Wie weit würdest du gehen, um dich zu retten?
Wenn du zwischen Demokratie und Leben wählen musst …
Als ich am Morgen des 1. Mai 2018 aus unruhigen Träumen erwache, halte ich mein Handy fest umklammert. Nervös schaue ich auf den Ladekreis auf dem Display, bis die Ergebnisse der Neuwahl endlich erscheinen. Es ist tatsächlich passiert. Mit einer absoluten Mehrheit von 52,3% haben wir den Mann zum neuen Bundeskanzler gewählt, den vor wenigen Monaten noch niemand auf der Rechnung hatte.
Ich reibe mir die Augen und drehe mich zur Seite, um die Fernbedienung erreichen zu können. Egal auf welchem Programm – überall hallen mir die klaren Worte des »Schützers« entgegen. Gepaart mit seiner eindringlichen Rhetorik hat er binnen weniger Monate eine schlagkräftige Bewegung aus dem Boden gestampft.
»Unsere Bewegung, unsere Welt, unser Schützer!«
Seit Wochen marschieren seine Anhänger durch die Straßen, rufen in einer euphorisch-aggressiv aufgeheizten Stimmung den Leitspruch: »Unsere Bewegung, unsere Welt, unser Schützer!« Lehrerinnen, Kassierer, Studierende, Handwerker, Professoren, Linke und Rechte: Vereint durch Wut, Frust und das Gefühl, endlich Gehör zu finden.
Ihre Wut gilt den Ausbeutern, Egoisten und Eliten, die sich auf Kosten aller ins schier Endlose bereichern, die ihre und
All jenen, die sich skeptisch über den Schützer äußern, schlägt Wut entgegen. Wer etwas Kritisches in sozialen Medien postet, fängt sich Hunderte
Zu all dem hat der Schützer nicht aufgerufen – er verurteilt es aber auch nicht. Was er will, lese und höre ich seit Wochen auf allen Kanälen. Alle schreiben nur noch über ihn, alle Nachrichtensendungen drehen sich um seinen Aufstieg und seine Botschaft. Am Tag seines Triumphs wiederholt er es vor den Augen der Nation und der Welt:
Sicherheit! Gemeinschaft! Und Schutz vor der Zerstörung unserer Welt, unserer Heimat!
Auch wenn ich das große Ganze noch nicht durchdringen kann, ist klar: Ab heute gelten neue Regeln.
Ein scharfes Feindbild
Der Schützer hat seinen Anhängern schnell klargemacht, wer schuld an ihrer Misere ist. »Die Reichen, die da oben, die ein Leben in Saus und Braus führen, als gäbe es keine Probleme auf der Welt. Die ihre Entscheidungsmacht fortwährend ausnutzen, um sich zusätzliche Vorteile zu verschaffen. Die ihre glamourösen Partys auf Kosten aller anderen feiern.
Konkret bedeutet das: Alle, die das anders sehen und dem Schützer gegenüber skeptisch sind, gehören diesem Gegner an – sind Feinde der Bewegung. Wer sonst sollte sich einem Mann entgegenstellen, der das Wohl aller im Sinn hat? Du bist für den Schützer – und
Wer unsere Welt nicht schützen will, will sie zerstören! Wer nicht Teil unserer Bewegung sein will, verfolgt nicht das Wohl aller, sondern sein eigenes!
Eine neue Leitkultur
Natürlich dient der Schützer nicht sich selbst, sondern einem höheren Zweck: der Natur. Die Wahrung und Wiederherstellung der Natur ist der Kern der neuen Leitkultur. Dieses Ideal wird überall propagiert: Bücher, Filme und Musik, Kunst und Kultur werden nach den Werten sortiert, die sie übertragen. Achtsamkeit und solidarisches Miteinander werden bis ins Komische gepredigt. Aber niemand weiß, ob er darüber lachen sollte.
Für den öffentlichen Rundfunk, Printmedien und Fernsehen gelten nun strenge Gesetze, die sicherstellen, dass Protagonisten keinen unachtsamen Umgang mit der Welt vorleben, sondern sich vorbildlich verhalten.
Wer die Welt schützt, indem er den Schützer unterstützt, macht es richtig. Alle anderen machen es falsch.
Die Museen zeigen Ausstellungen zum Naturalismus, der die natürliche Vollkommenheit als ästhetische Grundlage nutzt. Jede Werbung ist staatlich reguliert und muss einen strengen Autorisierungsprozess durchlaufen. Nur wenn sichergestellt ist, dass die Werte der Bewegung nicht infrage gestellt oder gar verletzt werden, wird sie genehmigt.
Am leichtesten lässt sich die Weltsicht den Jüngeren vermitteln: In den Lehrplänen dreht sich alles um den Schutz der natürlichen Welt und nachhaltiges Wirtschaften. Fächer, die zunächst kompliziert und anstrengend für Kinder klingen, sind auf einfache Formeln reduziert.
Es ist ja auch ganz einfach: Wer die Welt schützt, indem er den Schützer unterstützt, macht es richtig. Alle anderen machen es falsch.
Eine klare Ordnung
Was seinen Anhängern das Funkeln in die Augen treibt, sind nicht nur die klaren Worte des Schützers, sondern auch seine klare Linie: Den Bürokratieabbau, den Regierung nach Regierung gefordert hat, ohne zu liefern, erledigt er mit einem Federstrich:
- Alle Posten im Haushalt des Sozialministeriums werden gestrichen und durch ein
- Der größte Teil des komplexen Steuergesetzes kommt in den Schredder. Unter 25.000 Euro Jahreseinkommen fallen keine Steuern an, wer über 150.000 Euro im Jahr verdient, gibt jeden weiteren Euro ab.
- Komplizierte Preis- und Finanzierungsmodelle im öffentlichen Nah- und Fernverkehr haben ausgedient. Der Staat finanziert einen freien, kostenlosen Zugang.
- Das Durcheinander bei der Mehrwertsteuer wird beseitigt – indem sie
- Auch das Privileg, mit einer privaten Krankenversicherung eine
Noch befreiender als die Ordnung im Staat ist die neue Ordnung in den Herzen: Die Anhänger stehen auf der richtigen Seite der Geschichte und wissen genau, was sie zu tun haben. Die einzige Regel, die wirklich zählt: »Folge dem Schützer!«
Seine Anhänger erhalten Anerkennung und können ihre moralische Überlegenheit zur Schau tragen. Ein einfaches Markierungssystem erlaubt es allen Menschen, ihre Gesinnung deutlich zu machen: Blaue Armbinden für die Anhänger signalisieren Zugehörigkeit und machen auch Fremde zu Schwestern und Brüdern. Je tiefer das Blau auf dem Arm, desto bedingungsloser die Gefolgschaft.
Die Anhänger seiner Bewegung feiern die »Geschenke« des Schützers. Er hält seine Versprechen, nimmt es denen da oben und gibt es zurück. Jeder kann mitmachen:
Jeder kann aufwachen und an unserer, der richtigen Seite stehen. Auf welcher Seite steht ihr?
Strenge Kontrolle
Die neue Ordnung macht aus vielen Gewinner, die sich zuvor als Verlierer fühlten. Sie dürfen sich nun all jenen überlegen fühlen und die Marschroute erklären, die zuvor im SUV vorbeirauschten und ihnen, den in der Kälte an der Bushaltestelle Wartenden, die Abgase ins Gesicht bliesen. Wer jetzt auch nur einen Zigarettenstummel auf den Bordstein wirft, kann »nach Ermessen« gemaßregelt werden.
So überrascht es nur wenige, als der Schützer bekannt gibt, was viele vermutet haben. Das Bekenntnis zu ihm und seiner Bewegung soll nicht verborgen bleiben. Jeder soll sich in einem formellen Bekenntnisschwur unter Zeugen zur Gefolgschaft bekennen dürfen. Es herrscht kein Zwang. Doch wer den Schwur verneint oder fernbleibt, hat mit unklaren, aber sicher schwerwiegenden Konsequenzen zu rechnen.
Vom Kleingedruckten der neuen Regeln, das weniger laut gefeiert wurde, sind viele der Anhänger überrascht:
- Der private Kauf und
Ablehnung oder Verwunderung darüber wagt allerdings kaum jemand offen zuzugeben; zu groß sind die Furcht und Ungewissheit vor den Folgen, den Schützer offen zu kritisieren.
Immer wieder kursieren Geschichten von Menschen, die die strengen Regeln und Verhaltenscodes missachtet haben und daraufhin verschwanden. Einige tauchen verwirrt und verlottert wieder auf, ohne zu wissen, was ihnen eigentlich widerfahren ist. Es sind Geschichten, die für viele ausreichen, um sich in der neuen Ordnung einzurichten, wenn auch mit ein wenig Bauchschmerzen.
Was ist passiert?
All das kann ich am Morgen nach der Wahl nicht vorhersehen. Das Gefühl, dass gerade etwas passiert ist, das unser aller Leben verändert, sitzt aber tief.
Als jemand, der sich schon lange eine konsequentere Zukunftspolitik wünscht, halte ich einige Vorschläge des Schützers für notwendig und richtig. Gleichzeitig wird mir flau, wenn ich in die irren Augen einiger Anhänger sehe, die ihm blind folgen.
Führt der einzige Weg zur Vernunft wirklich über diesen Wahnsinn? Ist die Chance, freiwillig umzusteuern, tatsächlich verstrichen?
Was wir uns dabei gedacht haben?
Normalerweise lassen wir unsere Texte für sich selbst sprechen. In seltenen Fällen wie diesem möchten wir ein paar erklärende Worte zur Idee und Motivation nachreichen: Wir beschäftigen uns sehr viel mit dem Klimawandel und sind überzeugt, dass der Großteil der Menschen sich nicht über das Ausmaß der Herausforderung im Klaren ist. Nicht darüber, wie verheerend die Auswirkungen sein werden, nicht darüber, dass sie schon da sind und wie schnell sie noch kommen werden, nicht darüber, wie umfassend wir jetzt sehr schnell Alltägliches verändern müssen –, aber auch nicht darüber, wie viele gute Lösungen genau dafür bereits auf dem Tisch liegen, die wir aus Gewohnheit und Bequemlichkeit dort liegen lassen.
Vor genau einem Jahr haben wir deshalb
Wir wissen, dass die Vision, die wir hier zeichnen, umstritten sein und einigen sauer aufstoßen wird. Unser Ziel ist es aber, Diskussionen anzustoßen. Wenn Du dich also über diesen Text ärgerst (ihn für fahrlässig oder sonstiges hältst) – atme einmal tief durch. Dann schlucke deinen Ärger nicht herunter, sondern klicke auf den Diskussions-Button und steig direkt in die Diskussion ein, die wir viel zu selten führen: Wohin führt uns der Klimawandel?
Mit Illustrationen von Malte Zirbel für Perspective Daily