Diese Operation könnte die Lebensqualität Hunderttausender in Deutschland verbessern
Auch in Deutschland leiden viele Mädchen und Frauen unter den Folgen von Beschneidung. Eine Berliner Ärztin hilft ihnen in einer besonderen Klinik – und stellt zum Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung Forderungen auf.
Mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind laut UNICEF von weiblicher Genitalverstümmelung (»female genital mutilation«, kurz FGM) betroffen. Die Dunkelziffer müsse weit höher liegen.
FGM wird meist im Kindesalter zwischen Geburt und dem zwölften Lebensjahr gewaltsam durchgeführt – häufig ohne Betäubung und unter unhygienischen Bedingungen. Mit einer Rasierklinge oder einem Messer entfernen die Beschneiderinnen die äußeren Genitalorgane, die Klitoris(-vorhaut), teilweise die inneren und äußeren Vulvalippen. Häufig wird die Wunde danach eng zusammengenäht, sodass nur eine winzige Öffnung bestehen bleibt. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Frau für die Ehe »rein« ist. Einen medizinischen Grund für den Eingriff gibt es nicht.
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird FGM in Ost-, Nordostafrika und einigen Ländern im Mittleren Osten und Asien praktiziert. Auch in Deutschland gibt es viele Betroffene:
Die Folgen von FGM können gravierend sein: Infektionen, starke Schmerzen, psychische Traumata, der Verlust sexueller Empfindsamkeit und Unfruchtbarkeit. In Deutschland ist FGM seit 2013 eine eigenständige Straftat, die mit bis zu 15 Jahren Gefängnis geahndet werden kann.
In den letzten Jahren hat das Thema politisch mehr Aufmerksamkeit bekommen – sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler Ebene.
Und es gibt noch eine gute Nachricht: Es ist medizinisch möglich, Anteile der Klitoris von Betroffenen zu rekonstruieren. Das Desert Flower Center Waldfriede (DFC) in Berlin
Cornelia Strunz
Cornelia Strunz ist Oberärztin, Fachärztin für Chirurgie und Generalsekretärin der Desert Flower Foundation Deutschland.
Dort arbeitet Cornelia Strunz. Sie ist die erste Anlaufstelle für Betroffene und begleitet sie durch den gesamten Prozess. Außerdem hält die Chirurgin Vorträge, gibt Fortbildungen, hat ein Fachbuch zu FGM veröffentlicht und ist Generalsekretärin der Desert Flower Foundation.
Im Interview spricht Cornelia Strunz über Scham, Traditionen – und warum es Umschulungen für Beschneiderinnen bräuchte.
Hannah Jäger:
Frau Strunz, Sie sind keine Gynäkologin, sondern Chirurgin. Wie sind Sie zu dem Thema FGM gekommen?
Cornelia Strunz:
Das Thema kam auf mich zu. Ich habe 2013 im Krankenhaus Waldfriede in der Abteilung für Darm- und Beckenbodenchirurgie angefangen. Eigentlich wollte ich dadurch später als Proktologin in einer Praxis arbeiten.
Das kam dann aber ganz anders: 2 Wochen nach meinem Arbeitsbeginn fragte mich mein Chef, ob ich mir vorstellen könnte, die Sprechstunde des weltweit ersten Zentrums für genital beschnittene Frauen zu leiten. Das wollte er im September 2013 eröffnen. Da habe ich sofort »Ja« gesagt.
Wie finden Betroffene den Weg in Ihre Sprechstunde?
Cornelia Strunz:
Oft werden sie in Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete von Sozialarbeiterinnen auf FGM angesprochen. Danach werden sie meistens gynäkologisch vorgestellt und teilweise dann an mich überwiesen. Nicht alle Frauen wollen operiert werden, manche benötigen »nur« einen Nachweis für das BAMF (das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), dass sie beschnitten sind, um Asyl zu bekommen. Andere wollen sich nur beraten lassen.
Welche Beschwerden haben diese Frauen, die in Ihre Sprechstunde kommen?
Cornelia Strunz:
Das ist ganz unterschiedlich. Manche Frauen mit FGM haben gar keine Beschwerden, die auf die Beschneidung zurückzuführen sind. Meistens hängen die Beschwerden vom Beschneidungsgrad ab.
Bei mir stellt sich ein bunter Blumenstrauß an verschiedenen Frauen vor. Manche jungen Frauen wissen gar nicht genau, was bei ihnen entfernt wurde und haben sich noch nie ihr Genital angeschaut. Andere sind wiederum aufgeklärt und können mir genau beschreiben, was mit ihnen passiert ist.
Viele leiden unter extremen Schmerzen, können sexuell kaum oder nichts empfinden, haben Probleme beim Wasserlassen, leiden an wiederkehrenden Infektionen und sind aufgrund der Beschneidung unfruchtbar.
Sie sprechen von Genitalbeschneidung. Handelt es sich nicht eher um eine Verstümmelung?
Cornelia Strunz:
Jede Form von FGM ist natürlich eine grausame Verstümmelung, allerdings verwende ich immer den Begriff, den die betroffenen Frauen selbst verwenden – und das ist meistens die Beschneidung.
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie in Ihrer Beratungsarbeit mit oft stark traumatisierten Frauen?
Cornelia Strunz:
Der Anfang des Gesprächs ist manchmal schwierig. Viele Frauen schämen sich, sind in sich gekehrt und können mir ihre Geschichte nicht direkt erzählen. Aber auch da habe ich mit den Jahren Wege gefunden.
Desert Flower Center Waldfriede
Das Desert Flower Center Waldfriede (DFC) wurde 2013 von Darm- und Beckenbodenchirurg:innen gegründet. Es ist Teil des Krankenhauses Waldfriede in Berlin. Zum DFC-Team gehören neben Ärzt:innen auch Physiotherapeut:innen, Sozialarbeiter:innen, Dolmetscher:innen und Berater:innen.
Wie gehen Sie vor?
Cornelia Strunz:
Ich spreche immer auf Augenhöhe mit der Frau, stelle mich als Dr. Conny vor und nehme mir viel Zeit. Ich fange ganz behutsam an zu erzählen, weshalb wir das Desert Flower Center errichtet haben, was wir hier anbieten. Und natürlich, dass ich sie untersuchen kann, wenn sie das möchte – aber ohne Instrumente und ohne dass Schmerzen durch meine Untersuchung entstehen.
Wenn sie das noch nicht möchte, erkläre ich ihr anhand des Vulvamodells, wie die normale Anatomie aussieht, was bei einer Beschneidung entfernt wird und welche Probleme das verursachen kann. Bei schwer traumatisierten Frauen hilft mir eine Kollegin, die Psychologin und Sexualtherapeutin ist. Wir arbeiten zum Glück Hand in Hand und können die Frauen so ganzheitlich betreuen.
Was sind die größten Ängste der betroffenen Frauen?
Cornelia Strunz:
Viele Frauen verbinden den gesamten Vulvabereich mit Schmerzen und haben große Angst vor einer Untersuchung. Ihnen wurde ja als Kind zwischen 4 und 14 Jahren die Klitoris, die Schamlippen, oder Teile davon, entfernt – das hinterlässt tiefe Traumata.
Neben der Angst vor Schmerzen, schämen sich viele Frauen. Sie haben oft das Gefühl, sich gegen ihre eigene Community aufzulehnen, wenn sie das rückgängig machen lassen, was ihnen damals angetan wurde.
Strunz gemeinsam mit Waris Dirie, Schirmherrin des Desert Flower Center.
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Quelle:
privat
Können »normale« Gynäkologiepraxen diese Arbeit überhaupt leisten?
Cornelia Strunz:
Das ist der Punkt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn die Kolleginnen und Kollegen überfordert sind mit der Diagnose FGM. Es fehlt an Aufklärung und Wissen darüber, wie man eine Frau darauf anspricht – und in einer Praxis fehlt es vor allem an Zeit.
Da haben wir zum Glück andere Kapazitäten: Bei uns geht es nicht darum, die Frau zu beraten, um sie dann für eine OP unterschreiben zu lassen. Allein das Erstgespräch dauert bei uns mindestens eine Stunde. Danach folgen viele weitere Termine.
Wie viele Frauen, die zu ihrer wöchentlichen Sprechstunde kommen, lassen sich am Ende operieren?
Cornelia Strunz:
Tatsächlich lässt sich nur 1/3 der Frauen operieren. Das liegt allerdings meistens nicht an Hemmschwellen, sondern an den unterschiedlichen Beschneidungsformen.
Das heißt, die Operation eignet sich nicht für alle betroffenen Frauen?
Cornelia Strunz:
Genau. Es gibt 4 Typen der weiblichen Genitalverstümmelung. Bei Frauen, die nach Typ I beschnitten sind, würde ich eher von einer Operation abraten, weil durch diese Narbenabtragung eine neue Narbe entstehen würde. Aber auch das kann man nicht pauschal sagen. Frauen, die nach Typ III beschnitten sind, profitieren meistens sehr stark von einer Operation.
Die 4 Typen der weiblichen Genitalverstümmelung
Die 4 Typen der weiblichen Genitalverstümmelung
Typ I: Die Klitoris wird teilweise oder ganz abgetrennt.
Typ II: Die Klitoris wird entfernt und die inneren Vulvalippen, in manchen Fällen auch die äußeren, werden ebenfalls abgeschnitten.
Typ IIII: Die Klitoris sowie die inneren und äußeren Vulvalippen werden entfernt. Danach wird die Vagina so zugenäht, dass nur noch eine kleine Öffnung für Menstruationsblut und Urin bleibt.
Typ IV: Der letzte Typ umfasst verschiedene Formen der Genitalverstümmelung, wie das Verätzen, Dehnen oder Einstechen der Klitoris.
Inwiefern?
Cornelia Strunz:
Nach der Operation können das Menstruationsblut und der Urin besser abfließen. Außerdem können sie dann wieder penetrativen Geschlechtsverkehr haben und bekommen dadurch die Möglichkeit, schwanger werden zu können.
Also kann die Operation die Lebensqualität der Betroffenen wirklich grundlegend verbessern.
Cornelia Strunz:
Auf jeden Fall. Viele Frauen wachen nach der Operation langsam auf und fangen an zu weinen. Wenn ich sie dann frage, ob sie starke Schmerzen haben, sagen sie oft: »Conny, für mich beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt.« Viele Frauen berichten mir danach in Sprechstunden, wie glücklich sie darüber sind, jetzt ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Das heißt, Sie sehen Ihre Patientinnen auch nach der Operation wieder?
Cornelia Strunz:
Ich spreche gar nicht von Patientinnen, sondern immer einfach von »meinen Frauen« – weil sie sich ja nicht »krank« fühlen. Uns ist es ein großes Anliegen, auch nach der Operation zu erfahren, wie es ihnen geht und wie der Heilungsprozess verläuft. Von daher bieten wir jeder Frau an, auch nach der Operation regelmäßig in unsere Sprechstunde zu kommen oder mich telefonisch zu kontaktieren. Dieses Angebot wird auch dankend angenommen.
2015 haben Sie auch eine Selbsthilfegruppe für FGM-Betroffene ins Leben gerufen. Was hat es damit auf sich?
Cornelia Strunz:
Seit Januar 2015 bieten wir einmal monatlich eine Selbsthilfegruppe an. Zu den Treffen kommen sowohl Frauen, die bereits von uns behandelt wurden, als auch jene, die noch Hilfe suchen.
Unter Anleitung werden Bewegungsübungen durchgeführt. Das Angebot der Selbsthilfegruppe wird dankbar angenommen, denn nicht alle Frauen wollen sich fremden Menschen gegenüber sofort offenbaren und nutzen die Samstage, um uns und das Desert Flower Center Waldfriede näher kennenzulernen.
Welche Rolle spielt die Gruppe für Betroffene, die vielleicht noch Angst vor einer Operation haben?
Cornelia Strunz:
Durch die regelmäßigen Treffen innerhalb der Selbsthilfegruppe werden Hemmschwellen gesenkt. Denn viele Frauen, die schon operiert worden sind, öffnen sich dort gegenüber den anderen und erzählen, wie es ihnen nach der Operation geht. Manchmal kamen dadurch neue Frauen in meine Sprechstunde – das freut mich natürlich.
Sie wollen auch präventive Arbeit leisten. Was meinen Sie damit?
Cornelia Strunz:
Ich rede mit den Frauen beispielsweise über ihre zukünftigen Kinder bzw. Töchter. Und es freut mich wirklich sehr, dass bei den Frauen, die ich behandele, ein klares Umdenken stattfindet und keine Frau ihre Tochter beschneiden lassen will.
Wie kann man FGM effektiv verhindern?
Cornelia Strunz:
Zwar ist in vielen Ländern FGM eine Straftat, aber es braucht in den einzelnen Ländern viel mehr Aufklärungsarbeit. Das versuchen wir zum Beispiel auch in unserer Partnerklinik in Eldoret in Kenia.
Viele Mütter denken, dass sie mit der Beschneidung das Beste für ihre Töchter tun. Und viele FGM-Betroffene sehen das auch so. Es muss also ein Umdenken stattfinden. In manchen uralten Traditionen gelten Frauen mit Klitoris als unrein und nicht keusch. Im Grunde genommen, müsste man die Beschneiderinnen umschulen. Denn das ist ein hoch angesehener Beruf in vielen afrikanischen Ländern. FGM muss endlich ins Medizinstudium integriert werden, damit mehr Ärztinnen und Ärzte über das Thema frühzeitig informiert werden.
Was braucht es hier in Deutschland für die wahrscheinlich über 100.000 Betroffenen?
Cornelia Strunz:
Auch in Deutschland fehlt es an Wissen und Aufklärung – vor allem unter Medizinern. FGM muss endlich ins Medizinstudium integriert werden. Oft kommen Frauen aus ganz Deutschland zu mir, weil es so wenige Praxen und Kliniken gibt, die den operativen Eingriff durchführen.
Haben Sie das Gefühl, dass es in den letzten 10 Jahren medizinische Fortschritte bezüglich FGM gab?
Cornelia Strunz:
Leider recht wenig. Das ist ein bisschen frustrierend, ehrlich gesagt. Wir geben unser Bestes und halten viele Vorträge für Medizinerinnen und Mediziner, wir haben ein Fachbuch zu dem Thema veröffentlicht und ich spreche zum Beispiel auch vor Medizinstudierenden über das Thema.
Was motiviert Sie dennoch?
Cornelia Strunz:
Dass ich jeder Frau einen Termin anbieten kann und sehe, wie glücklich Betroffene nach einer Operation sind.
Alles ist politisch. Davon ist Hannah als Politikwissenschaftlerin überzeugt. Sie interessiert sich besonders für soziale Ungleichheiten, Geschlechtergerechtigkeit und wie Medien diese kommunizieren. Dabei hat sie immer die deutsch-französische Brille auf und recherchiert am liebsten mehrsprachig, um Lösungen weltweit zu finden. Bei Perspective Daily möchte sie den Konstruktiven Journalismus erkunden und unterstützte die Redaktion im Zeitraum Januar–Februar 2023 als Praktikantin.