Warum eine Zahl nicht ausreicht, um das gute Leben zu messen
3,134 Billionen Euro. So messen wir derzeit den Erfolg unseres Landes. Wirklich wichtig sind uns jedoch ganz andere Dinge. Höchste Zeit, neu zu messen.
Gesund alt werden, mit Freunden im Garten oder Park grillen, eine glückliche Familie und nette Kollegen auf der Arbeit haben. So oder so ähnlich würden sicher die Antworten lauten, wenn dich jemand fragen würde, was für dich ein gutes Leben ausmacht. Oder?
»Ein starkes Wirtschaftswachstum« würden wahrscheinlich die wenigsten auf ihren Wunschzettel packen. Trotzdem bleibt genau das die wichtigste Kennzahl für Politiker und Gesetzgeber, um den Erfolg unseres Landes zu messen: das Wachstum der Wirtschaft eines Landes,
In Zukunft wird sich das ändern. Denn Daten können heutzutage einfacher erhoben werden als je zuvor, sodass Politiker mit nicht gehaltenen Versprechen à la »Ich werde für x% weniger y sorgen« nicht mehr so einfach davonkommen werden (vorausgesetzt, wir lassen uns weniger von Diesel-, Eier- und Plagiatsskandalen ablenken und ziehen sie auch zur Rechenschaft).
Wer hat das größte?
Auch wenn das BIP scheinbar neutral und objektiv daherkommt, ist es wie jede andere Zahl, die gewählt wird, um unsere Gesellschaft zu beschreiben, ein politisch gefärbtes Instrument. »Aber es misst doch ganz objektiv die wirtschaftliche Produktion unseres Landes«, mag der statistisch versierte Befürworter entgegnen. Weit gefehlt: Tatsächlich stand das BIP als messbarer Erfolgsfaktor eines Landes von Beginn an in der Kritik. So würde sein geistiger Vater,
vieles, was heute in die Statistik eingeschlossen wird, nicht mit aufnehmen: sowie fließen heute ins BIP mit ein – hatten für ihn aber nichts in der Erfolgskennzahl eines Landes verloren.Ist das BIP nicht gewachsen, ist Flaute angesagt.
Weiter geht es mit der versteckten Forderung, die im BIP mitschwingt: Es muss immer steigen. Der Statistik selbst ist es zwar egal, in welche Richtung es für sie geht. Doch das Wachstum dieser Zahl ist trotzdem zum wichtigsten Staatsziel geworden. Politiker arbeiten sich in ihren Wahlversprechen am So betont beispielsweise Peter Altmaier den »Mehrwert des Wachstums« (2016)»notwendigen Wachstum« ab und jedes Kind weiß durch die einschlägige Berichterstattung: Ist das BIP nicht gewachsen, ist Flaute angesagt. Ist es sogar mehrmals hintereinander gesunken, macht sich Panik breit. Alle reden von Ist es hingegen gestiegen, sehen die Politiker das gern als ihren Verdienst an.

Abgesehen davon, dass völlig unklar ist, Warum der Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität so wichtig ist, beschreibt Maren Urner hier (anhand von Pornos)wie sich konkrete politische Entscheidungen auf das BIP auswirken, ist die Zahl hinter den 3 Buchstaben Sie gewährt nämlich Einsicht in verschiedene Industrien und Bereiche der Wirtschaft mit einem Fokus auf die Produktion. Doch in einem Land, in dem fast 70% der »Produktion« aus Dienstleistungen besteht, lässt sich sicher streiten, wie hilfreich das (noch) ist. Wie zum Beispiel würden wir eine wachsende wirtschaftliche Leistung eines Krankenpflegers oder eines Finanzbeamten messen? Wächst die Wirtschaft wirklich, wenn ein Anwalt sein Gehalt verdoppeln kann oder ein einen Bonus von 3 Millionen Euro bekommt?
Wie wäre es zum Beispiel mit Einkommensstatistiken, die zeigen, wie der Kuchen wirklich verteilt ist?
Sicher hat das BIP eine Daseinsberechtigung und einen Nutzen, aber müssen wir es wirklich alle 3 Monate messen, um dann über nichts anderes mehr zu sprechen und so seine omnipräsente Rolle zu manifestieren? Jede Erhebung kostet Geld, das auch in die Messung anderer Statistiken fließen könnte, die vielleicht mehr darüber aussagen, Hier schreibt Gastautorin Katharina Lüth über Armut in DeutschlandEinkommensstatistiken, die zeigen, wie der Kuchen wirklich verteilt ist? Mit Gesundheitsindikatoren, die zeigen, »In wessen Händen liegt deine Gesundheit?«, fragt Gastautorin Silke Jäger hierwie gut wir versorgt werden? Oder mit »Packt Informatik in die Schultüte!«, fordert Gastautor Nicolas Rose hierBildungsstatistiken, die darstellen, wo es Handlungsbedarf gibt und Messwerten für Umweltfaktoren, die angeben, wie es um unseren Lebensraum bestellt ist?
Wie wäre es zum Beispiel mitViele Wege führen nach Rom
Wie so etwas aussehen kann, machen andere Länder und Organisationen vor. 3 Beispiele:
- Großbritannien: Alle 3 Monate erfasst das Vereinigte Königreich eine Der Blog des britischen Office for National Statistics gibt eine Übersicht (englisch, 2017)Übersicht verschiedener Statistiken, bei denen weiterhin wirtschaftliche Kennwerte überwiegen. Hinzu kommt außerdem die jährliche Messung von 43 Indikatoren, Statistik-Dashboard zum nationalen Wohlergehen im Vereinigten Königreich (englisch)die auch subjektive Einschätzungen der Bevölkerung einschließen: Wie zufrieden bist du mit deinem Job? Wie zugehörig fühlst du dich in deiner Wohnumgebung? Wie sicher fühlst du dich, wenn du im Dunkeln spazieren gehst? Eine solche zentrale, umfassende Erhebung gibt es in Deutschland noch nicht.
- Bhutan: Der kleine Bergstaat zwischen China und Indien hat im Jahr 2008 das Glück seiner Bürger zum Staatsziel ausgerufen. Dafür misst er den Erfolg seiner Politik an zum sozialen und gesellschaftlichen Wohlergehen. In den Jahren 2010–2015 hat das so gemessene Brutto-Nationalglück in Bhutan zugenommen.
- Die Die Übersicht der OECD findest du hiereine Übersicht mit 11 übergeordneten Faktoren entwickelt, die du selbst gewichten kannst: Wer tut am meisten für die Umwelt? In welchem Land spielt Arbeit die größte Rolle? Je nach Gewichtung ergeben sich unterschiedliche Rangordnungen der erfolgreichsten Länder. Der internationale Zusammenschluss aus 35 Ländern hat
Und was passiert in Deutschland? Im Jahr 2015 ist die Bundesregierung im Land und im Internet Website »Gut leben in Deutschland« der BundesregierungAus den Ergebnissen hat aus Regierungsvertretern und Wissenschaftlern insgesamt Hier findest du alle 46 Indikatoren in interaktiver Form46 Indikatoren erstellt. Ein guter Anfang, auch wenn die Zahlen nur alle 4 Jahre gemessen werden und so fraglich ist, wie sehr sie sich im Bewusstsein der Bevölkerung festsetzen werden und die Kampagne über ihren Symbolcharakter hinauskommen wird.
und hat die Menschen parallel online und vor Ort gefragt, was für sie ein gutes Leben ausmacht.
Die politischen Entscheidungen hinter den Zahlen
Die Ergebnisse des Komitees zeigen nochmals vor allem eines: Wohlstand und ein gutes Leben lassen sich nicht
messen. Genau das macht das BIP so verlockend: Es reduziert den Zustand der Gesellschaft auf genau einen Wert. Steigt er, muss es uns besser gehen; sinkt er, sollten wirEgal ob eine oder 46 Zahlen – wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die ausgewählten Indikatoren nie frei von Werten und politischer Färbung sind:
- Wollen wir etwa Bildung in den Zahlenkanon aufnehmen, ist es dann gut, wenn möglichst viele Menschen einen Universitätsabschluss haben? Wenn ja, wo ziehen wir dann die Grenze, sodass der Hausmeister nicht erst promovieren muss, bevor er eine Glühbirne wechseln darf?
- Wir wollen die Gesundheitsversorgung verbessern? Bedeutet ein gesundes Leben mehr Verbote für Tabak, Alkohol, Zucker und andere Genussmittel? Und wer bestimmt, wo ein »gesunder« Lebensstil aufhört und ein »lebenswerter« beginnt?
- Wir wollen Familienpolitik mehr Raum geben? Wollen wir dann die klassische Familie mit Vater, Mutter, Kind fördern oder besonders neue Formen des Zusammenlebens?
Bevor du in einem Monat deine 2 Kreuze machst, laden wir dich ein, diese Fragen nach einem guten Leben gemeinsam mit uns zu diskutieren. Statt Wahlversprechen nur anhand unserer Wahrnehmung und unserer Lebenserfahrungen, also aus dem Bauch heraus, einzuschätzen, können uns ein paar Zahlen mehr einerseits dabei helfen, ein ausgewogeneres Bild des ganzen Landes zu bekommen. Andererseits erfahren wir so als Wähler auch, wem und welchem Zweck eine politische Maßnahme langfristig tatsächlich dient.
Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe »Deine Wahl 2017«. Du willst mehr zum Thema lesen? Klicke hier!
Mit Illustrationen von Janina Kämper für Perspective Daily