An diesem Tabu scheitern viele deutsche Ärzt:innen. So geht es besser
Die meisten Frauen, die Gewalt erleben, wenden sich zuerst an Krankenhäuser. Doch in vielen Notaufnahmen weiß man nicht, wie mit den Betroffenen umzugehen ist. Ein Verein möchte das ändern.
Als Alice Westphal dem Krankenhauspersonal erzählt, sie sei die Treppe heruntergefallen, wird nicht weiter nachgefragt. Auch Hilfe wird ihr keine angeboten. Dabei hätte sie sich gewünscht, dass jemand fragt: »Kann es sein, dass Sie Gewalt erfahren haben? Ihre Verletzungen stimmen nicht mit Ihrer Erzählung überein.« Auch wenn sie deswegen nicht sofort ihrer gewaltvollen Beziehung entkommen wäre. Sie hätte das Signal bekommen, dass sie darüber reden darf. Und vielleicht die Erkenntnis, dass es Auswege gibt.
Kliniken spielen somit eine Schlüsselrolle bei der Versorgung und Unterstützung betroffener Frauen. Doch werden die Berliner Notaufnahmen dieser Verantwortung gerecht?
»Ich wusste nicht, wie ich den Frauen helfen kann«
Jennifer Kouzian ist Assistenzärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Vivantes Klinikum am Urban in Kreuzberg. Seit April 2024 arbeitet sie in der zentralen Rettungsstelle. Bei ihr landen immer wieder Patientinnen, die eine Panikattacke oder eine akute Belastungsstörung erleben, nachdem sie zum Beispiel vom Vater oder Ehemann geschlagen worden sind.
Die Medizinerin erinnert sich an den Beginn ihrer Arbeit in der Notaufnahme: »In solchen Momenten wusste ich nicht, wie ich diesen Frauen helfen oder an welche Hilfestellen ich sie verweisen kann. Ich habe mich verloren gefühlt.«
Bei Bedarf bot sie den Patientinnen an, sie aufzunehmen. »Mehr konnten wir in der Rettungsstelle nicht machen, da wir nicht geschult waren.«
Klar definierte Prozesse dafür, was in Fällen von Gewalt zu tun sei, Sensibilisierungsworkshops für Mitarbeitende oder eine Liste mit Anlaufstellen für Gewaltbetroffene? Das gab es an ihrer Arbeitsstelle nicht. Noch nicht.
Gemeinsam mit 2 Kolleginnen, der Gesundheits- und Krankenpflegerin Angela Röck sowie der Assistenzärztin in der Unfallchirurgie und Orthopädie Elisabeth Mann, die Ähnliches erlebt haben, wendet sich Kouzian im Spätsommer desselben Jahres an
Was Gewaltbetroffene brauchen, wenn sie in die Notaufnahme kommen
Für Dorothea Sautter, Referentin des Vereins Signal e. V., gehören 3 Dinge zu einer guten medizinischen Erstversorgung von Gewaltbetroffenen.
- Zunächst einmal sollten Patientinnen direkt darauf angesprochen werden, sollte der Verdacht bestehen, dass sie Gewalt erfahren haben. Zum Beispiel, wenn der Ehemann darauf besteht, die Frau überallhin zu begleiten, und sie nicht aus den Augen lässt. Oder wenn eine Frau mit blauen Flecken in die Notaufnahme kommt, die unterschiedlich alt sind.
Ein weiterer Indikator für Gynäkolog:innen ist zum Beispiel, wenn sich schwangere Frauen eine Untersuchung wünschen, weil sie angeblich eine Blutung hatten. Wird bei der Untersuchung festgestellt, dass es keine Blutung gab, ist es möglich, dass sich die Frau vergewissern wollte, ob es dem Baby gutgeht, nachdem sie körperlich angegriffen wurde.
Dorothea Sautter weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, eine Frau zu diesem sensiblen Thema anzusprechen. »Ich habe lange als Hebamme gearbeitet und bin immer davon ausgegangen, entweder erzählt mir eine Frau von sich aus, was passiert ist – ansonsten möchte sie das nicht.« Heute weiß sie, dass Frauen oft aus Scham oder Angst nicht sprechen. Und gerade deshalb der Arzt, die Pflegeperson oder Hebamme dieses Tabu brechen sollte.
Um auf solche Situationen vorbereitet zu sein und angemessen zu reagieren, bietet Signal e. V. Schulungen für medizinisches Personal an. Darin werden Unsicherheiten geklärt und passende Formulierungen mitgegeben, mit denen Mitarbeitende die Betroffenen sensibel ansprechen können, ohne sie erneut zu traumatisieren. Eine verletzende Frage wäre zum Beispiel: »Erzählen Sie mir erst einmal genau, was vorgefallen ist.« Stattdessen sollte die Ärztin sagen: »Berichten Sie mir nur das, was Sie erzählen möchten. Sie müssen nicht ins Detail gehen.«
In den Schulungen lernen Ärzt:innen und Pflegekräfte zudem, die oben genannten Anzeichen von Gewalt, sogenannte »Red Flags«, überhaupt zu erkennen.
Sie lernen, wie man einer Betroffenen einen geschützten Raum bieten kann und ihr vermittelt: Ich habe Schweigepflicht, ihr Partner erfährt nichts davon. - Im zweiten Schritt sei es wichtig, der betroffenen Person Hilfe anzubieten, sagt Dorothea Sautter. Auch hier wisse das Personal oft nicht, wie, bestätigt sie die Erfahrung der Psychiaterin Kouzian.
Sautter erklärt: »Der Arzt oder die Ärztin sollte fragen, wie sicher sich die Person fühlt, wieder nach Hause zu gehen. Und falls gewünscht, Adressen von Unterstützungseinrichtungen empfehlen.« Wichtig sei es deshalb, dass Notaufnahmen Infoblätter auslegten oder zumindest interne Listen mit Hilfsangeboten hätten.
Manche Krankenhäuser gehen auch eine Kooperation mit Fachstellen ein. Eine Möglichkeit ist die »proaktive Beratung«. In diesem Fall sendet das Krankenhaus bei Wunsch der Betroffenen ihre Kontakte an die Beratungsstelle. Diese meldet sich dann aktiv und bietet ein Gespräch an. - Schließlich sollte noch die Möglichkeit der gerichtsfesten Dokumentation angeboten werden. Das heißt, die Verletzungen, Schilderungen und Befunde der Patientin so zu dokumentieren, dass sie in einem späteren Gerichtsverfahren genutzt werden können.
»Viele Betroffene möchten nicht gleich zur Polizei gehen«, erklärt Sautter. »Deshalb ist es wichtig, dass Kliniken das anbieten. Wenn sich Frauen später dann doch trauen, den Vorfall anzuzeigen, können sie den Dokubogen gerichtsverwertbar in den Prozess mitnehmen.«
Dafür gibt es eine Art
Trotz Krankenhausplan: Gerade mal 1/3 aller Kliniken hat die nötigen Gewaltschutzkonzepte
Die Realität in Berlin sieht derzeit aber anders aus. Von 37 Kliniken mit Notaufnahme arbeiten gerade einmal 14 mit Signal e. V. zusammen, um Gewaltschutzstrukturen aufzubauen oder weiterzuentwickeln. Darunter das Vivantes Klinikum am Urban.
Die Gewaltschutzambulanz der Charité bietet zwar eine gerichtsfeste Dokumentation an. Jedoch nur unter der Woche bis 16 Uhr. Passiert die Tat nachts oder am Wochenende, haben viele Frauen keinen Ort, an den sie sich wenden können. Sautter weiß aus Erfahrung: »Wenn die Frau jetzt in die Notaufnahme kommt, die Wunden dort behandelt werden, und sie dann an die Gewaltschutzambulanz verwiesen wird, geht sie nicht noch an einen zweiten Ort.«
Für Betroffene ist es laut Signal e. V. daher nicht selbstverständlich, verlässlich rund um die Uhr versorgt zu werden.
Auch Alice Westphal bestätigt den Befund. Sie ist der gewaltvollen Partnerschaft mittlerweile entkommen und Sprecherin des Betroffenenrates vom
Eigentlich verpflichtet der Krankenhausplan des Landes Berlin seit 2020 alle Kliniken mit Notfallzentrum dazu,
Doch es scheint gerade mal 1/3 der Berliner Kliniken dieser Aufforderung angemessen nachzukommen.
Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege gibt auf Anfrage an, dass den Krankenhäusern mit Notaufnahme freigestellt sei, welche der empfohlenen Konzepte oder Verfahren sie nutzten, um der Anforderung des Krankenhausplans nachzukommen. Ihnen lägen keine Informationen vor, dass Notfallzentren dieser Anforderung nicht gerecht würden.
Die Pressestelle der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG) antwortet, dass einige Kliniken die Vorgaben des Landeskrankenhausplans auf besondere Weise umsetzten, indem sie etwa Gewaltschutzteams eingerichtet hätten. Die BKG biete zudem Info-Veranstaltungen zu den Empfehlungen der WHO an, angepasst an die jeweiligen Rettungsstellen. 7 Berliner Krankenhäuser nutzten etwa die dort empfohlene proaktive Beratung Betroffener.
»Ich glaube nicht, dass Patientinnen in die Flyer mit Notfallnummern ihre Kaugummis einwickeln«
Zurück zum Vivantes Klinikum am Urban. Seit diesem Herbst arbeitet die Rettungsstelle mit Signal e. V. zusammen. Ein Gewaltschutzteam aus Internist:innen, Gynäkolog:innen, Psychiater:innen, Unfallchirurg:innen und Pflegekräften hat sich gebildet, die ersten Schulungen mit dem Verein beginnen im Dezember. Das geschulte Team soll danach andere Mitarbeitende sensibilisieren, sodass zu jedem Tag- und Nachtdienst Personal vor Ort ist, das weiß, wie man Betroffene traumasensibel auf ihre Lage anspricht, an welche Hilfsstellen man sie verweisen kann oder wie eine gerichtsfeste Dokumentation durchzuführen ist.
Neben dem Vivantes Klinikum am Urban haben 4 weitere Krankenhäuser in Berlin ein solches Gewaltschutzteam mit Signal e. V. aufgebaut.
Zudem kooperiert die Klinik jetzt mit dem
Seit der Sensibilisierung durch Signal e. V. seien ihr und den Kolleg:innen bereits mehr Fälle von häuslicher Gewalt aufgefallen. Ein weiteres Indiz dafür, dass die Dunkelziffer immer noch hoch ist: »Wir legen jetzt Flyer in den Damentoiletten und Wartesälen aus. Darauf sind Anlaufstellen und Notfallnummern aufgelistet. Davon gehen echt viele weg. Und ich glaube nicht, dass Patientinnen sie nehmen, um ihre Kaugummis darin einzurollen.«
Ähnliche Berichte stammen von Jörg Reuter, Leiter der Zentralen Notaufnahme am Jüdischen Krankenhaus. Er hat bereits 2020 mit Signal e. V. ein Gewaltschutzteam aufgebaut. Das Jüdische Krankenhaus gehört damit zu den ersten in Berlin. Seitdem, sagt Reuter, hätten sie 1/3 mehr Fälle häuslicher Gewalt registriert. »Das heißt nicht, dass wir einen sprunghaften Anstieg an Fällen hatten, sondern wir kriegen es jetzt einfach mehr mit.«
Dorothea Sautter von Signal e. V. bestätigt: Wenn Gesundheitsfachpersonen zum Thema geschult und sensibilisiert seien, würden Betroffene häufiger erkannt und das Dunkelfeld werde sichtbarer.
Doch den wenigsten Krankenhäusern sei bewusst, wie wichtig ihre Rolle bei der Versorgung von Betroffenen sei – und auch dabei, das Thema zu enttabuisieren.
Es fehlen Personal, Zeit und Geld. Und trotzdem lohnt es sich
Auf die Frage, warum nicht alle Krankenhäuser in Berlin die nötigen Gewaltschutzkonzepte hätten, erklärt Marc Schreiner, Geschäftsführer der Berliner Krankenhausgesellschaft: »Die Beschäftigten in den Rettungsstellen begegnen Betroffenen mit Empathie und bemühen sich trotz hoher Arbeitsbelastung und Zeitdruck, Hilfsangebote zu unterbreiten. An Verbesserungen arbeiten wir. Hilfreich wären weitere Unterstützung für das Personal, weniger Bürokratie und mehr Investitionen, zum Beispiel in Räume, in denen vertraulich gesprochen werden kann.«
Im Moment erhalten Notfallambulanzen nur eine Pauschale für allgemeine Behandlungen, also zum Beispiel die Versorgung von einem Knochenbruch. Geld für eine Beratung zu möglichen Hilfsstellen in Fällen von Gewalt oder eine Dokumentation ihrer Verletzungen für ein späteres Gerichtsverfahren gibt es nicht.
Jenifer Kouzian erkennt im
Doch die Erfahrung zeigt: Gewaltschutzstrukturen aufzubauen und darin zu investieren, lohnt sich. Nicht nur für Betroffene, sondern auch für die Krankenhäuser und das Personal: »Es ist für uns Mitarbeitende im Jüdischen Krankenhaus eine Erleichterung, dass wir solche Strukturen haben«, sagt Reuter. »Nun kann ich eine Patientin mit viel besserem Gefühl wieder entlassen.«
Auch Kouzian vom Vivantes Klinikum am Urban berichtet: »Ich fühle mich jetzt viel sicherer im Umgang mit Betroffenen als früher.« Sie erhofft sich nach den kommenden Schulungen, noch mehr Präventionsarbeit und Hilfe bieten zu können.
Das Thema anzugehen, sei auch aus ökonomischen Gründen sinnvoll, sagt Kouzian: »Die mangelnde Sensibilität hat eine große Auswirkung auf das Gesundheitssystem, auch finanziell. Denn Frauen, die häusliche Gewalt erfahren, leiden häufiger unter Alkoholabhängigkeit, Drogenabhängigkeit oder Depression und Panikattacken.« Alles kostspielige Behandlungen.
Ein Grund mehr, das Tabu um Gewalt gegen Frauen in Gesundheitseinrichtungen endlich zu brechen. Nicht nur in Berlin.
Der Artikel erschien zuerst in gekürzter Form beim Tagesspiegel.
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