Wut und Schmerz spalten. Doch sie können auch vereinen
Mit Emotionen lassen sich Wahlen gewinnen, auch auf Zypern, einer geteilten Insel, geprägt von einem jahrzehntelangen Konflikt. Doch jetzt erobern manche die Deutungshoheit über ihren Schmerz zurück – und blicken nach vorn.
Nikosia, Zypern. Muge Beidoglu geht auf das Grab ihres Vaters zu. Auf der abgetrennten und leicht erhöhten Sektion des Friedhofs stechen die Gedenksteine hervor. Nicht durch ihre Einzigartigkeit. Sondern deshalb, weil alle gleich aussehen: ein Kasten aus weißem Marmor, mit Kieselsteinen befüllt.
Muge, eine 60-Jährige mit silbrigem Haar und olivenfarbenem Teint, hat 5 Blumensträuße dabei. Den ersten legt sie auf das Grab ihres Vaters Ertugrul. Nach und nach stellt sie die restlichen Sträuße in die Vasen der Nachbargräber. So wie jeden Monat. Die anderen Toten kennt Muge nicht. Doch sie teilen dasselbe Schicksal wie ihr Vater: Ihre Überreste wurden erst Jahrzehnte nach ihrem Tod gefunden. Alle in demselben Massengrab, in dem ihre Körper im Jahr 1964 verscharrt wurden.
Schon ein Jahr zuvor eskaliert auf der Mittelmeerinsel erstmals die Gewalt. Während nationalistische, orthodoxe Zyperngriech:innen eine Vereinigung mit Griechenland anstreben, will die Gegenbewegung der muslimischen Zyperntürk:innen ein ethnisch einheitliches und unabhängiges Nordzypern. 1974 folgt eine zweite Welle der Gewalt, nachdem Griechenland gegen die damalige Regierung Zyperns geputscht hat, um die angestrebte Angliederung zu erreichen. Als Reaktion schickt die Türkei Militär und besetzt den nördlichen Teil der Insel. Zyperngriech:innen fliehen in den Süden, Zyperntürk:innen in den Norden – ein Leben in gemischten Gemeinden scheint
Seitdem trennt eine 180 Kilometer lange »Grüne Linie« die beiden Gruppen. Dazwischen liegt eine Pufferzone, die bis heute von UN-Soldat:innen bewacht wird.
In jener Zeit morden nationalistisch gesinnte Menschen auf beiden Seiten. Viele Opfer werden in anonyme Gräber geworfen, um Spuren zu verwischen. Für die Angehörigen verschwinden sie – auf dem Weg ins Nachbardorf oder bei der Arbeit, so wie Muges Vater; andere bei militärischen Einsätzen. Der Konflikt führt zu mehr als 2.000 vermissten Personen.
Uneindeutige Verluste
Nicht alle können deshalb nach dem Ende der Gewalt auf Zypern um ihre Verstorbenen trauern.
Die Zyperntürkin Muge ist erst ein Jahr alt, als ihr Vater verschwindet. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter unter der Ungewissheit leidet – Jahrzehnte später noch: »An ihrem 70. Geburtstag hatten wir eine Überraschungsparty organisiert. Als meine Mutter alle Freunde und Verwandten am Tisch sitzen sah, war das erste, was sie fragte, ob man ihren toten Mann gefunden hätte.«
Dieses Leid nutzen die Regierungen auf beiden Seiten der Trennlinie in den Jahren nach dem Konflikt, um ihren Nationalismus zu befeuern. Doch es gibt auch Menschen, die sich Versöhnung wünschen – und eine Wiedervereinigung. Sie kritisieren die Worte der Spaltung, die sie von ihren Politiker:innen hören. So sagt der Zyperngrieche Christos Efthymiou, dessen Bruder zu den vermissten Personen gehört: »Witwen, Kinder und Mütter von Vermissten wurden zu öffentlichen Veranstaltungen eingeladen, um ihre Geschichte zu erzählen. Doch weder wurde nach den Vermissten gesucht noch nach Antworten auf die Fragen der Angehörigen. Es ging nur darum, zu zeigen, was die Türken und die Zyperntürken uns alles angetan hatten.«
Die Zeit heilt nicht. Antworten tun es
Sevgul Uludag erfährt zum ersten Mal von den vermissten Personen, als ein Freund im Jahr 2001 vom Verschwinden seines Vaters erzählt. Die Journalistin ist überrascht, denn die türkisch-zypriotische Gemeinschaft hat bisher über die Vermissten geschwiegen. Offiziell wurde immer nur von »Märtyrern« gesprochen. »Das erlaubte den Autoritäten, den Schmerz der Angehörigen nach ihren politischen Richtlinien zu nutzen«, erklärt die Journalistin heute. Ein Märtyrernarrativ und symbolisch errichtete, gleich gestaltete Gräber reichen, um nationalistische Gefühle zu befeuern.
Sevgul beginnt, mehr über die vermissten Personen zu recherchieren. Als 2003 mit Blick auf den EU-Beitritt Zyperns die Trennlinie zwischen Nord und Süd geöffnet wird, kann sie endlich auf die andere Seite. Dort beginnt sie, auch Geschichten der griechisch-zypriotischen Gemeinde zu sammeln. Sie schreibt eine Artikelserie und veröffentlicht ein Buch über die Vermissten und deren Angehörige, gibt sowohl griechisch- als auch türkisch-zypriotischen Perspektiven eine Stimme. Der Tabubruch führt dazu, dass ihr nationalistische Gruppen drohen. Doch sie erhält auch zahlreiche Auszeichnungen, darunter eine Nominierung für den Friedensnobelpreis.
Das Revolutionäre ihrer Arbeit ist dabei eine simple Wahrheit, die sie damals beschreibt und heute so ausdrückt: »Ich habe gezeigt, dass der Schmerz der Angehörigen vermisster Personen nicht griechisch oder türkisch ist. Sondern menschlich.«
Ich habe gezeigt, dass der Schmerz der Angehörigen vermisster Personen nicht griechisch oder türkisch ist. Sondern menschlich
Bis heute läuft ihre Artikelserie »Zypern – unerzählte Geschichten« weiter. Darin lässt sie abwechselnd Angehörige von vermissten Personen der griechisch-zypriotischen und der türkisch-zypriotischen Gemeinschaft zu Wort kommen.
Ihr über 20-jähriges Bemühen, die Verbrechen der Vergangenheit ans Licht zu bringen, haben die heute 65-Jährige gezeichnet. Auf Nachfragen zur Konfliktgeschichte, die sie als voreingenommen erachtet, reagiert sie harsch. Doch sie hat es wohl ihrem unnachgiebigen Charakter zu verdanken, dass sie so erfolgreich ist und damit etlichen Familien in Zypern helfen konnte.
Auch Muge liest Sevguls Geschichten. »Das war für mich ein Wendepunkt«, sagt sie. Vorher wusste sie nicht, dass Zyperngriech:innen ebenso Angehörige vermissen. Denn wie viele auf der geteilten Insel, wächst Muge isoliert von der Nachbargemeinschaft auf. Muge ist eine bedachte Frau. Bevor sie spricht, richtet sie den Blick in die Ferne, denkt über das nach, was sie sagen will. »Mir wurde zum ersten Mal klar, dass auch im Süden normale Menschen leben und dass sie dasselbe Leid fühlen wie ich.«
Angehörige der Vermissten beginnen, sich Sevgul anzuvertrauen, erzählt die Journalistin. »Die Menschen haben gesehen: Ich arbeite nicht für die Polizei oder die Autoritäten und ich bin keine Politikerin. Ich mache das rein als humanitäre Aufgabe. Ich will Frieden für diese Insel.«
Sevgul richtet 2 Hotlines für die Gemeinden ein. Hier können sich Augenzeug:innen melden und helfen, die Gräueltaten aufzuklären. »Ich sagte: Ich will nicht eure Namen wissen. Sagt mir nur, was ihr über die Vermissten wisst, was passiert ist, und wo sie begraben sein könnten.« Sie erhält Tausende Anrufe, wie sie erzählt.
Die Hinweise leitet Sevgul an das
Im Jahr 2007 klingelt schließlich bei Muge zu Hause das Telefon. Die lang erwartete Nachricht: Ihr Vater wurde geborgen. Man fand den Hochzeitsring, konnte ihn sofort identifizieren. Selbst seine Auto- und Hausschlüssel waren noch bei ihm.
So kann die Familie
Muge will nicht nur ihrem Vater den verdienten Frieden schenken, sondern auch ihrer Heimat, der bis heute geteilten Insel. »Ich habe eine Rede auf der Trauerfeier gehalten, die nicht alle gut fanden. Sie wollten, dass ich nationalistische und patriotische Dinge sage. Ich habe mich aber für einen versöhnlichen Ton entschieden.«
Der anderen Seite die Hand ausstrecken? Das ist für viele Menschen der konfliktgezeichneten Gesellschaft unverzeihlich. Noch mehr, wenn es ein Angehöriger einer vermissten Person, »eines Märtyrers«, tut. Gerade sie sollten doch hassen. Und doch entscheiden sich viele von ihnen, mit der anderen Seite zu reden.
Ein buntes Pflaster auf der tiefsten Wunde Zyperns
Nikosia ist heute die letzte geteilte Hauptstadt der Welt. Hört man vom Norden her den Muezzin rufen, läuten südlich der Stadt die Glocken. Mitten durch den alten Kern zieht sich die UN-Pufferzone wie eine offene Wunde. Stacheldraht umgibt sie, Schusslöcher klaffen noch in den bröckelnden Hausfassaden. Hier darf niemand wohnen, nur die Checkpoints überqueren, um auf die andere Seite zu gelangen.
Doch engagierte Zypriot:innen haben begonnen, an diesem tristen Fleck ein buntes Pflaster auf die Wunde zu kleben. Seit 2011 dient das
Sevguls Arbeit hat die Begegnung von Christos und Muge möglich gemacht. Christos ruft daraufhin die
Die Gruppe macht da weiter, wo das »Komitee für die Vermissten« aufhört. Denn die Organisation klärt die Hintergründe der Verbrechen nicht auf, sie bringt keine Menschen zusammen. Die Überreste zu finden, sei zwar ein Schlüsselerlebnis, wie Christos sagt: »Denn es gibt dir endlich Klarheit, ermöglicht eine Beerdigung. Erst dann kann ein Heilprozess beginnen.«
Doch er, Muge und die anderen Mitglieder von »Together we can« wünschen sich mehr. Sie wollen konkretere Antworten.
Seit einem halben Jahr ist auch Muge bei der Gruppe aktiv. Sie spürt, dass es ihre Verantwortung ist. Nicht als Angehörige eines Opfers, sondern als Überlebende. Das Leid, das sie und ihre Familie erfahren haben, soll die Insel nicht spalten. Im Gegenteil: »Ich wünsche niemandem, dass er das durchmachen muss, was wir durchgemacht haben. Und genau deshalb haben wir auch die Verantwortung, unsere Zukunft so zu gestalten, dass Versöhnung und Frieden möglich sind.«
Diese Reportage erschien zuerst bei der Frankfurter Rundschau und wurde durch ein Recherchestipendium der Karl-Gerold-Stiftung ermöglicht.
Titelbild: Sevgul Uludag - copyright