4 Gründe, nach dem Ende der Ampel hoffnungsvoll zu bleiben
Die Bundesregierung löst sich auf. Manche haben Angst vor Neuwahlen. Wir sehen darin aber auch Chancen.
Wenn Ärzt:innen ein Pflaster abreißen, machen sie das mit einem energischen Ruck. Das kurze Brennen ist schnell vergessen. Anders ist es, wenn man das Pflaster langsam abzieht – es wird zur Qual. Am Mittwoch riss Bundeskanzler Olaf Scholz einen Pflasterrest schnell ab … nachdem er zuvor den größten Teil sehr langsam gelöst hatte.
Mit ungewohnt markigen Worten hat er Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) entlassen. Dieser habe zu oft sein »Vertrauen gebrochen« und »kleinkariert taktiert«. Die FDP ist raus aus der Regierung. Neuwahlen stehen nach der Vertrauensfrage von Scholz an – spätestens im März. Der akustische Namensvetter dieses Monats, Friedrich Merz (CDU), würde gern früher ran. Es gibt also noch ein paar Klebereste des Pflasters, die runter müssen. Mühsam pulen oder Nagellackentferner zur Hand nehmen? Diese Frage werden die Beteiligten nun ausfechten.
Aber was ist mit uns und dir? Die Regierung ist gescheitert und das schafft bei vielen ein Gefühl der Unordnung und des Misslingens. Trotz allem fühlt es sich auch ein bisschen so an wie 2021, als die große Koalition in den einstweiligen Ruhestand geschickt wurde: Es hat sich etwas gelöst, was feststeckte.
Brauchten wir vielleicht diese kurze Ampel-Episode, um die politische Landschaft aus ihrem Dornröschenschlaf von 16 Jahren CDU-Führung wachzuküssen? Wie kann es jetzt weitergehen? Wir haben 4 ganz persönliche Kommentare aus dem Team zusammengetragen, als Diskussionseröffnung. Alle 4 sehen Chancen in diesem Scheitern. Wie siehst du es? Unter dem Text kannst du dich mit der Community austauschen.
Jetzt haben wir es in der Hand!
von Dirk WalbrühlWarum ging es in Deutschland in letzter Zeit eigentlich nicht voran? Es gibt doch genug Herausforderungen, die unsere Regierung anpacken müsste: Arbeitslosigkeit,
Stattdessen wird sie wohl eher als »Blockadekoalition« in die Geschichte eingehen. Denn statt konstruktivem Lenken herrschte ein lähmender Reformstau in vielen Bereichen, verursacht von einer bockigen FDP.
- Ex-Bundesforschungsministerin Stark-Watzinger verschleppte die dringende Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) und des Forschungsdatengesetzes.
- Ex-Bundesfinanzminister Lindner war die Schuldenbremse offenbar wichtiger als dringend notwendige Investitionen in unser Land.
Nicht nur Christian Lindner, nein, die ganze FDP trat in der Ampel ständig auf die Bremse. Die »Geht nicht«-Ansagen des kleinsten Koalitionspartners machten eine positive Transformation unseres Landes unmöglich. Davon profitierte neben FDP-Egos letztlich vor allem eines: die Politikverdrossenheit.
Bisher konnten wir Deutschen diesem Schauspiel nur zusehen. Doch das Ende der Ampelkoalition ist auch eine Befreiung von dieser erlernten Hilflosigkeit und dem Gefühl der Lähmung. Denn Instrumente wie Koalitionsaufkündigung, Vertrauensfrage und Neuwahlen gibt es in einer Demokratie ja nicht ohne Grund. Sie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern von politischer Funktionalität. Und durch die vorgezogene Bundestagswahl haben es nun endlich wieder wir – also die Bürger:innen Deutschlands – in der Hand, die Zukunft zu prägen und dabei die Dauerblockierer abzustrafen.
Vielleicht bringt ein »Super-Mario« Deutschland auf Kurs
von Julia TappeinerManch panische Reaktion auf das frühe Aus der Ampel finde ich als Italienerin fast schon süß. In den letzten 12 Jahren habe ich ganze 6 Regierungen in meinem Land kommen und gehen sehen.
Deshalb sage ich euch als erfahrene Nachbarin, von Herzen: Vielleicht ist dieses Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende – wie bei uns.
Zurück ins Jahr 2021. Italien leckt sich noch die Wunden der Coronapandemie, schon streitet die Regierung wieder. Diesmal geht es um die Frage, wie die
Gerade weil es aber eine heikle Lage ist, raufen sich die Parteien zusammen und ziehen Italien aus dem Schlamassel. Mithilfe von »Super-Mario«. Das ist der Spitzname des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Er formt eine neue Regierung der sogenannten »Nationalen Einheit« – eine Koalition aus fast allen politischen Kräften von
Nun will ich nicht sagen, dass politische Instabilität gut ist oder Italien euch beim Thema Regierungsbildung als Vorbild dienen sollte.
Dennoch zeigen die Erfahrungen aus Italien: Gerade in schweren Zeiten kann es überraschende Lösungen geben, weil Politiker:innen vielleicht über parteiliche Interessen hinausdenken. Darin kann eine Chance liegen – stimmt’s, Friedrich Merz?
Die Chance für eine Reform der Schuldenbremse ist da!
von Benjamin FuchsDie Schuldenbremse war das Machtinstrument des Bundesfinanzministers Christian Lindner (FDP). Denn die Regelung gibt dem Amtsinhaber die Möglichkeit in die Hand, Politik zu gestalten oder eben zu verhindern. Die Ausgabenbegrenzung ist ein Stück wirtschaftsliberaler DNA, verankert im Grundgesetz. Ein Ausdruck des Misstrauens in demokratisch gewählte Regierungen.
Lindner hat die Bremse als politisches Mandat genutzt,
Spätestens die eingestürzte Carolabrücke in Dresden mahnt: Wer nicht investiert, zehrt die bestehende Substanz auf.
Lindner ist jetzt weg. Das könnte die Bremse lösen und den Reformmotor neu starten. Wahrscheinlicher als eine Abschaffung der Schuldenbremse ist eine Ausnahme für (grüne) Investitionen.
Die Chance liegt darin, dass jetzt alle (bis auf FDP und AfD) ein Interesse an mehr finanziellem Spielraum haben. Mit Blick auf die erneute Wahl Donald Trumps und das starke Abschneiden der rechtsextremen AfD ist es für Deutschland wichtiger denn je, in eine bessere Zukunft zu investieren.
Olaf Scholz kann jetzt den Respekt junger Menschen zurückgewinnen
von Maryline Boudot»Das war der Auftritt seines Lebens« – so bezeichnet ein User die Rede von Olaf Scholz, in der er Mittwochabend die Entlassung von Christian Lindner bekannt gab,
Scholz, der eher als »uncool«, »eintönig« und »tatenlos« gilt, wird nach seiner Entscheidung von vielen – vor allem jungen Menschen – gefeiert. Ein User schreibt unter das Video seiner Rede: »Selten so viel Respekt vor Scholz gehabt wie heute.«
Während die Entlassung Lindners als Finanzminister für viele Menschen noch mehr Unsicherheit bedeutet – vor allem nach der Wahl in den USA, bei der Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde –, weckt Scholz mit seiner Entscheidung bei anderen Hoffnung. Nämlich darauf, dass nun endlich die wichtigen Dinge angepackt werden: Klimakrise, Wohnungsnot, Rechtsruck … Mit seinen klaren Worten und Taten schafft Scholz neues Vertrauen in die Regierung.
Und obwohl der 6. November für viele durch den Ausgang der US-Wahl düster begann, sorgten Memes und Videos auf Social Media schon abends wieder für Schmunzeln. Auf einem Foto sieht man Christian Lindner, wie er in sein Handy spricht. Dazu der Text:
Kurz gesagt: Die Entlassung von Christian Lindner und wie sie geschah, hat bei vielen Menschen neue Hoffnungen geweckt. Vielleicht übernehmen die führenden Politiker:innen nun endlich Verantwortung für Deutschland.
Wenn du mit der Community diskutieren möchtest, kannst du das unter dem Text tun. Wenn du dich aber fragst, wie du im Sturm schlechter Nachrichten eine Ruheinsel findest, schaue doch in diesen Text von Dirk Walbrühl:
Titelbild: Collage / depositphotos - copyright