Die schlechte und die gute Nachricht zur Lage der Demokratie
Es gab noch nie so viele Demokratien wie heute. Aber sie werden seit 10 Jahren immer weniger demokratisch. Grund zur Panik ist das jedoch nicht.
Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren so viele Länder wie heute demokratisch. Nie zuvor sind so viele Menschen in den Genuss freier Wahlen gekommen.
Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Demokratien werden immer weniger demokratisch, wir erleben »die schlimmste Krise der Demokratie in Jahrzehnten«, so die Freedom House Foundation in ihrem
Mehr Demokratien, die weniger demokratisch sind – wie passt das zusammen? Was hat es mit diesen Daten auf sich?
Der Unterschied zwischen »Demokratie« und »Freiheit«
Ich habe mir 4 unterschiedliche Datensätze angeschaut, die Demokratie und demokratische Rechte weltweit messen:
Während REIGN und PolityIV zu dem Ergebnis kommen, dass die Demokratie weiterhin konstant auf dem Vormarsch ist, sehen der »Freedom in the World«-Bericht und der Democracy Index die Demokratie seit mehr als 10 Jahren in der Krise.
Dahinter stehen unterschiedliche Auffassungen von Demokratie:
- Technische Demokratie: PolityIV und REIGN interessieren sich ausschließlich dafür, ob es demokratische Wahlen gibt und ob die Regierungsführung demokratischen Prinzipien entspricht, etwa weil die Regierung durch ein unabhängiges Parlament kontrolliert wird. Deutschland beispielsweise bekommt von REIGN und PolityIV schon seit Jahren konstant die Bestnote.
- Liberale Demokratie: Der »Freedom in the World«-Bericht und der Democracy Index spiegeln dagegen das Ideal der »liberalen« Demokratie wider. Für sie ist Demokratie auch die empfundene Teilhabe aller Bürger an Gesellschaft und Politik. In Zeiten der gefühlten Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern sowie
Im Democracy Index ist Deutschland seit 2006 von 8,82 Punkten auf 8,61 Punkte gesunken. Die USA hat es noch schlimmer erwischt: Weil das Land um 0,24 Punkte auf 7,98 Punkte abgerutscht ist, bewertet der Democracy Index die Amerikaner jetzt als »fehlerhafte Demokratie«. Und auch Freedom House bewertet die USA nicht mehr mit der Bestnote 1, sondern mit 1,5, wobei das immer noch für die Klassifizierung »frei« reicht.
Also: Gibt es jetzt eine »Krise der Demokratie« oder nicht?
Panik ist nicht angebracht
Allen 4 Datensätzen zufolge gehören Länder wie die Türkei, Russland oder Venezuela zu den größten Verlierern. Das wird kaum jemanden wundern, denn die zunehmenden Einschränkungen demokratischer Rechte durch Erdoğan, Putin, Maduro und Co. sind bekannt.
Das schlägt sich auch in den Zahlen nieder: Weil einige wenige Länder in den Indizes innerhalb der letzten Jahre stark abgestürzt sind, dominieren sie auch den Durchschnitt dieser Daten. Aber bei genauer Betrachtung der Zahlen fällt auf, wie wenig dramatisch die Entwicklung im Rest der Welt selbst aus Sicht des »Freedom in the World«-Berichts und des Democracy Index ist. Beide zeigen seit Mitte der 2000er-Jahre zwar insgesamt eine weltweite »demokratische Rezession«. In den gefestigten Demokratien Westeuropas und Nordamerikas beschränkt sich der Rückgang aber auf wenige Stellen nach dem Komma.
Andere Erdteile wie Südamerika und Subsahara-Afrika sind in derselben Zeit unterm Strich deutlich demokratischer geworden. Das gilt vor allem dann, wenn man eine Handvoll Krisenstaaten herausrechnet.
Das Problem ist also nicht, dass Demokratie und Freiheitsindikatoren in einigen Ländern in den vergangenen 15 Jahren leicht zurückgegangen sind. Das Problem ist vielmehr, dass die Demokratisierung weltweit an eine gläserne Decke gestoßen ist.
Warum die gläserne Decke das eigentliche Problem ist
Blicken wir zurück in das Jahr 1975: Nur 36 Nationen waren damals demokratisch, wenn man den Zahlen von PolityIV glaubt. Südafrika, Brasilien, Spanien und viele weitere Länder wurden durch autokratische Regime regiert. Aber in den folgenden 3 Jahrzehnten gab es eine globale demokratische Revolution. Bis zum Jahr 2005 schafften laut PolityIV 57 Länder den Sprung von der Autokratie zur Demokratie, REIGN zählte im selben Zeitraum sogar 69 Länder. Und die »Freedom in the World«-Wertung stieg zwischen 1975 und 2005 vom schlechtesten auf den besten jemals gemessenen Wert.
Die Frage ist nicht, warum manche Indizes seit 2005 einen leichten Rückgang zeigen. Viel wichtiger ist doch die Frage, warum sich die demokratische Revolution nicht fortgesetzt hat.
Vermutlich gibt es gleich mehrere Gründe:
- Aufstieg der neuen Autokratien: China und Russland stehen stellvertretend für den Aufstieg einer neuen, pragmatischen Form der Autokratie. Ohne Behinderung durch ideologisches Gepäck, aber mit natürlichen Rohstoffen arbeiten diese Staaten gezielt daran, die Ausbreitung der Demokratie zu unterbinden. Denn diese wird von den etablierten Führungseliten dieser Länder als existenzielle Gefahr wahrgenommen.
- Wegfall des Systemkonflikts: Das Ende des Kalten Krieges ermöglichte in den 90er-Jahren zwar einer ganzen Reihe von Ländern den Sprung in die Demokratie, stoppte aber auch den Wettstreit der Systeme zwischen Ost und West. Ohne die Konkurrenz mit dem Sozialismus schwächten die etablierten Demokratien ihre Sozialsysteme und liberalisierten ihre Marktwirtschaften. Entwicklungsländer wurden zu schmerzvollen Strukturanpassungsmaßnahmen gezwungen. Seit dem 11. September verwischen zudem immer neue Sicherheitsgesetze die Grenze zwischen Rechts- und Überwachungsstaat. Die Ausbreitung der Demokratie stößt an ihre Grenzen, weil sie sich selbst unattraktiv gemacht hat.
- Die Abkehr der USA von der Welt: Mit den USA hatte die Welt über Jahrzehnte eine Supermacht, die die Verbreitung demokratischer Werte als Teil ihrer Staatsräson betrachtete. Dieses Selbstverständnis war durchaus problematisch. Aber es ist auffällig, wie sehr der Beginn der demokratischen Stagnation mit dem Beginn des amerikanischen Rückzugs als Sturmgeschütz der Demokratie übereinstimmt. Waren es zu Beginn der »Krieg gegen den Terror« und Drohnenschläge, die die moralische Lufthoheit der USA irreparabel beschädigten, hat diese Entwicklung mit Präsident Trumps »America First«-Politik und -Rhetorik ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden. Vielleicht fehlt es der Demokratie schlicht an einer Leuchtturmnation, die bereit ist, demokratische Werte und Systeme weltweit zu fördern und einzufordern.
- Zu enges Demokratieverständnis: Wir denken Demokratie noch nicht kreativ genug. Staaten, die versuchen, europäische oder nordamerikanische demokratische Verfassungen zu imitieren, scheitern oft an diesen Experimenten. Die ehemaligen afrikanischen Kolonien Frankreichs kopierten größtenteils dessen Verfassung, gelten heute aber als wesentlich instabiler als andere afrikanische Länder. Auch wenn man dem Ideal der »liberalen« Demokratie verhaftet bleibt, müssen Länder für eine erfolgreiche Demokratisierung ihre Form der politischen Partizipation stärker selbst entwickeln. Ein gutes Beispiel ist die Verfassung Südafrikas: Sie ist maßgeblich bestimmt von der Erfahrung des Landes mit der jahrzehntelangen Apartheid und der Notwendigkeit, mehr als 10 Sprach- und Kulturgruppen zu vereinen.
Die wichtigste Lehre der Datensammlungen zur Gesundheit der Demokratie ist also, dass wir unseren Blick über den engen Zeithorizont der letzten 10–15 Jahre hinaus weiten müssen. Anstatt uns über jede Provokation eines AfD-Hinterbänklers zu echauffieren oder darauf zu warten, dass die USA wieder zu Sinnen kommen, sollten wir darüber nachdenken, warum die Demokratie weltweit so wahnsinnig erfolgreich war – und warum sie diesen Trend seit dem Jahr 2005 nicht fortsetzen konnte.
Und wenn dir das nächste Mal eine Schlagzeile begegnet, die den Niedergang oder Triumph der Demokratie verkündet, dann schaue genauer hin. Abhängig davon, welches Bild du selbst von einer guten Demokratie hast, erzählen die Daten vielleicht eine ganz andere Geschichte als die Überschrift.
Titelbild: Pexels / Porapak Apichodilok - CC0 1.0