Bundestagswahl 2017 

Warum eine Zahl nicht ausreicht, um das gute Leben zu messen

3,134 Billionen Euro. So messen wir derzeit den Erfolg unseres Landes. Wirklich wichtig sind uns jedoch ganz andere Dinge. Höchste Zeit, neu zu messen.

23. August 2017  –  6 Minuten

Gesund alt werden, mit Freunden im Garten oder Park grillen, eine glückliche Familie und nette Kollegen auf der Arbeit haben. So oder so ähnlich würden sicher die Antworten lauten, wenn dich jemand fragen würde, was für dich ein gutes Leben ausmacht. Oder?

»Ein starkes Wirtschaftswachstum« würden wahrscheinlich die wenigsten auf ihren Wunschzettel packen. Trotzdem bleibt genau das die wichtigste Kennzahl für Politiker und Gesetzgeber, um den Erfolg unseres Landes zu messen: das Wachstum der Wirtschaft eines Landes, gemessen als Bruttoinlandsprodukt (BIP).Ich habe bereits einen ausführlichen Artikel zur Kritik am BIP geschrieben: »Warum das BIP seine besten Jahre hinter sich hat«.

In Zukunft wird sich das ändern. Denn Daten können heutzutage einfacher erhoben werden als je zuvor, sodass Politiker mit nicht gehaltenen Versprechen à la »Ich werde für x% weniger y sorgen« nicht mehr so einfach davonkommen werden (vorausgesetzt, wir lassen uns weniger von Diesel-, Eier- und Plagiatsskandalen ablenken und ziehen sie auch zur Rechenschaft).

Wer hat das größte?

Auch wenn das BIP scheinbar neutral und objektiv daherkommt, ist es wie jede andere Zahl, die gewählt wird, um unsere Gesellschaft zu beschreiben, ein politisch gefärbtes Instrument. »Aber es misst doch ganz objektiv die wirtschaftliche Produktion unseres Landes«, mag der statistisch versierte Befürworter entgegnen. Weit gefehlt: Tatsächlich stand das BIP als messbarer Erfolgsfaktor eines Landes von Beginn an in der Kritik. So würde sein geistiger Vater, Simon Kuznets,Gebürtig kam Simon Kuznets (1901–1985) aus Russland (heute Belarus). Er und seine Familie emigrierten im Jahr 1922 nach Amerika, wo er an der Columbia University in New York studierte. Danach arbeitete er beim National Bureau of Economic Research, wo auch sein Doktorvater beschäftigt war. Hier veröffentlichte Kuznets eine Studie über den Status der amerikanischen Wirtschaft. Für seine empirische Arbeit zum Wirtschaftswachstum erhielt er im Jahr 1971 den »Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften«, auch bekannt als Wirtschaftsnobelpreis. vieles, was heute in die Statistik eingeschlossen wird, nicht mit aufnehmen: Werbe- und KriegsindustrieBeide sind laut Simon Kuznet Beispiele für eine destruktive Industrie. sowie RegierungsausgabenDie sind laut Kuznet lediglich intermediär (d.h. es gibt kein Endprodukt) und haben somit ebenfalls nichts im BIP verloren. fließen heute ins BIP mit ein – hatten für ihn aber nichts in der Erfolgskennzahl eines Landes verloren.

Ist das BIP nicht gewachsen, ist Flaute angesagt.

Weiter geht es mit der versteckten Forderung, die im BIP mitschwingt: Es muss immer steigen. Der Statistik selbst ist es zwar egal, in welche Richtung es für sie geht. Doch das Wachstum dieser Zahl ist trotzdem zum wichtigsten Staatsziel geworden. Politiker arbeiten sich in ihren Wahlversprechen am So betont beispielsweise Peter Altmaier den »Mehrwert des Wachstums« (2016)»notwendigen Wachstum« ab und jedes Kind weiß durch die einschlägige Berichterstattung: Ist das BIP nicht gewachsen, ist Flaute angesagt. Ist es sogar mehrmals hintereinander gesunken, macht sich Panik breit. Alle reden von Rezession.Generell ist von einer Rezession die Rede, wenn das BIP sinkt. Wie lange dies der Fall sein muss, ist nicht eindeutig festgelegt. In der Europäischen Union gilt: Folgen 2 Quartale mit einem negativen Wachstum (verglichen mit den Werten des Vorjahres) aufeinander, liegt eine Rezession vor. Ist es hingegen gestiegen, sehen die Politiker das gern als ihren Verdienst an.

Leben diejenigen ein gutes Leben, die besonders viel Geld zum Shoppen zur Verfügung haben? – Quelle: freestocks.org

Abgesehen davon, dass völlig unklar ist, Warum der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität so wichtig ist, beschreibt Maren Urner hier (anhand von Pornos)wie sich konkrete politische Entscheidungen auf das BIP auswirken, ist die Zahl hinter den 3 Buchstaben kein besonders hilfreicher Indikator für unser Wohlbefinden.Es sei denn, wir vergleichen sehr arme Länder mit einem sehr reichen Land wie Deutschland. Vergleichen wir aber das BIP zwischen Deutschland und den Niederlanden, finden wir zwar Unterschiede (auch »pro Kopf«), bekommen aber wenig Einblick in die Zufriedenheit im jeweiligen Land. Der beobachtete Unterschied in der Größe des BIP ist nicht zwangsläufig für mögliche Unterschiede in der Lebensqualität im jeweiligen Land verantwortlich. Sie gewährt nämlich Einsicht in verschiedene Industrien und Bereiche der Wirtschaft mit einem Fokus auf die Produktion. Doch in einem Land, in dem fast 70% der »Produktion« aus Dienstleistungen besteht, lässt sich sicher streiten, wie hilfreich das (noch) ist. Wie zum Beispiel würden wir eine wachsende wirtschaftliche Leistung eines Krankenpflegers oder eines Finanzbeamten messen? Wächst die Wirtschaft wirklich, wenn ein Anwalt sein Gehalt verdoppeln kann oder ein Hedgefonds-ManagerEin Hedgefonds ist ein Investmentfonds, bei dem es vor allem um das Abdecken von Risiken geht. Will ein Unternehmen zum Beispiel deutsche Waren in die USA verkaufen, schwanken seine Einkünfte mit einem schwankenden Wechselkurs zwischen Euro und US-Dollar – auch wenn es jeden Monat die gleiche Anzahl an Waren verkauft. Um dieses Risiko abzudecken, kann es auf diese Schwankungen »wetten«; ein bekanntes Beispiel solcher Wetten sind sogenannte »Optionen«. Wettet das Unternehmen zum Beispiel darauf, dass ein US-Dollar in Zukunft 20% weniger wert sein wird als heute, und der US-Dollar verliert tatsächlich an Wert, gleicht das Unternehmen einen Teil seines Verlusts aufgrund gesunkener Einnahmen durch die Waren aus. Das Abdecken dieser Risiken wird »hedgen« (vom englischen Wort »hedge« für »Hecke«) genannt, daher der Name Hedgefonds. Der Hedgefonds-Manager baut »Hecken« gegen mögliche Verluste durch Risiken wie Wechselkurs-Schwankungen. einen Bonus von 3 Millionen Euro bekommt?

Wie wäre es zum Beispiel mit Einkommensstatistiken, die zeigen, wie der Kuchen wirklich verteilt ist?

Sicher hat das BIP eine Daseinsberechtigung und einen Nutzen, aber müssen wir es wirklich alle 3 Monate messen, um dann über nichts anderes mehr zu sprechen und so seine omnipräsente Rolle zu manifestieren? Jede Erhebung kostet Geld, das auch in die Messung anderer Statistiken fließen könnte, die vielleicht mehr darüber aussagen, wie gut es uns hier in Deutschland geht.Deutschland ist zwar seit knapp 4 Jahren meine Wahlheimat, an der Bundestagswahl darf ich als Niederlänger aber nicht teilnehmen. Das hindert mich nicht daran, mich als Bürger für den Zustand in Deutschland zu interessieren. Wie wäre es zum Beispiel mit Hier schreibt Gastautorin Katharina Lüth über Armut in DeutschlandEinkommensstatistiken, die zeigen, wie der Kuchen wirklich verteilt ist? Mit Gesundheitsindikatoren, die zeigen, »In wessen Händen liegt deine Gesundheit?«, fragt Gastautorin Silke Jäger hierwie gut wir versorgt werden? Oder mit »Packt Informatik in die Schultüte!«, fordert Gastautor Nicolas Rose hierBildungsstatistiken, die darstellen, wo es Handlungsbedarf gibt und Messwerten für Umweltfaktoren, die angeben, wie es um unseren Lebensraum bestellt ist?

Viele Wege führen nach Rom

Wie so etwas aussehen kann, machen andere Länder und Organisationen vor. 3 Beispiele:

  • Großbritannien: Alle 3 Monate erfasst das Vereinigte Königreich eine Der Blog des britischen Office for National Statistics gibt eine Übersicht (englisch, 2017)Übersicht verschiedener Statistiken, bei denen weiterhin wirtschaftliche Kennwerte überwiegen. Hinzu kommt außerdem die jährliche Messung von 43 Indikatoren, Statistik-Dashboard zum nationalen Wohlergehen im Vereinigten Königreich (englisch)die auch subjektive Einschätzungen der Bevölkerung einschließen: Wie zufrieden bist du mit deinem Job? Wie zugehörig fühlst du dich in deiner Wohnumgebung? Wie sicher fühlst du dich, wenn du im Dunkeln spazieren gehst? Eine solche zentrale, umfassende Erhebung gibt es in Deutschland noch nicht.
  • Bhutan: Der kleine Bergstaat zwischen China und Indien hat im Jahr 2008 das Glück seiner Bürger zum Staatsziel ausgerufen. Dafür misst er den Erfolg seiner Politik an 9 FaktorenDazu gehören zum Beispiel Gesundheit, psychisches Wohlergehen und Zeitnutzung. zum sozialen und gesellschaftlichen Wohlergehen. In den Jahren 2010–2015 hat das so gemessene Brutto-Nationalglück in Bhutan zugenommen.
  • Die OECD:Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat 35 Mitgliedstaaten, die sich der Demokratie und Marktwirtschaft verpflichtet fühlen. Die meisten davon gelten als entwickelte Staaten mit hohem Pro-Kopf-Einkommen. Der Sitz ist in Paris. Der internationale Zusammenschluss aus 35 Ländern hat Die Übersicht der OECD findest du hiereine Übersicht mit 11 übergeordneten Faktoren entwickelt, die du selbst gewichten kannst: Wer tut am meisten für die Umwelt? In welchem Land spielt Arbeit die größte Rolle? Je nach Gewichtung ergeben sich unterschiedliche Rangordnungen der erfolgreichsten Länder.

Und was passiert in Deutschland? Im Jahr 2015 ist die Bundesregierung im Land und im Internet »auf Tour gegangen«Bundesweit fanden zwischen April und Oktober 2015 mehr als 200 Bürgerdialoge unter dem Motto »Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist« statt. Zu 50 dieser Diskussionen haben Angela Merkel und die Bundesminister eingeladen; bei rund 100 Dialogen war die Bundesregierung durch 2 Vertreter anwesend. Online und offline konnten Bürger auf einer Website und via Postkarten am Bürgerdialog teilnehmen. Insgesamt haben mehr als 15.500 Menschen mitgemacht. Die wohl bekannteste Szene lieferte die Bundeskanzlerin selbst: »Merkel streichelt« bestimmte tagelang die Schlagzeilen. und hat die Menschen parallel online und vor Ort gefragt, was für sie ein gutes Leben ausmacht. Website »Gut leben in Deutschland« der BundesregierungAus den Ergebnissen hat ein KomiteeDie Auswertungen wurden von der CID GmbH (Anbieter für Datamining-Software), einem Forscherteam der Freien Universität Berlin und einem sechsköpfigen wissenschaftlichen Beirat durchgeführt bzw. unterstützt. aus Regierungsvertretern und Wissenschaftlern insgesamt Hier findest du alle 46 Indikatoren in interaktiver Form46 Indikatoren erstellt. Ein guter Anfang, auch wenn die Zahlen nur alle 4 Jahre gemessen werden und so fraglich ist, wie sehr sie sich im Bewusstsein der Bevölkerung festsetzen werden und die Kampagne über ihren Symbolcharakter hinauskommen wird.

Oder ist ein Reichtum an Zeit wichtiger fürs gute Leben? – Quelle: Rob Bay

Die politischen Entscheidungen hinter den Zahlen

Die Ergebnisse des Komitees zeigen nochmals vor allem eines: Wohlstand und ein gutes Leben lassen sich nicht anhand einer einzigen ZahlAlternativ zusammengesetzte »Einzelzahlen« sind das GPI (Genuine Progress Indicator, also: Indikator echten Fortschritts) und der HDI (Human Development Index, also: Index der menschlichen Entwicklung). Sie berücksichtigen Faktoren aus unterschiedlichen Bereichen wie Bildung und Lebenserwartung. Auch wenn es verlockend ist, den GPI oder HDI als den einen Kennwert zu nutzen, ist unklar, wie sehr die berücksichtigten Einzelfaktoren berücksichtigt werden sollten. Sollte Bildung stärker gewichtet werden als die Lebenserwartung oder umgekehrt? messen. Genau das macht das BIP so verlockend: Es reduziert den Zustand der Gesellschaft auf genau einen Wert. Steigt er, muss es uns besser gehen; sinkt er, sollten wir sicherheitshalber ein paar Vorräte für schlechte Zeiten hamstern.Das letzte Mal empfahl die Bundesregierung das Anlegen von Vorräten im August 2016, allerdings für den Fall einer Katastrophe oder eines bewaffneten Angriffs.

Egal ob eine oder 46 Zahlen – wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die ausgewählten Indikatoren nie frei von Werten und politischer Färbung sind:

  • Wollen wir etwa Bildung in den Zahlenkanon aufnehmen, ist es dann gut, wenn möglichst viele Menschen einen Universitätsabschluss haben? Wenn ja, wo ziehen wir dann die Grenze, sodass der Hausmeister nicht erst promovieren muss, bevor er eine Glühbirne wechseln darf?
  • Wir wollen die Gesundheitsversorgung verbessern? Bedeutet ein gesundes Leben mehr Verbote für Tabak, Alkohol, Zucker und andere Genussmittel? Und wer bestimmt, wo ein »gesunder« Lebensstil aufhört und ein »lebenswerter« beginnt?
  • Wir wollen Familienpolitik mehr Raum geben? Wollen wir dann die klassische Familie mit Vater, Mutter, Kind fördern oder besonders neue Formen des Zusammenlebens?

Bevor du in einem Monat deine 2 Kreuze machst, laden wir dich ein, diese Fragen nach einem guten Leben gemeinsam mit uns zu diskutieren. Statt Wahlversprechen nur anhand unserer Wahrnehmung und unserer Lebenserfahrungen, also aus dem Bauch heraus, einzuschätzen, können uns ein paar Zahlen mehr einerseits dabei helfen, ein ausgewogeneres Bild des ganzen Landes zu bekommen. Andererseits erfahren wir so als Wähler auch, wem und welchem Zweck eine politische Maßnahme langfristig tatsächlich dient.

Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe »Deine Wahl 2017«. Du willst mehr zum Thema lesen? Klicke hier!

Mit Illustrationen von Janina Kämper für Perspective Daily

von Han Langeslag 
Han geht es um Verantwortung, denn unser Handeln hat heute mehr Einfluss auf das globale Geschehen als je zuvor. Sind wir darauf vorbereitet? Wie können wir überhaupt noch eine Übersicht über die komplexen Zusammenhänge bekommen? Fachlich reicht seine Perspektive als Wirtschaftswissenschaftler, Psychologe und Neurowissenschaftler vom Individuum bis hin zum globalen Handelssystem.