Was der Dieselskandal mit deinem Frühstück zu tun hat

Kartelle lohnen sich für Unternehmen – auch wenn sie bestraft werden. Das Problem ist unser Rechtssystem. Die Lösung auch.

5. Oktober 2017  –  8 Minuten

Die schlechte Nachricht zuerst: Bei jedem Einkauf zahlst du zu viel. Los geht das schon beim Frühstück. Jeder Biss von deinem Marmeladenbrot und jeder Schluck Kaffee ist sehr wahrscheinlich teurer, als er sein müsste. Der Grund dafür sind Wirtschaftskartelle. Unternehmen sprechen sich im Geheimen über Preise, Produktionsmengen oder die Aufteilung von Gebieten ab. Der entscheidende Mechanismus des Wettbewerbs – das Werben um Kunden im Preiskampf – wird so außer Kraft gesetzt. Mit solchen illegalen Absprachen versuchen Kartelle, sogar aus deinem Frühstück mehr Profit zu schlagen. Die Verlierer sind dabei immer die Verbraucher, also du und ich.

Wahrscheinlich merkst du es nicht einmal, wenn ein paar Cent oder Euro draufgeschlagen werden, aber Firmen machen damit Millionen. Die gute Nachricht: Kartelle sind nicht unverwundbar. Damit sie den Ermittlern ins Netz gehen, müssen diese verstehen, wie Kartelle funktionieren und welche Schlupflöcher ihnen das Rechtssystem bietet.

So funktionieren Kartelle

Wenn Hersteller und Händler in den Chefetagen Preiserhöhungen festlegen, wird der Aufschlag fast immer bis zum Kunden durchgegeben. »Die geschädigten Unternehmen leiten Kartellnachteile einfach an die Verbraucher weiter, indem sie die Preise erhöhen – etwa Kaufhäuser, die Waren wegen der Kartellabsprachen teurer einkaufen müssen«, weiß Jürgen Kessler, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin.

Der Letzte zahlt die Rechnung – und der Letzte ist immer der Verbraucher.Jürgen Kessler von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Laut treiben Kartellabsprachen die Preise für Produkte um 10–25% nach oben. Die EU-Kommission schätzt den jährlichen kartellbedingten Schaden in Europa auf rund

Das entspricht einem Anteil von 2,3% des europäischen

Es ist ziemlich sicher, dass auch du schon einmal Opfer eines Kartells wurdest. Denn es gab und gibt weit mehr illegale Preisabsprachen, als die meisten vermuten würden – bei fast allen Produkten und in fast allen Branchen – zum Beispiel bei und

Der gesamte Schaden, der durch Kartelle entsteht, ist nur schwer zu ermitteln, denn natürlich bleiben die meisten Kartelle geheim. Nicht umsonst treffen sich Manager für illegale Absprachen an ungewöhnlichen Orten wie Raststätten oder

Die Ökonomen der EU-Kommission schätzen, dass sie nur etwa 15% der existierenden Kartelle in Europa aufdecken. Doch selbst wenn ihnen die Ermittler auf die Schliche kommen, hat sich das illegale Geschäft für die Unternehmen meist gelohnt. Im Durchschnitt belaufen sich die Bußgelder nur auf 30% der aus den Absprachen erzielten Zusatzgewinne.

Nur wenige Kartelle werden aufgedeckt, und selbst dann bleiben die Bußgelder, die von den Wettbewerbsbehörden gegen die Unternehmen verhängt werden, meist hinter den Kartellgewinnen zurück. Kartelle lohnen sich für die Unternehmen.Jürgen Kessler von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Bundeskartellamt

So entwickelte sich die Anzahl der abgeschlossenen Fälle des Bundeskartellamts von 1994 - 2014. Aktuell scheint der Trend rückläufig: In den Jahren 2015 und 2016 wurden insgesamt 11 Fälle abgeschlossen.

Quelle: Bundeskartellamt

Welche Waffen haben wir gegen Kartelle?

Die in Deutschland und Europa ermitteln jedes Jahr gegen Hunderte Unternehmen. Auf den ersten Blick sieht ihre Bilanz gut aus. Bis 2012 stieg die Anzahl der vom Bundeskartellamt abgeschlossenen Kartellverfahren stetig an. 2007 waren es noch 3 abgeschlossene Verfahren. 2012 kommt das Amt auf ganze 17 – also knapp 6-mal so viele.

Verantwortlich für den scheinbaren Erfolg ist etwas, was oft als »Wunderwaffe« auf der Jagd nach Kartellen gepriesen wird: das Unternehmen melden den Wettbewerbshütern freiwillig ein Kartell, an dem sie beteiligt sind. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst: Dem ersten Kronzeugen kann das Ordnungsgeld komplett erlassen werden. Der zweite erhält im Bestfall 50% Nachlass. Und jeder weitere höchstens 20%.

»Das wichtigste Instrument zur Aufdeckung illegaler Absprachen ist die Bonusregelung.« – Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts

Tatsächlich wurden in den letzten Jahren nur wenige Fälle durch die Behörden selbst aufgedeckt. Während früher die Märkte beobachtet und Hinweisen von Dritten nachgegangen wurde, verlassen sich die Wettbewerbsbehörden heute vor allem auf das Kronzeugenprogramm.

Das Problem: Die Anzahl der aufgedeckten Fälle sagt wenig aus. Wie viele unentdeckte Kartelle es gibt, weiß niemand.

Einige Wettbewerbsforscher bezweifeln die Effektivität des Kronzeugenprogramms. So etwa Kai Hüschelrath, der ehemalige Leiter der Forschungsgruppe Wettbewerb und Regulierung am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung. Er sagt, dass die Kronzeugenregelung nur bei der Aufdeckung von Kartellen hilft, die sowieso auseinanderbrechen.

Die erfolgreichsten Kartelle werden im Regelfall nicht durch die Kronzeugenregelung aufgedeckt. Bei einem funktionierenden Kartell, mit dem die beteiligten Unternehmen signifikante Gewinne machen und keinen Grund haben, sich zu misstrauen, sehe ich für die Unternehmen – abgesehen von moralischen Erwägungen – keinen Grund, die Kronzeugenregelung zur Anwendung zu bringen.Kai Hüschelrath vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung

Manche Kritiker des Kronzeugenprogramms gehen sogar so weit, ihm Weil jedes Kartellmitglied die Absprachen mit einem Anruf in Brüssel verraten könnte. So liegt es eher im Interesse der Mitglieder, sich an Absprachen zu halten und die Partner nicht zu verärgern.

Was haben die Verbraucher gegen Kartelle in der Hand?

Wenn sich Kartellpartner doch einmal misstrauen, beginnt oft ein regelrechter Wettlauf zu den Behörden. In manchen Fällen gehen bei den Wettbewerbshütern im Sekundentakt belastende Dokumente ein. Denn entscheidend ist, wer zuerst petzt.

Auch bei dem sogenannten musste kürzlich überprüft werden, welche Selbstanzeige den europäischen Wettbewerbsbehörden als Erstes vorlag. Daimler machte dabei das Rennen – und kann nun auf einen Erlass des Bußgeldes der EU-Behörden hoffen.

Den Schaden haben, na klar, die Millionen enttäuschten Dieselfahrer in ganz Deutschland. Sie wurden schließlich von den Herstellern betrogen und würden gern klagen. Nicht umsonst war der »Dieselskandal« ein Wahlkampfthema. Damit sie das können, braucht es allerdings etwas, das während des TV-Duells zwischen Angela Merkel und Martin Schulz die Musterfeststellungsklage.

Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich ein simples Prinzip: Vor Gericht könnten Grundsatzfragen vieler Betroffener ohne großes Risiko für den Einzelnen gebündelt und in einem Verfahren geklärt werden.

Das Problem: Diese Art der Sammelklage ist noch nicht rechtmäßig in Kraft. Dabei wäre sie auch außerhalb des Dieselskandals dringend notwendig, denn allein klagen bringt nichts:

Kartelle sind für die Unternehmen schon deswegen ein lohnendes Geschäft, weil die Geschädigten nur in wenigen Fällen auch entschädigt werden. Theoretisch haben einzelne Verbraucher einen Schadensersatzanspruch. Aber sie müssen den Schaden erst einmal nachweisen. Und wer hebt schon die Rechnung auf, wenn er Kaffee, Wurst oder Bier kauft?Jürgen Kessler von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

Außerdem sei es aus Sicht der Verbraucher schlicht irrational zu klagen: Oftmals handelt es sich um Cent-Beträge. Allein der beträgt aber mindestens 45 Euro. Dazu trägt der Kläger auch das und muss sich auf einen jahrelang dauernden Rechtsstreit gefasst machen.

Das ist keinem Verbraucher zuzumuten.Jürgen Kessler von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin

CDU und CSU sahen das lange anders. In der letzten Legislaturperiode blockierten den Doch kurz vor der Bundestagswahl vollzog Angela Merkel einen Kurswechsel. In ihrem mit dem ZDF erklärte sie zur Einführung einer Art Sammelklage: »Im Grundsatz bin ich dafür.« Nur müsse der Entwurf verbessert werden. Er sei ihr zu bürokratisch.

Jürgen Kessler, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, bleibt skeptisch. Denn auch der letzte Koalitionsvertrag enthielt eine entsprechende Erwägung, ohne sie umzusetzen.

Doch ist die Musterfeststellungklage wirklich die Lösung aller Kartell-Probleme? Ja und nein. Tatsächlich könnte sie den Anreiz für Unternehmen senken, ein Kartell zu gründen. Denn sie müssten bei Auffliegen ihrer Absprachen nicht nur die (niedrigen) Bußgelder der Wettbewerbsbehörden, sondern auch immense Schadensersatzforderungen von privaten Klägern einkalkulieren.

Allerdings gibt es ein empfindliches Schlupfloch: ausgerechnet das Kronzeugenprogramm.

Warum Kronzeugen und Musterfeststellungsklage sich nicht vertragen und was wirklich helfen würde

Die neuen Probleme beginnen mit einer die mittlerweile auch in deutsches Recht umgesetzt wird. Durch sie werden Fordern die Kläger Akteneinsicht, bleibt ihnen so der Zugriff auf die wichtigsten Dokumente verwehrt.

Das Problem: Da durch den Schutz für Kronzeugen auch Papiere mit Beweisen für Schadensersatzforderungen zurückgehalten werden, nimmt das Geschädigten die Möglichkeit, gegen das entsprechende Unternehmen zu klagen.

Es könnte also passieren, dass du keinen Schadensersatz bekommst, nur weil du zufällig dein Auto von Daimler statt bei einem anderen Kartellhersteller gekauft hast – weil Daimler zuerst gepetzt hat. Das ist nicht besonders fair.

Was wirklich helfen würde, damit alle eine gerechte Chance auf Schadensersatz haben, ist ein Umdenken bei der Kartellbekämpfung, sodass ein Schaden gar nicht erst entsteht. Wie das geht?

  1. Kartellverfolgung scharf stellen: Die Behörden müssen aufhören, fast nur noch Fälle zu verfolgen, die ihnen auf dem Silbertablett serviert werden. Nur klassische Ermittlungsmethoden helfen auch gegen Kartelle, bei denen niemand petzt.
  2. Abschreckung durch harte Konsequenz: Illegale Absprachen dürfen sich nicht lohnen. Für eine hinreichende Abschreckung müssen die Bußgelder viel höher sein, um auch international operierende Konzerne zu beeindrucken. Aktuell wird die absolute Obergrenze von 10% des Jahresumsatzes des betroffenen Unternehmens fast nie erreicht.
  3. Manager direkt zur Verantwortung ziehen: Die Liste von Unternehmen, die illegal Preise absprechen, liest sich wie das Who’s who der deutschen Industrie. Doch die Kartellanten müssen sich selten persönlich vor Gericht verantworten – Kartellabsprachen sind in Deutschland keine Straftat. Die Monopolkommission fordert deshalb schon seit Jahren persönliche Strafen für Manager. Genauer gesagt: bis zu 5 Jahre Haft für Absprachen zum Nachteil der Konsumenten oder der Konkurrenz.

Als Vorbild für den Kampf gegen Kartelle könnten die USA dienen, in denen härtere Strafen gang und gäbe sind. Kartelltäter müssen dort im Schnitt 20 Monate Haft absitzen. Die Höchststrafe wurde 2004 sogar auf 10 Jahre Haft angehoben – mit Erfolg. Einige internationale Kartelle machten an den Grenzen der USA halt. Die Bilder von Vorstandschefs großer Konzerne, die in Handschellen abgeführt werden, wirken wohl ziemlich abschreckend. Irland und Großbritannien sind dem amerikanischen Vorbild bereits gefolgt. Doch in Deutschland fehlt anscheinend der Mut und der Wille, härtere Strafen durchzusetzen:

Ich bezweifele, dass die gesetzliche Drohung mit Haftstrafen tatsächlich zu einer höheren Abschreckungswirkung führen würde, als wir sie bereits haben. Die Kartellverfolgung funktioniert ja ausgesprochen gut. Die Wirtschaftsakteure und Anwälte wissen um unsere Effektivität – auch das ist Teil einer funktionierenden Abschreckung.Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts

Nicht alle Kartellanten lässt der deutsche Staat so einfach davonkommen. Absprachen bei öffentlichen Ausschreibungen durch staatliche oder halbstaatliche Stellen sind sehr wohl strafbar und werden dementsprechend geahndet. Ein kleiner Fortschritt wäre es bereits, wenn der Staat ähnlich hart durchgreift, wenn nicht er der Geprellte ist, sondern wir – seine Bürger.

Mit Illustrationen von Isabell Altmaier für Perspective Daily

von Lara Islinger 
Lara Islinger (sie/ihr) ist Aktivistin mit Schwerpunkt auf reproduktiver Gerechtigkeit und Abtreibung. In den letzten 2 Jahren arbeitete sie eng mit feministischen Organisationen und Kollektiven in Mexiko und den USA zusammen. Lara studiert Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und hat die Redaktion von Perspective Daily im August und September 2017 als Praktikantin unterstützt.
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