Was wird mehr, wenn wir es teilen?
Wissen! Deshalb nutzt diese inspirierende Frau ihre Lebenserfahrung, um auch anderen Frauen in Uganda ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sie sagt: »So gewinne ich nur.«
Mein Name ist Collen Clever Orishaba, ich bin 32 Jahre jung. Ich komme aus Uganda, aus einem Bezirk namens Kabale im Südwesten des Landes. Das Dorf, in dem ich geboren wurde, liegt in der Nähe des Bunyonyi-Sees und erstreckt sich über 3 Berge. Rund 500 Menschen leben dort.
Wir sind 9 Geschwister, 4 Schwestern und 5 Brüder.
Wenn Collen Orishaba redet, kann man ihr stundenlang zuhören. Ihre Stimme ist sanft und kraftvoll zugleich. Sie spricht geradeheraus, lacht und weint vor der Laptopkamera, während sie von ihrer Kindheit in Uganda erzählt, dem Tod ihrer Mutter, ihrer Freundschaft mit Lisa, die ihr ganzes Leben verändert hat. Und von ihrer Vision: ein großes Ausbildungszentrum in ihrer Gemeinde in Uganda, vor allem für Frauen und Mädchen. Es soll ihnen ein selbstbestimmtes, unabhängiges und angenehmes Leben ermöglichen, so wie es Collen Orishaba selbst führen kann. Die Ausbildung in dem geplanten Zentrum soll ihre sonst oft ungehörten Stimmen lauter werden lassen, damit Mädchen und Frauen mehr Einfluss auf ihre Lebensgestaltung und Gesellschaft nehmen können.
Lisa Nöckel, die Teil von Collen Orishabas Geschichte ist, reiste 2008 nach ihrem Abitur für einige Monate mit einer Freiwilligenorganisation an den Bunyonyi-See nach Uganda, um Menschen vor Ort im Schwimmen zu unterrichten. Von Heimweh geplagt, traf sie dort auf Collen Orishaba. Die Freundschaft sollte Nöckel in den kommenden 16 Jahren noch oft nach Uganda und Collen Orishaba nach Europa bringen. Im August 2024 haben sich die beiden zuletzt bei Nöckels Familie in Brüssel getroffen, kurz nachdem sie Kontakt mit mir aufgenommen hatten, um ihre Geschichte zu teilen.
Collen Orishabas Lebensweg ist schwer, aber voller Kraft und Zuversicht auf eine bessere Zukunft.
Kannst du Zucker im Tee trinken?
»Meine Familie stammt aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Trotzdem konnte ich im Alter von 6 Jahren zur Schule gehen. Es gab keine Transportmittel und so bin ich jeden Morgen zu Fuß den Hügel hinaufgelaufen, um zur Schule zu kommen. Wenn ich Zeit hatte, ging ich zum Mittagessen wieder hinunter und zum Nachmittagsunterricht wieder hinauf. Auf dem Heimweg am Abend ging ich am Wald vorbei, um Brennholz für das Abendessen zu sammeln.
Mir gefällt, dass ich in einem afrikanischen Umfeld aufgewachsen bin –
Ich ging zu meiner Tante, als ich 8 Jahre alt war – jedoch nicht aus freien Stücken. Sie hat mich eingefordert. Ich sollte für sie als Dienstmädchen arbeiten – auf ihre Söhne aufpassen und im Haushalt helfen –, während ich dort zur Schule gehen konnte. Zuerst hatte sie nach meiner älteren Schwester gefragt, doch das hatte nicht funktioniert, also lag es an mir, die Aufgabe zu übernehmen. Ich ging frohen Mutes zu ihr. Nicht weil ich mich auf die Zeit dort freute, sondern wegen des Essens. Meine Tante hatte verschiedene Lebensmittel, auch Brot und Zucker. Wenn Menschen in Uganda Tee mit Zucker trinken, zeigt das, dass es ihnen finanziell gut geht.«
»Ich weiß nicht, was ein Dienstmädchen in Europa macht, aber in Uganda bedeutet es, als Dienerin einer Familie zu arbeiten. Ich musste früh aufstehen, Gemüse aus dem Garten und Wasser aus dem See holen, Frühstück zubereiten, das Haus putzen und die Jungen für die Schule fertig machen, meiner Tante die Haare und die Bettwäsche waschen. Dann ging ich zum Unterricht. Abends musste ich die Ziegen von dort holen, wo ich sie am Morgen hatte grasen lassen, und meine Arbeit fortsetzen. Die Arbeit hörte nie auf. Ich meldete mich immer bei meiner Mutter, die mir sagte, ich solle geduldig sein – und ich überstand es.«
Schau, da ist die Tochter von David, die mit Weißen arbeitet
»Zu dieser Zeit entdeckte ich das Schwimmen für mich. Immer wenn ich mit der Familie Benzinkanister voll Wasser fürs Kochen, Trinken und Waschen am See geholt habe, probierte ich mich aus. Meinem Vater gefiel das gar nicht. Denn jeden Tag hörte man, dass Kinder und Erwachsene ertranken – meine Altersgenossen, Cousins und Cousinen, Familienmitglieder. Ich selbst wäre 2-mal fast ertrunken.
Eines Tages bekam ich zufällig die Gelegenheit, an Schwimmkursen teilzunehmen, die von einer Freiwilligenorganisation angeboten wurden. Die Menschen kamen aus den USA, Kanada und Europa. Ich lernte schnell und nahm an allen Schwimmwettbewerben teil. Ich denke, die Trainer mochten mich. Mit 14 Jahren haben sie mich als assistierende Schwimmlehrerin eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit der Grundschule fertig und wohnte immer noch bei meiner Tante. Ich besuchte die weiterführende Schule auf der gleichen Insel.
Nach der Schule, an fast jedem Wochenende und an Feiertagen habe ich Schwimmunterricht gegeben. So konnte ich meine Familie und mich finanziell über Wasser halten. Ich war die einzige Schwimmlehrerin und arbeitete mit 3 großen Männern zusammen. Sie waren weit über 30 Jahre alt. Die Bezahlung war mickrig: weniger als einen halben US-Dollar pro Tag, etwa 11 US-Dollar für einen Monat. Trotzdem verdiente keines meiner Familienmitglieder so viel Geld wie ich. Immerhin konnte es das Allernötigste des täglichen Lebensbedarfs meiner Familie und meine Schulkosten decken.«
»Während meiner Zeit als Schwimmlehrerin wurde ich in meiner Gemeinde beliebt, weil ich Englisch sprach und mit Weißen arbeitete. Ich wurde als ›die Tochter von David, die mit Weißen arbeitet‹ bekannt. Von 2008 bis 2011 half ich bei der Organisation vieler Schwimmwettbewerbe in der Region und brachte unzähligen Kindern und Erwachsenen das Schwimmen bei, sodass mich jeder kannte.«
Das Treffen mit Lisa: Eine Freundschaft, die Leben verändert
»Damals lernte ich auch Lisa kennen. Wir waren die einzigen 2 Mädchen, die Schwimmen unterrichteten. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum wir uns so schnell angefreundet haben. Wir wuchsen zusammen, führten tiefe Gespräche, öffneten uns und teilten alles miteinander. Lisa besuchte meine Familie und wir teilten unser Essen mit ihr.
Die Zeit, die wir zusammen verbrachten, verging viel zu schnell. Doch als sie ging, ließ sie mir einen Brief zurück. In ihm befand sich eine Nachricht, eher ein Versprechen, und Geld. In dem Brief versprach sie mir, dass sie meinen Traum vom Studieren unterstützen will – und das tut sie bis heute, 16 Jahre später. Sie und ihre Familie haben mir mein Studium ermöglicht und sie haben nie Anforderungen daran gestellt, was ich studieren soll oder wie ich das Geld auszugeben habe. Manchmal kann ich es gar nicht richtig glauben.
Rückblickend ist es lustig, wie wir kommuniziert haben. Heute schreiben wir Whatsapp-Nachrichten, aber damals hatte ich weder Smartphone noch Laptop, nicht einmal einen E-Mail-Account. Es ging alles über meinen Schwager, den Mann meiner Schwester. Lisa schickte ihre E-Mails an ihn. Er druckte sie aus und schickte sie zu mir. Meine Antworten schrieb ich ihm auf ein Papier, damit er sie in einem Internetcafé in der Stadt in eine E-Mail abtippen konnte. Es war ein langer Prozess, doch es hat funktioniert!
Als Lisas Vater mich wie sein eigenes Kind akzeptiert hat, begann sich mein Leben zu verändern. Ich fing an, mich in der Schule wohlzufühlen, weil ich wusste, dass die Schulgebühren und meine Schulbücher bezahlt waren. Nun war meine Zeit, zu lernen.
Wenn das Schuljahr begann, sagte meine Mutter immer zu mir: ›Collen, vergiss nicht, wo du herkommst. Alle Augen sind auf dich gerichtet. Du bist unsere Botschafterin, du bist unser Licht. Benimm dich.‹ Wenn Eltern das sagen, meinen sie damit: Lass dich nicht mit Jungs ein und werde nicht schwanger. Oft dürfen Mädchen aus Sorge davor nicht zur Schule gehen. In meiner Sekundarschule haben sich sehr viele betrunken, sind schwanger geworden oder haben sich mit HIV angesteckt. Manche haben die Schule abgebrochen oder sind ertrunken. Aber ich nicht: Ich habe fleißig gelernt, hatte nie einen Freund. Meine Mutter war stolz auf mich, wenn ich am Ende des Schuljahres nach Hause kam, sie hatte ein breites Lächeln im Gesicht.«
»Meine Mutter starb viel zu früh, weil wir so arm waren«
»Ich habe meine Mutter geliebt, aber sie war immer krank. Wir wussten nie, was es war, weil wir nicht das Geld hatten, sie zu einem richtigen Arzt oder ins Krankenhaus zu bringen. Ich ging häufig in die Kirche und betete für ihre Genesung. Um es kurz zu machen: Wir wussten nicht, dass es Krebs ist, bis es zu spät war. Meine Mutter starb viel zu früh, weil wir so arm waren. Mein Vater konnte es sich nicht leisten, sie ins Krankenhaus zu bringen, um zu sehen, warum sie Schmerzen hatte.«
»Als meine Mutter starb, war ich bei ihr im Krankenhaus. Ich habe mich neben sie gelegt und versucht, sie zu wärmen, weil sie so kalt war. Aber meine Wärme war nicht genug. Ich wollte ihr einen Tee kochen, aber sie konnte nicht schlucken. Ich habe ihr Fisch gekauft, sie mochte Fisch, aber sie konnte ihn nicht essen. Ich hielt ihren Kopf, um es ihr bequemer zu machen, und sah, wie sie sich entspannte. ›Vielleicht war sie es leid, eine bequeme Position zu finden‹, dachte ich. Ich wusste nicht, dass es ihr letzter Atemzug war.
Der schlimmste Moment war, als ich sah, wie die Leute einen Sack mit Reißverschluss öffneten und meine Mutter hineinlegten. ›Darin hat sie keinen Platz zum Atmen‹, dachte ich mir. Sie brachten sie sehr schnell zum Friedhof. Es ist traurig, zu sagen: Meine Mutter ist einer der wenigen Menschen, die schön begraben sind. Sie hat ein richtiges Grab aus Backsteinen, das ist eine Ehre. Danach habe ich unser Haus gehasst, konnte dort nicht mehr hingehen und habe den Glauben verloren. Ich habe nicht verstanden, warum Gott meine Mutter nicht gerettet hat.
Der Tod meiner Mutter hat mich jedoch nicht geschwächt, sondern meine Entschlossenheit gestärkt: Meine Vision ist es, ein kommunales Ausbildungszentrum in Uganda zu eröffnen, insbesondere für Mädchen und Frauen. Für meine Gemeinde und alle, die daran interessiert sind, Wissen und Fähigkeiten zu erlernen, die ihr Leben verändern können. Ich will, dass Mädchen und Frauen die Wahl haben, unabhängiger zu werden. Sie sollen in der Lage sein, mit ihren eigenen Anstrengungen genug Geld zum Leben zu verdienen, und nicht auf einen Mann warten müssen, der zur Schule gegangen ist und von dessen Entscheidungen sie abhängig sind.«
Soll ich Ärztin oder Künstlerin werden?
»Nach der Sekundarschule bin ich nach Kampala, in die Hauptstadt Ugandas gezogen, um Kunst zu studieren. Ich stellte mich immer als ›Collen, die Schwimmlehrerin‹ vor. So erhoffte ich mir, noch vielen Menschen das Schwimmen beizubringen und einige Jobs zu bekommen. Das hat gut funktioniert. Es war eine sehr arbeitsreiche Zeit. Später habe ich mit anderen ugandischen Künstlern und Künstlerinnen an Wettbewerben teilgenommen, meine Bilder verkauft und sogar als Vizepräsidentin des Arterial Network Uganda kandidiert. Es war schwer, aber ich habe gewonnen. Seit 2022 vertrete ich nun ganz Ostafrika im gesamtafrikanischen
Es war meine Mutter, die mich dazu inspirierte, Kunst zu studieren. Sie hat tagsüber auf dem Feld gearbeitet, abends und nachts hat sie Körbe geflochten. Diese verkaufte sie an Touristen, die am See zu Besuch kamen. Sie war eine Künstlerin, so hat sie unsere Familie unterstützt. Ich habe von ihr gelernt, und während meines Studiums habe ich noch viel mehr gelernt: Jetzt kann ich weben, drucken, Plakate gestalten, Gebäude bemalen, Skulpturen und Stoffe herstellen.
Als ich klein war, dachte ich, ich wolle Ärztin werden. Aber das ist ein Handwerk, das man nicht so einfach weitergeben kann. Natürlich hilft man Menschen, aber wie soll man jemandem, der noch nie zur Schule gegangen ist, medizinisches Fachwissen vermitteln? Kunst zu studieren, war die beste Entscheidung, die ich getroffen habe. Denn die Fähigkeiten, die ich erlerne, kann ich an meine Gemeinschaft weitergeben. Es ist ein Handwerk, das Frauen und Mädchen, deren Stimmen nicht gehört werden, schnell erlernen können, um unabhängiger zu werden. Für mich ist wichtig: Ich studiere für mich und meine Gemeinschaft.«
Wenn die Vision langsam zur Realität wird
»Die ersten Schritte, um meine Vision eines kommunalen Ausbildungszentrums zu verwirklichen, sind bereits gegangen. Im Jahr 2022 habe ich einen Geschäftspartner aus Indien gefunden, der für die Vereinten Nationen arbeitet und sich für die Ausbildung von Kindern an der Elfenbeinküste einsetzt. Ich habe bereits einen strategisch guten Platz für das Ausbildungszentrum im Auge. Es handelt sich um ein 4 Hektar großes Stück Land auf einer Halbinsel in der Nähe meines Dorfes. Das Land wird von einem ehemaligen ugandischen Minister verkauft. Ich habe ihn kurzerhand in seinem Büro in Kampala besucht, von meiner Idee erzählt und den Verkaufspreis etwas heruntergehandelt. Wir haben schon letztes Jahr eine große Anzahlung geleistet. Momentan konzentriere ich mich auf mein Studium. Im Jahr 2025 werde ich es abschließen. Danach versuche ich, das restliche Geld aufzubringen, damit wir mit dem Bau loslegen können.
Außerdem habe ich 2018 bereits etwas Land gekauft, auf dem ich Bäume gepflanzt habe. Darauf können Häuser gebaut werden. Denn insgeheim erwarte ich, dass Menschen aus verschiedenen Ländern zum Ausbildungszentrum kommen! Sei es zum Lernen oder für Freiwilligenarbeit, wie pensionierte Professoren und Professorinnen. Hier an der Universität Bergen, wo ich momentan studiere, unterrichten Professoren im Ruhestand aus Leidenschaft, einfach weil sie Freude daran haben. Wissen geht nicht verloren, sobald man im Ruhestand ist. Sie können es gerne auch an meine Gemeinde weitergeben.
Schau, dort ist Collens Vater
»Wenn ich jetzt in mein Dorf zurückkehre, sagen die Leute nicht mehr ›Seht mal, Davids Tochter ist wieder da‹. Alle nennen mich bei meinem Namen – aus ›Davids Tochter‹ wurde nun ›Collens Vater‹.
Wenn ich zurückkomme, gehe ich nun nicht mehr in ein Haus ohne Dach, in dem dich der Regen nachts wachhält, weil du nass wirst. In dem du auf dem Weg zum Bett gegen einen Kochtopf läufst, sobald das Feuer aus ist. Ich komme zurück in ein stabiles Backsteinhaus mit einem Dach, einem Schloss an der Eingangstür und elektrischem Licht bei Nacht. Wir haben eine kleine 35-Watt-Solaranlage vor dem Haus. Unsere Nachbarn und Nachbarinnen reihen sich abends in einer Schlange ein, um einmal die Woche kostenlos ihr Smartphone aufladen zu können.«
»Ob mich das stolz macht? Nein. Ich bin glücklich und traurig zugleich. Glücklich, dass ich so weit gekommen bin, und traurig, weil ich mich frage: Warum bin ich die Einzige? Wenn mindestens 5 Frauen die Chance bekämen, so zu studieren wie ich, hätten wir 5 weitere Backsteinhäuser mit Solaranlage und Dach, damit die Leute keine Angst haben müssen, nachts nass zu werden. Ich mache das, was ich mache, damit unser Haus nachts nicht das einzige helle Haus bleibt. Damit Frauen nicht mehr für andere die Felder umgraben müssen, um mit Lebensmitteln bezahlt zu werden. Das ist eine sehr anstrengende Arbeit, die die Ärmsten der Armen machen.
Wenn ich mein Wissen mit jemandem teile, verliere ich nichts, ich gewinne nur – Zufriedenheit und ein besseres Leben für alle.«
Collen Orishaba lebensbejahende Art und Entschlossenheit sind ansteckend. »Mich hat Collen gleich in den Bann gezogen«, erinnert sich Lisa Nöckel. »Meine Eltern auch.« Lange hatte Nöckel überlegt, wie sie ihre Freundin am nachhaltigsten unterstützen und am meisten bewirken kann. Genau die gleiche Frage stellt sich Collen Orishaba für die Menschen in ihrer Gemeinschaft. Beide haben eine ähnliche Antwort gefunden: Indem man es Menschen ermöglicht, ihr eigenes Leben zu gestalten.
Titelbild: Maximilian Rosch - copyright