Muss dein Wahlkreis ins Sauerstoffzelt?
In Münster ist die Wahlbeteiligung um 20 Prozentpunkte höher als im bayerischen Straubing. Woran liegt das? Eine Spurensuche.
Die Perspective-Daily-Redaktion sitzt in einer Stadt, die man als Leuchtturm der Demokratie bezeichnen kann. Zumindest dann, wenn man sich an der Wahlbeteiligung orientiert: 78,5% der Bürger gaben in Münster bei den letzten Bundestagswahlen ihre Stimme ab. Im Jahr 2013 war das bundesweiter Rekord. »Wahlen machen den Kern unserer Demokratie aus«, steht
die Beteiligung daran ist »ein guter Indikator für das politische Interesse der Menschen«. Den Münsteranern liegt offenbar viel an Mitbestimmung.Wie sieht es am unteren Ende der Beteiligungsskala aus? Was denkst du: Wo gaben bei den Bundestagswahlen 2013 am wenigsten Bürger ihre Stimme ab?
Wenn du nun an Juliane Metzker im Interview mit Ali Can, der eine Hotline für »besorgte Bürger« betreibtan Langzeitarbeitslose, die in holzverkleideten Hinterzimmern zwischen Rauchschwaden über Migranten, Geflüchtete und die Islamisierung ihres Abendlandes schimpfen – dann hast du dasselbe Bild im Kopf wie viele andere, die ich während der Recherche danach gefragt habe. Und liegst genauso daneben.
denkst, an abgehängte Dörfer, in denen der Putz von beigefarbenen Häuserwänden bröckelt,Am wenigsten Leute gingen im niederbayerischen Straubing an die Wahlurne: Nur

Woran liegt das? Die Straubinger Statistik bei der Bundesagentur für Arbeit (2017)Arbeitslose gibt es dort kaum, der Stadt scheint es gut zu gehen. In der Lokalpresse gibt es Mitte August 2017 wenig über Kriminalität oder soziale Brennpunkte zu lesen, dafür viel Hier geht es zur Themenseite des Straubinger TagblattsKlatsch und Tratsch vom Gäubodenfest, dem zweitgrößten Volksfest Bayerns. Auch in Münster geht es bürgerlich-beschaulich zu, das größte Problem ist wohl die eigene Beliebtheit, die sich in einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum niederschlägt.
Wenn Wahlen und die Beteiligung daran tatsächlich der Frederik v. Paepcke meint: Die Demokratie ist noch lange nicht am Ende!Kern der Demokratie sind – was sagt uns das über Straubing und Münster? Ist die Demokratie in Westfalen tatsächlich lebendiger als in Niederbayern? Um das herauszufinden, war ich auf Spurensuche und habe mit Bundestagskandidaten, engagierten Bürgern, Lokalreportern und Passanten gesprochen.
Braucht Münster NOCH MEHR Demokratie?
Jörg Eichenauer und Heinz Hartung werben heute ausgerechnet in Münster für Hier geht’s zur Website von Mehr DemokratieMehr Demokratie. So heißt jedenfalls ihr Verein, mit dem sie sich für und auf Bundesebene einsetzen. Mit einem großen Spiegel im Gepäck touren sie vor der Wahl durch 65 Städte. »… wer bestimmt im ganzen Land?«, steht auf einem darüber montierten Schild. An diesem Vormittag im August 2017, knapp einen Monat vor der Wahl, blicken die 5 Münsteraner Bundestagskandidaten von CDU, SPD, FDP, Grünen und Linken in das reflektierende Glas am Prinzipalmarkt. Hinter ihnen klicken die Kameras von Mitarbeitern und Presse, ein paar Passanten drängen sich auch mit ins Spiegelbild.

Eichenauer und Hartung haben die Kandidaten eingeladen, damit sie am Stand mit den Bürgern die Position der Parteien zu mehr
diskutieren können. Die meisten Bürger ziehen allerdings recht unbeeindruckt vorbei; einige Meter weiter ist Wochenmarkt. Alle paar Minuten rumpelt ein Stadtbus über das Kopfsteinpflaster und kommt der kleinen Politikergruppe bedrohlich nahe. »Nicht dass es noch Demokratieopfer gibt«, spottet ein älterer Herr, der doch für ein paar Minuten stehen geblieben ist.Am Stand von Mehr Demokratie bin ich mit Robert von Olberg verabredet, der dieses Jahr in Münster für die SPD antritt. Von Olberg ist erst 28 Jahre alt und hat mit seinem sorgfältig gelegten Seitenscheitel dennoch die Aura eines gesetzten Konservativen. Seit 14 Jahren engagiert er sich bei den Sozialdemokraten, als Teenager hat ihn vor allem bewegt, »warum der Erfolg in Schule und Beruf so sehr davon abhängt, aus welchem Elternhaus wir kommen.«
Traditionell holt die CDU bei Bundestagswahlen das Direktmandat der Münsteraner, traditionell geht es aber auch relativ knapp aus. In den Jahren 2002–2009 saß sogar ein SPD-Mann für die Münsteraner im Bundestag. Motiviert diese Erfahrung von Olberg in seinem Engagement – und die Bürger zur Stimmabgabe?
Wenn man den Eindruck hat, da ist etwas knapp, gewinnt die eigene Stimme an Gewicht. Das macht Wahlkämpfe und Wahlen natürlich spannender.
Der SPD-Kandidat ist allerdings skeptisch, ob die Wahlbeteiligung der beste Gradmesser für das Funktionieren einer Demokratie ist. »Wir dachten immer, wir brauchen eine hohe Wahlbeteiligung, um die extremen politischen Kräfte klein zu halten. Bei den letzten Landtagswahlen ist die Beteiligung zwar gestiegen – gleichzeitig gibt es mit der AfD aber auch eine Partei, die am rechten Rand steht und erfolgreich ist.« Ergebnisse der Landtagswahlen 2017Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen holte die rechtspopulistische Partei immerhin 7,4%.
Wenn es nicht die Wahlbeteiligung ist – was hält das Gemeinwesen dann lebendig? »Ich glaube, Demokratie lebt von der Diskussion und von der Auseinandersetzung konträrer Positionen.
wenn nicht nur in den Ausschüssen über Fragen diskutiert wird, sondern mich auch im Viertel jemand anhält und sagt, ›Mensch, du sitzt doch für uns im Rat, mach doch da mal was‹.«Demokratie heißt Kontroverse

Einer, der im bayerischen Straubing »was macht«, ist Martin Schaller. Im Freiwilligenzentrum koordiniert er Ehrenamtliche im Bereich Flucht und Asyl. Als ich ihn anrufe, verabschiedet er gerade eine Syrerin, die mit vielen Fragen in das Zentrum gekommen war. »Der deutsche Alltag ist ganz schön kompliziert«, sagt Schaller im gemütlichen Niederbayerisch. Dass die Wahlbeteiligung in Straubing bei der letzten Bundestagswahl am niedrigsten war, überrascht ihn. »Ich bin sehr politisch interessiert, ich kann mir das gar nicht vorstellen!« Wie steht es also um die Demokratie in Straubing? Schaller antwortet fast im selben Wortlaut wie der Münsteraner SPD-Kandidat Robert von Olberg.
Demokratie heißt, dass wir kontrovers diskutieren. Und das kann man in der Stadt Straubing!
Die Stadt habe ein gutes politisches Klima, erzählt Schaller. »Ich war mal mit meiner Frau bei einer AfD-Veranstaltung. Das war ein kleines Häuflein in einem Hinterzimmer. Die spielen hier keine Rolle.« Was ihm auch wichtig ist: »Wir haben einen Bürgermeister, der nicht spaltet. Es gibt sogar einen dritten Bürgermeister von der SPD, das hätte angesichts der Mehrheitsverhältnisse gar nicht sein müssen.«
Mit den Mehrheitsverhältnissen spricht er den zentralen Unterschied zwischen den kreisfreien Städten Münster und Straubing an: Bei den Bundestagswahlen gewinnt in Niederbayern der Kandidat der CSU. Immer. Ausnahmslos. Seit dem Jahr 1949. Ernst Hinsken saß ganze 30 Jahre für die Straubinger im Bundestag. Er war der Nachfolger von Alois Rainer Senior, der es auf immerhin 5 Legislaturperioden brachte. Hier rätselt der BR über die wahlfaulen NiederbayernAuf eine Stimme mehr oder weniger kommt es dann auch nicht an, denken sich wohl viele Niederbayern.
die Niederbayern in Berlin. Man könnte fast von monarchischen Verhältnissen sprechen.
Aktive Bürger gibt es auch in Straubing
Ist die JETZT über die parteilose Katharina Pritzl, die im bayerischen Alzenau Bürgermeisterin werden willgefühlte Alternativlosigkeit ein Sargnagel für die Demokratie? Martin Schaller vom Website des FreiwilligenzentrumsFreiwilligenzentrum macht sich in dieser Hinsicht keine Sorgen um Straubing. Er ist der Meinung, dass das ehrenamtliche Engagement mindestens genauso viel über den Zustand des Gemeinwesens aussagt wie die Wahlbeteiligung.
In der Datenbank seines Vereins sind rund 1.000 Bürger eingetragen, die sich in Stadt und Landkreis einbringen – als Lesepaten, Sprachpaten oder Helfer im Gastautorin Julia Stürzel über Minimalismus und RepaircafésRepaircafé. Auch die Kommune stünde hinter den freiwilligen Helfern. Schaller ist im Großen und Ganzen zufrieden damit, was die Menschen in Stadt und Landkreis auf die Beine stellen (»A paar mehr Freiwillige könnten’s aber scho noch werden!«).
Im 600 Kilometer entfernten Münster engagieren sich Heiko Philippski und Marc Weßeling. Mit ihrem Projekt Mach mit, Münster! bilden sie eine Schnittstelle zwischen Bürgern und ihren politischen Vertretern im Stadtrat. Marc Weßeling hat als Treffpunkt für ein Gespräch das Stadtweinhaus vorgeschlagen – ohne zu wissen, dass ich hier hinter dem Stand von Mehr Demokratie vorher auch schon mit SPD-Kandidaten Robert von Olberg verabredet war.
»Der Fehler liegt nicht im System, sondern bei den Leuten selbst«
Was macht diesen Ort so besonders für die Münsteraner Demokratie? »Im Stadtweinhaus finden die Rats- und Ausschusssitzungen statt. In den Ausschüssen sitzen aber nicht nur die Ratsherren, sondern auch sachkundige Bürger, die hier mitbestimmen können.« Politische Teilhabe ist das große Thema von Philippski und Weßeling. Mit ihrem Projekt Hier geht’s zur Website von »Mach mit, Münster!«Mach mit, Münster! wollen sie zeigen, wie jeder eigene Ideen in den Stadtrat einbringen kann.

Weßeling findet, dass zu wenig Bürger mitbestimmen. »Da liegt der Fehler nicht im System, der Fehler liegt bei den Leuten selbst. Man hat auch eine Verantwortung, sich zu informieren. Es hängen zwar alle im Internet und lesen jeden Quatsch. Viele kommen aber nicht auf die Idee zu fragen, was sie machen können, wenn sie etwas stört.«
Um es den Leuten einfacher zu machen, betreiben Philippski und Weßeling eine Website, mit der sie aufklären, wie Bürgerbegehren und -entscheide funktionieren, wie Anregungen und Beschwerden eingebracht werden und wie man sogar bei der Stadtplanung mitreden kann. Ist die Hemmschwelle dann immer noch zu groß, übernehmen Philippski und Weßeling und bringen die Anliegen Einzelner an die richtigen Stellen. So haben sie zum Beispiel stellvertretend durchgesetzt, dass die Informationsseite der Münsteraner Weihnachtsmärkte künftig Rücksicht auf Menschen mit Behinderungen nimmt. »Das ist aber eigentlich die Notlösung«, betont Weßeling. »Die Leute sollen es selbst machen!«
Wie viel die Bürger sich in ihrer Stadt einbringen – Sozialwissenschaftler Ortwin Renn über Bürgerbeteiligungund welche Möglichkeiten sie in dieser Hinsicht haben – das sagt für Weßeling mehr über den Zustand der Demokratie aus als die Beteiligung bei Wahlen, die nur alle paar Jahre stattfinden.
»Nicht zur Wahl zu gehen ist schon auch eine Aussage«
Nach einigen Gesprächen scheint der Unterschied zwischen dem wahlfaulen Straubing und dem vermeintlichen Demokratieleuchtturm Münster nicht mehr allzu groß. Ich suche weiter nach Gründen für den 20%-Unterschied zwischen den Städten und frage bei Heinrich Oberreuter nach. Der Politikwissenschaftler hat unter anderem an den Universitäten in München und Passau gelehrt, mit der bayerischen Demokratie kennt er sich gut aus.
Die CSU ist eine dominante Partei ohne ernsthafte Konkurrenz um die Führungsposition. Auch Aufreger gab es nicht. Ergo können sich mehr Straubinger als Münsteraner Wahlabstinenz leisten. Es geht um nichts.
Er fügt hinzu: »Nach Erkenntnissen der klassischen Wahlforschung ist die Wahlbeteiligung in Zeiten der Stabilität und des Wohlbefindens niedrig.«
Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen 1949-2013
Seit 1990 wird die Wahlbeteiligung für Ost- und Westdeutschland erhoben.
Was bedeutet das für die Zukunft unseres Zusammenlebens? Implodiert der Kern unserer Demokratie etwa, wenn es den Bürgern zu gut geht?
Demokratiemonitor der Bertelsmann-StiftungAnalysen vergangener Landtagswahlen kommen auf der anderen Seite zu dem Ergebnis, dass die Wahlbeteiligung in sozial benachteiligten Gebieten ausnahmslos niedriger ist als in bessergestellten Gegenden. Zerfällt die Demokratie also im anderen Extrem, wenn die Verhältnisse zu prekär sind? Gibt es eine goldene Mitte, eine Optimaltemperatur?
Ein letzter Anruf in Straubing: Monika Schneider-Stranninger geht ans Telefon, die nach 28 Jahren als Redakteurin beim Straubinger Tagblatt die Stadt wohl so gut kennt wie kaum eine andere. »Ah, Sie rufen an, weil’s bei uns das letzte Mal so schlimm war«, sagt sie.
Die Journalistin sucht selbst schon lange nach Erklärungen für die niedrige Wahlbeteiligung. Trotzdem sorgt sie sich nicht um die niederbayerische Demokratie.
Aber nicht zur Wahl zu gehen sei schon auch eine Aussage.Wenn das Ergebnis ohnehin schon feststeht – machen die Straubinger Politiker dann überhaupt noch Wahlkampf? Es laufe eher langsam an, sagt Schneider-Stranninger. »Nach dem Gäubodenfest versinkt die Stadt erst mal 2 Wochen im Sauerstoffzelt und Ferien sind ja jetzt auch.« Mühe geben würden sich die Kandidaten aber schon. »Der CSU-Kandidat war gerade auf Fahrradtour, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, und
von der SPD will wohl jetzt auch Klinkenputzen gehen.«Mühe geben müssen sich allerdings nicht nur die Politiker, sondern auch alle anderen Bürger. Beim Blick in den Demokratiespiegel sollte die Frisur sitzen!

Dieser Artikel gehört zu unserer Reihe »Deine Wahl 2017«. Du willst mehr zum Thema lesen? Klicke hier!
Mit Illustrationen von Janina Kämper für Perspective Daily