend, dass sie die Autofahrer massiv abgelenkt haben«, erzählt der brasilianische Architekt Jorge Wilheim im
Als Gilberto Kassab im Jahr 2006 den Posten des Oberbürgermeisters in der
Einfach nur ein paar der Werbebanner abzuhängen, wäre schwer möglich gewesen, sagen Jorge Wilheim und andere Beteiligte. Wer hätte darüber entschieden, was hängen bleibt und was runterkommt?
Warum sollten wir die Werte der Konsumgesellschaft gesetzlich fördern, wo es viel wichtigere ethische und kulturelle Werte gibt? – Jorge Wilheim
Auch wenn sich das Stadtbild São Paulos
wissen die »Paulistas« die Veränderung zu schätzen:
São Paulo ist nicht mehr die einzige Stadt, die blankgezogen hat:
auf den Werbeflächen sehen, die verpassten Einnahmen von rund 115.000 Euro pro Jahr habe er bereits durch andere Maßnahmen wieder eingespart.
Breitet sich der Trend weiter aus? In der iranischen Hauptstadt Teheran wurden im Jahr 2015 über 1.500 Reklametafeln mit Kunstwerken überklebt, in Paris liegen Pläne vor, 1/3 der innerstädtischen Werbetafeln zu entfernen, und in Bristol sammelte eine Petition genügend Stimmen, um einen Bürgerentscheid über die Werbung anzustoßen – der allerdings verloren wurde.
Die Motivation ist an fast allen Orten dieselbe: Die Bürger wollen dem Konsum nicht abschwören, ihm aber Schranken aufweisen. Werbung solle uns dabei helfen, informierte Konsum-Entscheidungen treffen zu können,
Mit dieser Initiative möchten wir die Werbetreibenden nicht dazu bringen, komplett mit dem Werben aufzuhören. Werbung sollte es uns als Individuen ermöglichen, informierte Kaufentscheidungen zu treffen und zu wissen, wo es die besten Angebote gibt. Exzessive Werbung bringt uns aber dazu, die moderne Konsum-Tretmühle immer schneller zu laufen – mit schädlichen Folgen. Sie trägt zur steigenden Verschuldung der Konsumenten und zum Verbrauch immer größerer Mengen der endlichen Ressourcen der Erde bei.
Ein Künstler aus New York hat eine App programmiert, mit der er die Werbung in seiner Stadt ausblenden kann. Richtet ein Nutzer sein Handy oder Tablet auf eine Reklametafel, wird stattdessen Kunst angezeigt.
Titelbild: Wojtek Witkowski - CC0 1.0