Hat Deutschland riesige Angst?
Gerade ist Deutschland sich nicht sicher, ob es fürchterliche Angst haben sollte. Die ungewisse Stimmung in der Gesellschaft hat viele Gründe – an jedem einzelnen können wir arbeiten.
Am Horizont stand ein Riese von so ungeheurer Größe, dass selbst das himmelhohe Gebirge »Die Krone der Welt« neben ihm wie ein Haufen Streichholzschachteln gewirkt hätte. Offenbar war er ein sehr alter Riese, denn er hatte einen langen weißen Bart, der ihm bis auf die Knie herabhing und merkwürdigerweise zu einem dicken Zopf geflochten war.
So beschreibt Michael Ende in seinem Jugendroman Michael Ende: »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«, Thienemann-Esslinger Verlag »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« den Scheinriesen im Sechzehnten Kapitel, in dem Jim Knopf eine wesentliche Erfahrung macht. Als der Held des Romans den Riesen erblickt, ist seine erste Reaktion: »Schnell fort, Lukas! Vielleicht hat er uns noch nicht gesehen!«
Jim Knopf hat Angst. In ihrer ursprünglichen Form ist Angst ein durchaus gesunder
der uns vor Gefahren, wie Raubtieren oder eben einem womöglich menschenfressenden Riesen am Horizont, schützen soll. Nur gibt es in Deutschland keine Riesen, neben denen die Alpen oder der Harz wie Streichholzschachteln wirken.
Trotzdem gaben im Dezember Repräsentative Umfrage vom Institut für Zukunftsfragen repräsentativen Umfrage an, mit Angst ins neue Jahr 2016 zu starten. Die Angst vor Terror stieg in den vergangenen Monaten konstant, laut ARD Deutschlandtrend August 2016 ARD Deutschlandtrend erreichte sie im August mit einen vorläufigen neuen Höchststand. Das hängt direkt mit den Ereignissen von zusammen. Bei so einer Serie von Bluttaten kann es einem angst und bange werden. Wann ist das endgültig vorbei? Und warum nehmen wir unzusammenhängende Einzel-Ereignisse überhaupt als Serie wahr? Über das so genannte der Ereignisse, ihre Auswirkung auf die Stimmung im Land, aber vor allem über Methoden zur kollektiven Angstbewältigung habe ich mit der promovierten Sozialpsychologin Beate Küpper gesprochen. Sie hat in Mönchengladbach an der Hochschule Niederrhein eine Professur für »Soziale Arbeit in Gruppen- und Konfliktsituationen« inne.
der Befragten bei einer»Diese Anschläge waren sehr unterschiedlich und sind von sehr unterschiedlichen Menschen begangen worden – trotzdem wurden sie »geframed« mit dem Thema Geflüchtete«, sagt Beate Küpper. »Dabei haben einige der Taten gar nichts mit dem Geflüchtet-Sein zu tun.« Reutlingen sei in die Serie aufgenommen worden, da der Täter Syrer war, sagt Küpper – »der Rentner, der einen
hat, ist nicht mit reingekommen, weil er keinen Migrationshintergrund hat.«Beate Küpper vermutet, dass der Amokläufer von München nicht in diese Auflistung gekommen wäre, wenn er einen deutsch-deutschen Hintergrund gehabt hätte. Sind umgekehrt also diese wackeligen Querverbindungen mitverantwortlich für unsere Verunsicherung? »Das Bedrohungsszenario bekommt dauernd Nahrung, weil die
es füttert«, sagt die Sozialpsychologin. Ein Teil der Angst liegt also einem vermeintlichen gemeinsamen Nenner zugrunde und projiziert aufgrund dieser unpassenden Kategorisierung die Terrorangst direkt auf Geflüchtete.Können Menschen ein Tsunami sein?
Dass der Terror nun auch Deutschland treffe, ist eine Worte, die Angst auslösen: Flut, Welle, Tsunami
»Flüchtlingswelle«: Allein die Wortwahl, die nicht nur rechtspopulistische Politiker benutzten und manche Medien übernahmen, kann Angst auslösen: Flut, Welle, Tsunami. Beate Küpper lehnt ihre Definition an das an: »Angst ist eine Folge der subjektiven Bedrohungsinterpretation und gleichzeitig einer geringen Einschätzung, dass man die Bedrohung bewältigen kann.« Darin stecken 2 wichtige Teilaspekte: Eine große (gefühlte) Bedrohung und wenig Vertrauen, sie zu bewältigen. Welcher sprachliche Vergleich könnte da mehr Angst auslösen als der eines Tsunamis?
Mehr noch als Tausend Worte sagten die Bilder, die Pressefotografen und Kameramänner lieferten: Wenn eine größere Gruppe Geflüchteter unterwegs war, wählten einige den Bildausschnitt so, dass der Betrachter wirklich den Eindruck einer nie versiegenden »Flüchtlingsmasse« bekommen konnte. »Massen sind uns unheimlich – und wenn die Menschen dann auch noch ungeduscht sind, weil sie wochenlang unterwegs waren, finden wir sie eklig«, erklärt die Sozialpsychologin.
Trotzdem bewies ein großer Teil der deutschen Gesellschaft Solidarität, Herzenswärme und verbreitete eine gewisse Willkommenskultur. Ein kleiner, aber überproportional lauter Teil stellte sich dagegen, gab sich besorgt. Ängstlich? Mehr dazu später.
Die Allensbach-Umfrage »Diffuse Ängste« vom Februar 2016 im Auftrag der F.A.Z. Allensbach-Umfrage 9% der Befragten »sehr bedroht«, etwa die Hälfte fühlte sich zumindest »etwas bedroht«. Laut der Umfrage hatte bis dahin jeder bzw. jede vierte Deutsche im Zusammenhang mit der »schon mal Angst gehabt«. 60% bereitete im Februar 2016 »die Flüchtlingssituation große Sorgen«.
verschob dann die Proportionen. Im Februar 2016 fühlten sich in einer repräsentativenHaben »besorgte Bürger« Angst?
Mein kompletter Text über Beatrice bei Correctiv Gelsenkirchen, ein sonniger Apriltag: »Es wird so weit kommen, dass man im Hellen nicht mehr über die Straße gehen kann«, sagt Beatrice. Das heißt, sie bellt diese Sätze, denn sie ist wütend. Ich treffe die kleine, resolute Frau bei meiner auf der ich herausfinden will, wovor die Menschen Angst haben. Bei Filterkaffee und Merci-Schokolade in einer Gelsenkirchener Bäckerei rechnet die 58-Jährige ab: Mit der Politik, die sich selbst die Taschen vollmache, Langzeitarbeitslose (zu denen sie bis vor einem Jahr auch gehörte) unzumutbar behandele und überhaupt den Kontakt zum Volk verloren habe. »Manche Flüchtlinge sind arm dran, aber es kann nicht sein, dass die nach Deutschland kommen und unsere Einheimischen in der untersten Schublade landen«, sagt Beatrice.
In den Gesichtern bei Pegida ist viel Wut – Angst sieht anders aus.
Und damit zurück zu den »besorgten Bürgern«. Beate Küpper erklärt: »Es wurde über Ängste gesprochen, ohne zu schauen: Was ist dabei überhaupt Angst, was sind andere Emotionen?« Oft ginge es vielmehr um den Erhalt der eigenen Privilegien. »Wenn Sie in die Gesichter bei Pegida schauen, sehen Sie da ganz viel Wut«, sagt die Sozialpsychologin.
Gibt es sie also überhaupt, die viel beschriebene »German Angst«? Zumindest unter den Lesern von Perspective Daily fällt sie überschaubar aus: Zwei Drittel fühlten sich in einer nicht repräsentativen Umfrage mit 1.232 Perspective Daily-Mitgliedern und
sicher bis sehr sicher. Dass ihre Angst nach den jüngsten Ereignissen stärker geworden sei, sagten immerhin 21% – drei Viertel gaben jedoch an, sie sei gleich geblieben. Und die meisten, die an der Umfrage teilgenommen haben (84%), finden sowieso, die Angst in der Gesellschaft werde medial übertrieben dargestellt.
Aber: Unsere Umfrage ist nicht repräsentativ. Anfang August zeichnet der bereits erwähnte ARD Deutschlandtrend August 2016 ARD Deutschlandtrend ein umgekehrtes Bild: 76% hatten Anfang August Angst vor Terror. Bei vielen Bürgern, Polizisten und Journalisten liegen die Nerven blank – so löste am vergangenen Sonntag in der Saarbrücker Innenstadt eine einen SEK-Einsatz aus, der wiederum Übermedien über die mediale Panikmache in Saarbrücken Liveberichterstattung und internationales Medienecho nach sich zog.
Der Riese kam Schritt für Schritt näher und bei jedem Schritt wurde er ein Stückchen kleiner. Als er etwa noch hundert Meter entfernt war, schien er nicht mehr viel größer zu sein als ein hoher Kirchturm. Nach weiteren fünfzig Metern hatte er nur noch die Höhe eines Hauses. Und als er schließlich bei Emma anlangte, war er genauso groß wie Lukas der Lokomotivführer.
Der Riese, der sich Jim und Lukas als Herr Tur Tur vorstellt (»Mit Vornamen heiße ich Tur und mit Nachnamen auch Tur.«), ist in Wahrheit ein Scheinriese.
So wie wir aus der Ferne betrachtet winzig klein aussehen, scheint Herr Tur Tur, wenn er weiter weg ist, riesig groß zu sein. Seine Besonderheit macht ihn sehr einsam, denn schon wenn die Menschen ihn in weiter Ferne erblicken, bekommen sie Angst vor dem Scheinriesen. Damit er möglichst niemanden verängstigt, lebt Herr Tur Tur als Einsiedler in der Wüste.
Die Angst ist ein Scheinriese
Auch Jim Knopf fürchtete sich bis eben noch vor dem Riesen am Horizont, bevor seine Angst mit jedem Schritt der Annäherung kleiner geworden ist. »Man nähert sich Schritt für Schritt der Angst an.«
Diese Art der Angstbewältigung nennt Sozialpsychologin Beate Küpper »Man nähert sich Schritt für Schritt der Angst an.« Wer zum Beispiel Höhenangst hat, klettert erst auf einen Stuhl, dann auf eine Leiter und nach und nach auf höhere Objekte, bevor er einen Turm erklimmt. »Übertragen auf Geflüchtete heißt das, man muss Menschen kennenlernen«, sagt Küpper. Deshalb sei auch die Fremdenfeindlichkeit in Gegenden mit sehr geringem Ausländeranteil höher als in Städten mit hohem Ausländeranteil.
Betrachten wir das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern, wo der Ausländeranteil bei 6% (Deutschland: rund 15%) liegt. Anfang August hat der Sozialsenator eine Bericht der taz über die umstrittene Schließung einer Rostocker Unterkunft Unterkunft für Geflüchtete in Rostock geschlossen, nachdem Rechtsradikale Mecklenburg-Vorpommern sieht sich als verhältnismäßig strukturschwaches Bundesland mit »Rechts Oben II«-Sammelband zum Rechtsextremismus in MV rechten Ideologien konfrontiert. Die NPD entsendet aktuell 5 Abgeordnete ins Schweriner Schloss. Am 4. September wird Mecklenburg-Vorpommern einen neuen Landtag wählen.
Mein kompletter Text über Jamel bei Correctiv Mecklenburg-Vorpommern, Wo die Autobahn zur Landstraße, zur einspurigen Allee, zum Feldweg und schließlich zur Sackgasse wird, liegt Jamel. Die Sackgasse ist fest in rechtsnationaler Hand, das zeigen Aufkleber mit Aufschriften wie »Kein Ort ohne Neonazis in Mecklenburg und Pommern«. Kindernamen wie »Bennet Odin« – ein interessanter Mix aus Moderne und germanischem Göttervater – auf Auto-Heckklappen. Der mattschwarze Pick-Up mit dem Kennzeichen Der Wegweiser, der nach Narvik, Königsberg und auf Hitlers Geburtsort Braunau deutet. Und natürlich die große, in der Frühlingssonne leuchtende Reichskriegsflagge, die an einem der Häuser weht. Meine Begegnungen an diesem Tag: 4 Erwachsene, die mich entspannt, aber bestimmt verscheuchen. Eine keifende Frau im Türrahmen. Und eine Handvoll spielender Kinder, zum Teil im Flecktarn-Kampfanzug. Ob auch Bennet Odin dabei war?
Das Beispiel Jamel zeigt, wo es hinführen kann – und an vielen Orten bereits Wenn keiner widerspricht, gelten Vorurteile irgendwann als eine Meinung unter vielen.
»Wenn wir als Gesellschaft zulassen, dass die soziale Norm der Gleichwertigkeit bröselt und Vorurteile sagbar werden, dann fühlen sich jene Menschen bestärkt, die zu Vorurteilen neigen«, sagt Beate Küpper, die bereits viel zu Rechtsextremismus geforscht hat. »Dazu tragen wir im Kleinen wie im Großen bei – es fängt an, wenn ich nicht widerspreche.« Die Sozialpsychologin spricht von pluralistischer Ignoranz: »Selbst Menschen, die eine andere Meinung hätten, werden verunsichert, weil sie – wenn keiner den Vorurteilen widerspricht – glauben, alle anderen würden zustimmen. Das führt dazu, dass Vorurteile irgendwann als selbstverständlich und als eine Meinung unter vielen gelten.«
Die Gegenmaßnahme ist so einfach, dass wir zuversichtlich zur Bewältigung der Vorurteile schreiten können: Dagegen anreden. Unsere Gastautorin Larissa Schwedes über Hatespeech und Counterspeech Die Gegenrede ergreifen, wenn jemand bei Facebook oder im analogen Leben hetzt und Angst schürt. »Ganz wichtig ist es, die soziale Norm von Gleichwertigkeit und Vorurteils-Freiheit aufrecht zu erhalten«, sagt Beate Küpper. »Also nicht einfach nur schweigen und schon gar nicht Dinge nachplappern, weil viele sie sagen. Das gilt auch für die Medien.«

Was im Gespräch zwischen einzelnen Menschen gilt, lässt sich auch auf die Gesellschaft übertragen. Wenn jeder im Privaten und im Job – hier sind besonders Politiker und Journalisten gefragt – zu einer weitgehend vorurteilsfreien Kommunikation ohne irreführende Kategorisierungen beiträgt, wird auch der Angst etwas Nährboden entzogen.
»Wer ängstlich ist, versucht größtmögliche Distanz aufzubauen«, sagt Beate Küpper – also eine Kategorie zu finden, in der wir uns eindeutig vom Fremden unterscheiden und uns im Direktvergleich positiv absetzen können. »Menschen, die wir als ähnlich zu uns selbst wahrnehmen, sind uns sympathischer. Wenn wir also bei »Fremden« mehr auf Ähnlichkeiten achten, werden sie uns nicht nur weniger fremd, sondern auch sympathischer. Aus der Kontaktforschung wissen wir: Kontakt hilft, Vorurteile abzubauen.«
ist ein Schlüssel gegen die Angst, und so lässt sich die systematische Desensibilisierung nicht nur auf Höhenangst, sondern auch auf die Angst einiger Deutscher vor den Neuangekommenen übertragen.Wer vom Pferd gefallen ist …
Gerade denen, die weiter Vorurteile verbreiten und Angst streuen, kann – genau wie in der klinischen Therapie gegen Angsterkrankungen – am ehesten Konfrontation helfen: »Wenn sie echten Kontakt haben, können sie echte Erfahrungen machen«, ist Sozialpsychologin Beate Küpper überzeugt. »Das können gute und schlechte Erfahrungen sein, aber es erdet.«
Und selbst eine einzelne schlechte Erfahrung – darunter zählt nicht nur Zwischenmenschliches, sondern etwa auch ein klammes Gefühl in vollen Innenstädten oder auf Großveranstaltungen, die potenziell auf der Liste von Terroristen stehen könnten – lässt sich überschreiben. »Wer vom Pferd gefallen ist, soll wieder aufsteigen.« Das lernt jeder Reitanfänger nach dem ersten unfreiwilligen Abstieg. Wer sein Leben weiterlebt wie immer, sorgt dafür, dass eine einmalige negative Erfahrung bisherige (neutrale oder positive) Erfahrungen nicht im Gehirn überschreibt. Das hat zur Folge, dass die negativen Emotionen allmählich von den mit Orten, Menschen oder dem sprichwörtlichen Pferd entkoppelt werden. Wir
also die Verbindung zwischen dem Ereignis und der negativen Aufladung desselben.
Was bedeutet das für uns als Gesellschaft? Wenn wir uns nicht von unserer Angst leiten lassen, sondern trotz
Lebensgefahr aufgrund von Terror unser Leben weiter genießen, verschwindet die Angst von allein und wortwörtlich aus unseren Köpfen. Und wenn wir Fremde integrieren, bleiben sie nicht für immer fremd.Herr Tur Tur findet übrigens im zweiten Band, Michael Ende: »Jim Knopf und die Wilde 13«, Thienemann-Esslinger Verlag »Jim Knopf und die Wilde 13«, eine neue Heimat, in der niemand mehr Angst vor ihm haben muss. Als der König klagt, auf seiner kleinen Insel Lummerland sei kein Platz, um einen Leuchtturm zu bauen, hat Jim eine Idee: Herr Tur Tur könnte eine Laterne halten und als Leuchtturm arbeiten! Die Bewohner der kleinen Insel wären nie weit genug von ihm weg, um Angst zu bekommen, für Schiffe wäre er jedoch schon von Weitem zu sehen.
»Wenn das so ist«, erklärte König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, »dann beschließe ich hiermit, dass Herr Tur Tur geholt werden soll.«
Ein aufregendes Abenteuer und gut 220 Seiten später nimmt Herr Tur Tur seine neue Beschäftigung auf und warnt seither Schiffe vor der Insel Lummerland. Als Schutzmechanismus ist Angst nämlich eine gute Sache.
Angst kann uns hemmen, aber auch schützen – oder sogar antreiben.
Willst du mehr über diese uralte Emotion wissen? Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Thema Angst!
Mit Illustrationen von Ronja Schweer für Perspective Daily
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