So sieht eine Welt aus, in der du nie mehr den Müll rausbringen musst
Das Beste ist: Diese Vision ist bereits größtenteils real – nur nicht alle Teile davon an einem Ort zusammen.
Lasse dich mit auf eine Gedankenreise nehmen:
Wintersonne scheint auf Sophies Gesicht, sie reckt sich im Bett. Noch einmal umdrehen, 5 Minuten dösen … Doch, Moment? Sonne? Es ist November. Mist, sie hat verschlafen. Ihr Handy zeigt 11:02 Uhr und 3 verpasste Anrufe von ihrem Chef. Sie muss sich sputen.
In der Eile auf dem Weg zum Bad eckt sie mit ihrem kleinen Zeh am Türrahmen an. Autsch! Verflixt und zugenäht! Sie ist noch nicht mit dem Grundriss der neuen Wohnung vertraut. Denn sie ist erst vor einigen Wochen eingezogen. In ihrem vorherigen Haus, das sie selbst gebaut hat und in dem ihre Kinder groß geworden sind, kannte Sophie jeden Winkel. Doch als die Küken das Nest verlassen hatten, wurde das Haus zu groß für sie allein. Zuerst hatte sie sich schwergetan, von ihrer grünen Oase am Stadtrand Kölns ins trubeligere Stadtzentrum zu ziehen. Doch nun merkt sie, wie gut es ihr tut, in einem Mehrgenerationenwohnhaus zu wohnen.
Die Nachbarsfamilie stellt ihr regelmäßig selbstgebackene Süßspeisen vor die Wohnungstür und lädt sie zum gemeinsamen Abendessen ein. Sophie gibt ihnen wiederum Gartentipps für die Tomaten auf dem Balkon und den Salat, der auf den Fensterbänken vor sich hinwächst. Am Wochenende spielt sie gern eine Runde Ball mit den Kindern auf der Wiese im Hof. Wie sehr sie das Kinderlachen und die Geräusche von Leben um sich herum genießt! Die Gemeinschaft und das Gefühl, gebraucht zu werden, will Sophie nicht mehr missen. Als Rückzugsort hat sie ihre eigene 35-Quadratmeter-Wohnung. Ach ja, von dem viel kleineren Putzaufwand kann sie ihren Nachbarn gar nicht genug erzählen!
Ermöglicht hat den Umzug eine Initiative der Stadt Köln. Sophie hat eine Umzugsprämie dafür bekommen, dass sie in eine kleinere Wohnung zieht. Organisiert wurde der Umzug von einer professionellen Firma, auch diese hat die Stadt bezahlt. So sorgfältig wurden ihre Sachen wahrscheinlich noch nie verpackt – alles kam in wiederverwendbare Plastik- und Pappkartons oder wurde in weiche Schwämme eingewickelt. Ihr altes Haus im Speckgürtel der Stadt wird in 2 Wohnungen aufgeteilt. Dort soll ein nachhaltiges Viertel mit bezahlbarem Wohnraum entstehen. Es soll in alle bestehenden Infrastrukturen integriert werden. Sie hat die Pläne gesehen: Überall soll es Plätze zum Verweilen und zum Austausch geben. So wie es sie hier vor ihrer Haustür bereits kennt.
Ein Maunzen reißt Sophie aus ihren Gedanken. Die Nachbarskatzen! Natürlich, sie laufen auf ihrem Balkon herum und verkünden mit ihrer Körpersprache beleidigt: Wir warten auf unser Frühstück …
Da die Familie nebenan im Urlaub ist, hat Sophie versprochen, nach den beiden zu schauen. Mit geputzten Zähnen und eingekleidet huscht sie in die Küche, greift ihre Tasche, die vorbereitete Frühstücksbox – heute wohl eher: Mittagessen – und das Katzenfutter. Sie gibt Letzteres in 2 Schalen und wirft die Verpackung in den runden, silbernen Behälter in der Küche. Er sieht wie ein »Müll«-Eimer aus, doch ist keiner und leeren muss sie ihn auch nicht …
Bei der Beschreibung würden ihre Kinder schmunzeln. Müll und Müllrausbringen – das kennen sie nicht. Denn »Müll« gibt es keinen mehr. Heute sprechen alle nur von Ressourcen und Wertstoffen. Für ihre Kinder klingt es wie ein Scherz, wenn Sophie ihnen von ihrer Jugend erzählt, als sie noch regelmäßig den Müll sortieren und in Mülltonen werfen musste. Sophie erinnert sich daran, wie die Mülleimer damals in den Städten überquollen und Müllsäcke die Fußgängerwege versperrten. Es stank nach Bier und Energiedrinks. Tiere durchwühlten die Eimer nach Nahrung und der Wind verteilte den Müll bis in den Rhein, wo ihn die Wassermassen in die Welt brachten.
Ihre Kinder sind mit einer sauberen Umgebung und mit Recyclingbehältern aufgewachsen, wie jenen in ihrer Küche. Die Recyclingbehälter stehen heute auch an vielen Straßenecken. Hier werden die wenigen Verpackungen abgegeben, die es noch gibt und die aus logistischen Gründen nicht direkt von ihren Herstellern zurückgenommen werden können. So wie die Katzenfutterverpackungen oder Konservendosen. Die Sammelstellen werden jede Stunde automatisch geleert, in belebten Gegenden auch häufiger. Somit können sie nicht überlaufen.
In dem Moment hört Sophie ein mechanisches Entriegeln und dann ein Soggeräusch. Es klingt, wie wenn eine U-Bahn die Plattform verlässt, nur leiser. Der Boden des Behälters öffnet sich wie eine Falltür und sein Inhalt wird in ein Netz aus unterirdischen Rohren gesaugt. Diese bringen die Futterverpackungen direkt zum nächsten Recycling- und Weiterverarbeitungszentrum.
Was für ein ausgeklügeltes System das doch ist, denkt sich Sophie, als sie den Aufzug zur kommunalen Dachterrasse ihres Gebäudes nimmt. Dort wird sie von den nahezu verhungernden Katzen ihrer Nachbarin ungeduldig empfangen. Sie stellt den 2 Freigängern die Näpfe hin und überblickt die Stadt. Überall ist es grün. Sie sieht Erwachsene, die mit den Kleinsten in der Trage ihre Einkäufe erledigen, Postbotinnen und Lieferanten auf ihren Lastenfahrrädern. Direkt vor ihrer Haustür spielen ein älterer Herr und sein Enkel Schach, das Spiel ist in Übergröße auf das Pflaster gemalt. Einige Passant:innen schauen ihnen zu. Es ist ein klarer Vormittag, doch kalt. Sie zieht ihren Schal enger.
Okay! Die Katzen haben ihr Frühstück, nun aber los zur Arbeit. Inzwischen ist es 11:32 Uhr. Ihr Chef weiß Bescheid und hat ihren nächsten Termin für sie verschoben. Zum Glück hat sie es nicht weit.
Auf dem Weg zur Arbeit läuft sie an einigen Supermärkten, Banken und einem Kino vorbei, an öffentlichen Gärten, Restaurants, einem Secondhandeinkaufszentrum, Therapie- und Massagepraxen, U-Bahnstationen, Spielplätzen und einer Grundschule. Auch ein Krankenhaus und die Bezirksverwaltung sind in Reichweite. Alles ist in 15–20 Minuten zu Fuß erreichbar – herrlich!
Auf halbem Weg fällt Sophie ein: In der Eile hat sie ihre Behälter für den Reis und die Linsen vergessen, die sie nach der Arbeit noch kaufen wollte. Doch sie kann sich welche beim Supermarkt ausleihen und bei Gelegenheit wieder zurückbringen.
Als sie an einem der Repaircafés vorbeigeht, denkt Sophie daran, dass sie ihre Ohrringe reparieren lassen muss, ihr ist ein Stecker abgebrochen. Bei dem Gedankengang muss sie schmunzeln. In ihrer Jugend hätte sie es für absurd gehalten, einen kleinen Ohrstecker zu reparieren, der weder zu ihren Lieblingen gehört noch allzu teuer war. Sie hätte sich kurzerhand ein neues Paar gekauft. Seitdem hat sich allerdings die Mentalität der meisten Menschen geändert und die Wirtschaft auch. Heute ist reparieren oft viel günstiger als neu kaufen.
Denn Unternehmen sind jetzt durch Gesetze verpflichtet, sich auch an deren Lebensende um ihre Produkte zu kümmern, damit kein »Müll« mehr entsteht. Viele Läden nehmen deshalb alte Produkte wieder zurück, um deren Materialien weiterzuverarbeiten oder sie zu reparieren.
Ihre Matratze hat Sophie zum Beispiel in einem Abo-Modell gekauft, das Unternehmen heute typischerweise für größere Anschaffungen wie Waschmaschinen oder Fahrräder anbieten. Das bedeutet für Sophie: Alle 5 Jahre schaut das Matratzen-Unternehmen bei ihr vorbei und tauscht ihre Matratze durch eine neue aus. Ihre alte wird grundgereinigt und auf den aktuellen Stand gebracht, damit sie ihr nächstes Leben wie neu antreten kann.
Wie kam es überhaupt zu diesem Wandel hin zur Kreislaufwirtschaft? Ach ja, das war die Weltklimakonferenz im Jahr 2024. Damals hätte es noch niemand geglaubt, dass das weltweite Antiplastikabkommen ein Erfolg wird. Jeder Punkt des Abkommens wurde totgeredet, es galt als gescheitert – bis im nächsten Jahr einige planetare Grenzen überschritten wurden. Städte und Dörfer wurden überflutet, Tausende Menschen und Tiere verloren ihr Leben. Daraufhin haben die Industrienationen endlich Verantwortung übernommen, eine Obergrenze für die Plastikproduktion festgelegt – und den finalen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern. Es gab ein Verbot, neue Ölfelder zu erschließen, und es sind viele Gelder geflossen, um allen betroffenen Industrien und Menschen einen Umstieg zu ermöglichen.
Leicht war und ist das alles nicht. Doch viele Wirtschaftsbereiche konnten sich schneller umstellen als zuerst angenommen. Denn viele Lösungen waren schon vorhanden. So etwa auch der Einzelhandel: Plastikfreie und wiederverwertbare Verpackungen und auch Unverpackt-Lösungen gab es bereits haufenweise. Es ist heute etwa »normal«, sich seine eigene Brotbox mit zum Metzger, der Fisch- oder Obsttheke oder ins Restaurant zu nehmen. Seit dem großen Wandel haben die weltweiten Katastrophenmeldungen abgenommen – und die Menschen, die vielerorts noch mit dem Auf- und Umbau ihrer Gesellschaften beschäftigt sind, verspüren wieder Hoffnung.
Gerade als Sophie den Rhein entlangläuft, wird sie angerufen. Ihr Chef fragt, wo sie bleibe – und schmunzelt, als sie ihm erzählt, dass sie einfach mal ausschlafen und sich von der Sonne wachküssen lassen müsste. Er hat viel Verständnis und weiß, dass sie ihre Stunden nacharbeiten wird. Sie solle sich aber beeilen, denn ein Termin warte nun auf sie.
Sophie legt einen Zahn zu. Sie trifft sich mit einer ihrer Lieblingsschülerinnen – einer aufgeweckten 14-Jährigen, die sie sehr an ihre eigene Tochter erinnert. Zusammen wollen sie schauen, welche Möglichkeiten sie im Berufsleben hat und wo ihre Stärken liegen. Es ist ein Service, der jedem Kind kostenlos zur Verfügung steht, denn in den letzten Jahren sind viele neue Berufe aufgekommen. Sophie hätte sich vor 40 Jahren eine ähnliche Anlaufstelle gewünscht. Doch sie freut sich für die jungen Menschen und die Generationen nach ihnen. So viel hat sich verändert, innerhalb einer so kurzen Zeitspanne …
Hier werden Utopien zur Realität
Wie fühlst du dich nach dem Lesen dieser Utopie? Klingt Sophies Morgen für dich zu schön, um wahr zu sein?
Egal ob dich die Gedankenreise durch Sophies Morgen beflügelt oder ob sie bei dir nicht gut ankam – ich habe gute Nachrichten für dich: Viele Lösungen, die in der Vision vorkommen, werden bereits heute gelebt. Nur nicht überall gleichzeitig, sondern in Form von kleinen Real-Utopien oder politischen Maßnahmen einzelner Orte.
Dahinter stehen Menschen, Initiativen und auch Geschäftsideen, die zeigen, was alles möglich ist und wie wir eine lebenswertere Welt schaffen können.
An diesen Orten existieren sie bereits oder werden ausprobiert:
- Deutschlandweit und auf der ganzen Welt leben Menschen in Mehrgenerationen-Wohnhäusern.
- Wohnraum ist knapp.
- Was braucht es, damit Menschen zufriedener und nachhaltiger leben können? Einkaufsmöglichkeiten, medizinische Versorgung und Kultur in Reichweite. Das vermeidet lange Transportwege und erhöht die Chancen, dass sich Bürger:innen sozial angebunden fühlen. Deswegen arbeitet beispielsweise
Andere Orte, wie Ravensburg und - Es ist immer noch günstiger und einfacher, sich etwas Neues zu kaufen, als das Alte zu reparieren.
Bundesländer wie Thüringen und Sachsen sowie seit Neuestem auch Berlin sind der EU schon ein Stück voraus. - Was hat es mit Sophies
Für einen monatlichen Fixbetrag bekommst du ein eigenes, fahrtüchtiges Fahrrad. Ist etwas kaputt, kommt ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin innerhalb von 24 Stunden vorbei und tauscht das Rad aus. - Das in der Utopie vorgestellte unterirdische Müllentsorgungssystem
Es gibt also viele Lösungen und Vorstellungen für eine lebenswertere Welt, die allerorts erprobt und gelebt werden. Davon können wir uns inspirieren lassen.
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily