So geht Wirtschaft, in der alle gewinnen
In 1.500 Städten funktioniert bereits, was im Süden Englands seinen Anfang nahm. Darum habe ich mir die Keimzelle einer gerechteren Wirtschaft genauer angesehen.
»Was ist die Diagnose bei der Kette, Doktor?«, fragt der Mann mit der Schiebermütze, dem das Mountainbike gehört. Als er noch in London als Koch arbeitete, sei es sein bester Freund gewesen. Aber hier, im ländlichen Südengland, habe er sich ein Auto angeschafft, Kinder bekommen, und sein Fahrrad setzte Staub an. Jetzt steht die Kette starr vor lauter Rost und lässt sich nur widerwillig von
»Das wird ein bisschen dauern«, sagt er, trägt großzügig Kettenfett auf und verteilt es mit der freien Hand. Seine türkisblauen Gummihandschuhe reinigt er an einem öligen Lumpen. Dann reißt Doctor Bike kräftig am Pedal, etwas holprig lässt sich die Kette übers Zahnrad ziehen und bringt das Hinterrad in Schwung. »Einige sind noch hartnäckig – denen gebe ich noch etwas Liebe«, sagt Brangwyn und wiederholt die Prozedur.
Das Mountainbike mit der rostigen Kette ist das vierte Fahrrad, das an diesem Tag auf dem Ständer von Doctor Bike landet: Jeden Samstag von 9:30–14 Uhr (es sei denn, das Wetter ist selbst für britische Verhältnisse schlecht) bietet er seine Dienste auf dem Wochenmarkt im südenglischen Städtchen Totnes an. Und zwar kostenlos, um Totnes seiner Vision einer Fahrradstadt näher zu bringen – als Teil der »Gift Economy«, wie Brangwyn es nennt.
Im Hauptberuf arbeitet er beim Transition
Netzwerken für den Wandel
Totnes ist mit seinen pittoresken Gässchen ein Stück Bilderbuch-England und gleichzeitig die Heimat einer etwas elitären grünen Szene, wie man sie sonst in Freiburg oder in Prenzlauer Berg antrifft. In diesem Milieu beschloss der aus Irland zugezogene Rob Hopkins im Jahr 2006, eine gesellschaftliche Antwort auf
Die inhaltliche Arbeit der Transition Towns findet in verschiedenen
- Nahrungsmittel sollen näher am Verbraucher produziert werden. Dabei helfen zum Beispiel Gemeinschaftsgärten oder
- Energie soll
- Wirtschaft soll gemeinwohlorientierter und nachhaltiger werden.
- Kunst und Kultur sind wichtige Mittel für viele Transition Towns, um die Vision eines Wandels kreativ darzustellen.
- Die psychische Gesundheit der Mitstreiter ist dem Transition Town Network wichtig – deshalb sind die Gruppenprogramme so gestaltet, dass sie Überforderung und Burnout verhindern
Ein Kernelement ist also das Lokale: Je näher Acker und Teller beisammen sind und je kleiner ein Wirtschaftskreislauf insgesamt ist, desto weniger Transportaufwand ist notwendig – und desto
Lokales Geld für lokale Wirtschaft
Um die Bürger und Betriebe von Totnes besser zu vernetzen und die lokale Wirtschaft zu verbinden, gibt es seit dem Jahr 2007 den Totnes Pound. Die Währung ist direkt an den britischen Pfund Sterling gekoppelt und kann nur innerhalb des Städtchens ausgegeben werden. So sollen
Mit ihrer Regionalwährung waren die Menschen in Totnes zwar nicht die Ersten – in dem österreichischen Bergdorf Wörgl hat eine ähnliche Währung bereits in den 1930er-Jahren die Folgen der Wirtschaftskrise
»Der Totnes Pound gehört so sehr zu Totnes, dass wir kaum eine Möglichkeit hätten, ihn abzuschaffen, selbst wenn wir es wollten.«
»Der Totnes Pound sieht von außen groß aus, aber es gibt nur eine geringe Anzahl von Transaktionen«, sagt Elford bei einer Tasse Tee in seinem Wohnzimmer in Totnes. Seit etwa 8 Jahren betreut er den Totnes Pound, indem er vor allem die rund 40 teilnehmenden Läden mit frischem Geld versorgt oder Scheine in Sterling umtauscht. »Im ganzen letzten Jahr habe ich das ungefähr 20-mal gemacht«, sagt John Elford. Das sagt zwar nichts über die tatsächliche Geld-Zirkulation aus, aber Elford schätzt, dass auch die sich in Grenzen hält.
Wenn du das Geld einfach nur ausgibst und es denselben Wert wie der Sterling hat, fragst du dich, was ist der Vorteil? Wir haben versucht, die Ladeninhaber davon zu überzeugen, Rabatte auf Bezahlungen mit Totnes Pound zu geben – aber die Margen sind einfach zu gering.
Also sucht Elford nach anderen Anreizen, den Totnes Pound zu nutzen. Die Währung ist mit Pfund Sterling gedeckt – auf dem
Hauptsächlich tüftelt John Elford jedoch an der Frage, wie ein Anreiz für eine regelmäßige Nutzung des Totnes Pounds aussehen könnte, um die Einschränkungen der auf wenige Produkte und Dienstleistungen limitierten Währung auszugleichen:
Wir müssen die Währung essenziell machen. Es muss Produkte oder Dienstleistungen geben, die nur in Totnes Pound bezahlt werden können. Die Frage ist nur, was könnte das sein?
Ben Brangwyn und die Gift Economy
Einer, der explizit keine Pfund Sterling als Lohn für seine Arbeit annimmt, wohl aber Totnes Pounds, Pasteten und Umarmungen, ist »Doctor Bike« Ben Brangwyn. Seine allwöchentliche Mechaniker-Arbeit auf dem Wochenmarkt bezeichnet er als »Gift Economy«, frei nach der sozialistischen Idee: Wenn wir alle einander etwas schenken, bekommt jeder etwas, aber keiner ist
»Wir durchlaufen gerade eine wirklich tiefe Umstrukturierung«, sagt Ben Brangwyn, und meint nicht die Fahrradbremsen, sondern das Transition Network. »Eine meiner Aufgaben ist, das alles möglichst transparent zu gestalten, damit Menschen außerhalb der Organisation verstehen können, was wir tun und warum. – Verdammt, ich dachte, ich hätte noch mehr von dem Kabel.«
Ein Herzstück dieser neuen Transparenz soll der sogenannte »Healthcheck« werden – ein Evaluierungsbogen, mit dem die einzelnen Initiativen bereits seit Längerem die eigenen Stärken und Schwächen reflektieren, indem sie Leitfragen beantworten. Brangwyns Vision ist, dass dieser regelmäßige »Healthcheck« nicht mehr auf dem Papier, sondern digital stattfindet und dass die Daten auch für andere zugänglich sind.
»Das hilft in zweierlei Weise: Wir können sehr eng mit ihnen zusammenarbeiten, und es gibt uns einen wunderbaren Überblick.« So könnten aus den Daten der einzelnen Gruppen sogar größere Erkenntnisse gewonnen werden: »Sagen wir, Spanien ist gut darin, die Kommunalverwaltungen mit ins Boot zu holen, Deutschland ist gut in der Arbeit mit alten Menschen«, sagt Ben Brangwyn als Beispiel. Der hochkomplexe und bislang sehr wenig greifbare Nachhaltigkeitswandel innerhalb des Netzwerks könnte so messbar und international vergleichbar werden. Ob die Daten nur innerhalb des Netzwerks oder für jedermann zugänglich gemacht werden sollen, ist noch nicht entschieden. »Aber«, sagt Brangwyn, »das hilft uns, gezielt auf Spender zuzugehen und zu sagen: Deutschland hat Nachholbedarf in dem und dem Bereich – hier ist der Beweis.« Und auch Initiativen selbst können so herausfinden, von wem sie auf welchem Feld lernen können.
Bei dem alten Mountainbike improvisiert »Doctor Bike« derweil: »Die Kabel für die Bremsen und für die Gangschaltung sind unterschiedlich dick. Das für die Gangschaltung ist etwas dünner, aber ich habe die richtigen Kabel nicht, also nutze ich die dickeren.« Mit routinierten Handgriffen schiebt er ein Stahlkabel durch die Ummantelung am Rahmen und spannt es in die Gangschaltung ein. Dann nimmt er das Rad vom Ständer ab, setzt sich drauf und fährt die Rampe zur Stadthalle hoch und wieder herunter. Die Kette knackt noch manchmal, aber sie läuft über die Zahnräder. Das Mountainbike ist wieder fahrtüchtig – Ben Brangwyn bekommt zum Dank ein warmes Mittagessen.
Weitere Informationen zu dieser Förderung findest du hier!
Titelbild: David Ehl - copyright