Eine Woche bei Mama, eine bei Papa: Tut das Kindern gut?
Die meisten Kinder in Deutschland leben nach einer Trennung fest bei einem Elternteil – meist der Mutter. Doch das Wechselmodell wird immer beliebter. Welche Folgen es hat und was Experten sagen.
Eine Woche bei Mama, eine Woche bei Papa. Für die kleine Carla aus Berlin ist dies seit 7 Jahren gelebte Realität. »Für uns war von Anfang an klar, dass wir unser Kind nach der Trennung im Wechselmodell erziehen wollen«, sagt Mutter Julia Stefanski.
Wechselmodell, das heißt: Kinder leben abwechselnd zu etwa gleichen Teilen bei den getrennten Elternteilen.
Diese Betreuungsform soll beiden Elternteilen eine gleichberechtigte Rolle in der Erziehung und den Kindern eine enge Beziehung zu beiden Bezugspersonen ermöglichen.
Welche Vor- und Nachteile bietet das Modell? Unter welchen Voraussetzungen kann es gelingen? Und wie wirkt es sich auf die Kinder aus?
Das Residenzmodell ist immer noch Standard
Carla ist eines von Millionen von Trennungskindern in Deutschland. Und
Das sieht auch Ragnar Vogt, Carlas Vater, so. »Es geht den Kindern so viel besser, wenn man sie nicht in einen Rosenkrieg hineinzieht und ein Elternteil – in der Regel der Vater – aus dem Alltag des Kindes verschwindet. Ein Kind braucht beide Elternteile«, betont er. Durch das Wechselmodell könne man den Trennungsschmerz für Kinder deutlich lindern.
»Man ist ein besseres Elternteil, wenn man sich selbst verwirklichen kann«
Kann das Wechselmodell eine Verunsicherung, die durch die Trennung der Eltern entstanden ist, ein Stück weit abfangen?
Der Kinder- und Jugendpsychologe Klaus Ritter ist seit über 30 Jahren als familienpsychologischer Sachverständiger für zahlreiche Familiengerichte tätig. In seiner Gemeinschaftspraxis in Kassel fertigt er Gutachten zu Fragen des Kindeswohls und zur Ausgestaltung des Umgangs an.
Auch er bewertet das Modell positiv. »Aus psychologischer Sicht hat das Wechselmodell grundsätzlich Vorteile für das Trennungskind«, sagt Ritter. Durch den häufigen Kontakt mit beiden Elternteilen habe das Kind die Möglichkeit, wichtige Bindungserfahrungen zu machen.
Grundsätzlich ist ein Wechselmodell produktiv, falls beide Elternteile in der Nähe wohnen und das Kind bereits einige Sicherheit im Umgang mit den Elternteilen erfahren hat.
Wenn ein Kind eine Woche beim Vater, eine bei der Mutter verbringt, gilt es, viele Absprachen zu treffen. Müssen sich die Eltern also gut verstehen, damit das Wechselmodell gelingen kann? »Nein«, stellt Vater Vogt klar. »Nach einer Trennung kann sich die neue Lebenssituation zunächst anfühlen wie ein Riesenberg voller Probleme. Das ist normal. Trotz alter Verletzungen, Sehnsüchte und Groll, den man hegt, sollte man aber das Kindeswohl nicht aus den Augen verlieren.«
Das Wechselmodell könne allen Beteiligten einen sicheren Rahmen bieten, mit Unsicherheiten umzugehen, meint Psychologe Ritter. Erlebe ein Kind dagegen jahrelang Streitigkeiten der Eltern, könne das Folgen für das
Julia Stefanski bringt die Vorteile für die Eltern auf den Punkt: »Wir haben viel mehr Freiräume und Zeit für Hobbys und Beruf als jemand, der alleinerziehend ist. Man ist ein besseres Elternteil, wenn man sich selbst verwirklichen kann und glücklich ist. Wenn es den Eltern gut geht, geht es auch den Kindern gut«, sagt die 36-Jährige, die selbst in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem es viel Streit gab.
Zwischen 25% und 30% aller Kinder verlieren bei Trennung den Kontakt zu einem Elternteil
Was weiß die Wissenschaft über das Wechselmodell? Dr. Stefan Rücker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Betreuungsformen. Er ist Leiter der
Durch die regelmäßige Interaktion mit beiden Elternteilen erleben Kinder oft eine stärkere emotionale Stabilität und weniger das Gefühl des Verlusts.
Internationale Forschung zeige zudem, dass Kinder im Wechselmodell im Vergleich zu anderen Betreuungsmodellen häufig eine bessere sozial-emotionale sowie kognitive Entwicklung durchliefen. »Verschiedene Studien belegen außerdem, dass das Wechselmodell einen Schutzfaktor vor dem Verlust von Kontakt und Bindung zu einem Elternteil darstellt«,
Das sei bei Trennung und Scheidung oft ein Problem. Zwischen 25% und 30% aller Kinder verlören in diesem Kontext den Kontakt zu einem Elternteil – besonders dann, wenn es Streit gebe und die Kinder in einen Loyalitätskonflikt gerieten.
»In solchen Fällen distanzieren sich Kinder häufig von einem Elternteil«, warnt Rücker. Im Wechselmodell, wenn Mutter und Vater gleichberechtigt Einfluss hätten, sei diese Gefahr deutlich geringer.
Herausforderungen des Wechselmodells
Die gemeinsame Tochter von Stefanski und Vogt ist heute 9. Bei der Trennung war sie gerade einmal 2 Jahre alt. Ein prägendes Alter. Zu früh für wechselnde Wohnorte, ein ständiges Hin und Her?
»Um es Carla am Anfang leichter zu machen, haben wir zunächst immer unter der Woche gewechselt, etwa nach 3 oder 4 Tagen. Bevor sie eingeschult wurde, haben wir auf das Wochenmodell umgestellt«, sagt Vogt.
Psychologe Ritter sieht die Umsetzung des Wechselmodells in den ersten 3 Lebensjahren kritisch, da die Anbindung an den primär erziehenden Elternteil in dieser Zeit besonders wichtig sei. »Ab dem Alter von 6 Jahren ist grundsätzlich ein häufigerer Wechsel möglich.« Noch wichtiger sei jedoch die Kontinuität und die Verlässlichkeit der Kontakte mit dem anderen Elternteil.
Ein zu häufiger Wechsel des Aufenthalts ist ein Stressfaktor für das Kind, welches sich jeweils auf die Entwicklung und Stimmungen der Elternteile einlassen muss. Hierfür sind längere zusammenhängende Zeitblöcke sinnvoll.
Das sieht auch Studienleiter Rücker so. »Häufige Wechsel, insbesondere bei jüngeren Kindern, können zu einem Gefühl der Desorientierung führen. Es kann die Routine der Kinder stören und emotionalen Stress auslösen, wenn das Modell nicht klar strukturiert ist.« Für frisch getrennte Eltern sei es entscheidend, ein Umfeld der Stabilität und Vorhersehbarkeit zu schaffen. Eine konsistente und strukturierte Planung der Wechselzeiten helfe den Kindern, sich sicher zu fühlen.
Wichtig ist, dass die Eltern die Bedürfnisse der Kinder über ihre eigenen Konflikte stellen und flexibel und kompromissbereit agieren. Besonders wichtig ist es, den Dialog zu wahren und klare Absprachen zu treffen, um das Kindeswohl immer im Vordergrund zu halten. Darüber hinaus sollten beide Haushalte möglichst ähnliche Alltagsstrukturen und Routinen bieten, um den Kindern den Übergang zwischen den Elternteilen zu erleichtern.
Dass Stefanski und Vogt nur 15 Gehminuten voneinander entfernt leben, vereinfacht die Umsetzung des Wechselmodells für sie. Eine Bedingung sei das nicht, aber es erleichtere das Gelingen sehr. »Als wir uns getrennt haben, haben wir vereinbart, dass unsere Wohnungen maximal 20 Minuten auseinanderliegen«, sagt Stefanski.
Sorgt das Wechselmodell für mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern?
Und es gab noch einen Punkt, der in den Vereinbarungen des getrennten Paares eine große Rolle spielte: »Für mich war es wichtig, dass wir eine faire Regelung finden, die sowohl für unsere Tochter als auch für mich als berufstätige Frau stimmig ist«, sagt Stefanski. Sie ist Projektmanagerin und gibt als Coach Einzelberatungen und Mediationen für andere getrennt lebende Eltern, die ebenfalls im Wechselmodell erziehen möchten.
Denn das immer noch vorherrschende Residenzmodell birgt ein Risiko: Alleinerziehende Mütter stecken oft in der Teilzeitfalle. Viele wollen mehr arbeiten, können es aber logistisch nicht stemmen. Damit gehen viele Probleme einher, die der Gleichberechtigung im Weg stehen. Stichwort: Gender-Pay- und Gender-Pension-Gap. Alleinerziehende tragen in Deutschland zudem ein wesentlich größeres Risiko, in Armut zu rutschen, als andere Bevölkerungsgruppen.
»Wir arbeiten beide, wir betreuen beide« – Julia Stefanski und Ragnar Vogt, Eltern im Wechselmodell
Im Wechselmodell muss auch Vogt seinen Teil beitragen. »Ich bin gegenüber Arbeitgebern aufgetreten wie eine klassische alleinerziehende Mutter«, sagt der Journalist und lacht. »Ich habe den Stift fallen lassen, wenn das Kind krank war, habe um Punkt 17 Uhr Feierabend gemacht, damit ich mein Kind abholen kann. Ich bin da keine Kompromisse eingegangen. Auch die Mutter muss hier hart bleiben und sagen: Nein, heute ist der Vater dran mit Abholen, falls das Kind krank ist.«
Nur so könne Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern erreicht werden. »Für uns ist klar: Wir arbeiten beide, wir betreuen beide«, sagt Vogt. Das habe jedoch auch Nachteile. »Da das Kind 2 Zuhause hat, benötigt es alles doppelt«, sagt Stefanski – angefangen beim Kinderzimmer. 2 Wohnungen zu finden, die ausreichend Platz für ein Kind bieten, sei bei den derzeitigen Mietpreisen gar nicht so einfach.
Welche Hindernisse gibt es noch?
Die Regeln für den Ablauf der Betreuung haben die Eltern von Carla aufgestellt. Mit zunehmendem Alter der Tochter und sich verändernden Rahmenbedingungen rund um Schule, Hobbys und Freundeskreis binden sie die Wünsche der Tochter jedoch mehr und mehr ein. »Carla hat letztens gesagt, sie genieße die Zeit, in der wir gemeinsam zu dritt etwas unternehmen, zum Beispiel Abendessen oder ins Kino gehen. Da fiel der Satz: Freitag ist der schönste Tag, weil ich da Mama und Papa sehe.« Ihr tue es gut, zu erleben, dass sich ihre Eltern verstünden.
Bei Stefanski und Vogt funktioniert das gleichberechtigte Erziehen nach Trennung seit bereits 7 Jahren. Ihr Fazit: Das Wechselmodell eröffnet viele Chancen, erfordert jedoch auch Organisation und Abstimmung.
Um typische Stolpersteine zu vermeiden und das Modell in die Praxis umzusetzen, helfen einige Tipps.
Mit diesen Tipps gelingt das Wechselmodell
1. Eine Mediation besuchen
Mediation kann dabei helfen, wichtige Fragen zu klären und Konflikte zu entschärfen. Eine professionelle Mediation unterstützt dabei, Kommunikationswege zu verbessern, gemeinsame Regeln festzulegen und auf die Bedürfnisse aller Beteiligten einzugehen. Die Mediation hilft beiden Elternteilen, eine Basis des Respekts und der Fairness zu schaffen.
2. Kommunikation als Schlüsselfaktor ernst nehmen
Offene und regelmäßige Kommunikation zwischen den Eltern ist essenziell. Hierfür können gemeinsame Kalender genutzt werden, um wichtige Informationen wie Arztbesuche, Schultermine oder Freizeitaktivitäten auszutauschen. Es hilft, regelmäßige Gespräche zu vereinbaren, in denen der Alltag und mögliche Herausforderungen besprochen werden.
3. Einen stabilen Rhythmus finden
Kinder profitieren von einem festen Wechselrhythmus, zum Beispiel wöchentlich oder alle 2 Wochen. Dadurch können sie sich besser an die Routinen in beiden Haushalten gewöhnen. Der Übergang sollte möglichst stressfrei gestaltet werden, zum Beispiel durch gemeinsame Übergaben oder eine kleine Willkommensroutine.
4. Konsistente Regeln und Rituale etablieren
Einige grundlegende Regeln und Rituale sollten in beiden Haushalten möglichst gleich sein – das schafft Sicherheit. Dazu gehören feste Zeiten für Schlafen, Essen oder Bildschirmzeit. Gleichzeitig sollten sich die Kinder jedoch auch auf individuelle Eigenheiten in beiden Haushalten freuen dürfen.
5. Finanzielle Fragen frühzeitig klären
Finanzielle Absprachen sind oft ein heikles Thema, aber im Wechselmodell wichtig, da beide Eltern in der Regel gleichwertig für den Unterhalt des Kindes aufkommen. Eine frühzeitige Klärung, wie die Kosten für Kleidung, Freizeitaktivitäten oder Schulmaterial aufgeteilt werden, kann spätere Konflikte verhindern.
6. Kinder in den Übergangsprozess einbeziehen
Den Kindern altersgerecht zu erklären, wie das Wechselmodell funktioniert und warum es so gestaltet ist, kann zu mehr Verständnis und Akzeptanz führen. Kinder profitieren oft davon, wenn sie wissen, was auf sie zukommt. Sie – je nach Alter – in die Planung kleiner Details wie den Kofferinhalt oder das Lieblingsspielzeug miteinzubeziehen, kann hilfreich sein.
7. Das Wohl des Kindes immer im Blick behalten
Das Wechselmodell erfordert eine ständige Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes, die sich je nach Alter und Lebensphase ändern können. Regelmäßige Gespräche mit dem Kind helfen, mögliche Belastungen früh zu erkennen und Anpassungen vorzunehmen.
8. Die eigenen Emotionen im Griff haben
Gerade wenn es Streit gibt, ist es wichtig, dass die Kinder nicht in Loyalitätskonflikte geraten. Enttäuschungen oder Frustrationen gegenüber dem anderen Elternteil sollten nicht vor dem Kind ausgetragen werden. Für getrennt erziehende Eltern kann es auch hilfreich sein, einen neutralen Ort für persönliche Gespräche und Konfliktlösungen zu finden.
Redaktionelle Betreuung: Katharina Wiegmann
Mit Illustrationen von Frauke Berger für Perspective Daily