Stelle dir vor, du gehst zum Arzt. Seit ein paar Wochen fühlst du dich nicht wohl, kannst dir aber nicht erklären, warum. Die Symptome sind diffus und fügen sich zu keinem klaren Bild zusammen: Du bist erschöpft, latent gestresst, ein bisschen dünnhäutig, und fühlst dich irgendwie … verloren. Die Hausärztin macht verschiedene Routinetests, stellt dir ein paar Fragen und kommt zu dem Schluss: »Sie leiden an Berührungsmangel.« »Wie bitte?«, rutscht es dir heraus.
Zugegeben, dass deine Ärztin eine solche Diagnose stellt, ist eher unwahrscheinlich. So einfach wie eine Grippe ist ein Berührungsdefizit leider nicht erkennbar. Dennoch wurde unserer Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahren immer wieder »Berührungsarmut«
Dabei sind Berührungen kein »nettes Extra«: Der Haptikforscher und Psychologe
Zahlreiche
Berührungen sind ein »Lebensmittel«
Martin Grunwald und seine Kollegen vermuten, dass zu wenig Nähe als Säugling und Kleinkind zu einer Störung des Körperschemas führt. Das Körperschema ist – grob zusammengefasst – unser Bewusstsein über die eigenen
Auch auf Erwachsene wirkt sich Berührung unmittelbar aus: Sie senkt die Herzfrequenz sowie den Blutdruck und bremst die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, dafür fluten die Hormone
Zusätzlich hat Berührung vor allem zwischenmenschliche Funktionen: Martin Grunwald erklärt, dass die emotionale und kommunikative Funktion von Berührung bei starken Gefühlen deutlich wird. So reagieren wir zum Beispiel auf einer Beerdigung oder nach der Geburt eines Kindes instinktiv mit einer Umarmung, um Mitgefühl oder Mitfreude zu transportieren.
In einer Studie fanden Wissenschaftler heraus, dass Menschen in der Lage sind, 8 unterschiedliche Gefühle allein
»Halten und Gehaltenwerden«
Bereits kurzer, beiläufiger Kontakt – eine ritualisierte Umarmung zur Begrüßung oder das Streifen des Armes – kann ein Gefühl der Verbundenheit und der Sympathie hervorrufen und unser Verhalten beeinflussen. Restaurantgäste geben sogar mehr Trinkgeld, wenn sie vorher von der Kellnerin kurz an der Hand oder
Die positiven Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unseren Gefühlshaushalt stellen sich aber erst durch Berührungen mit einer anderen Qualität ein. Die Körpertherapeutin
Aber wie können wir feststellen, ob Berührung in unserem Alltag zu kurz kommt? So könnte die Checkliste deiner Ärztin aussehen:
»Wir haben Angst, zu spüren, wie sich unser Gegenüber anfühlt – und wir uns für ihn.«
Zwischen Political Correctness auf der einen und dem Wissen über die Kriminalstatistiken auf der anderen Seite entsteht eine große Verunsicherung. Man ist lieber vorsichtig.
Die möglichen Ursachen für Berührungsdefizite sind also vielfältig. Wie sieht es mit Heilmitteln gegen »Berührungsmangel« aus?
Die Ängste vor Berührung und die alltäglichen Hindernisse können wir nicht einfach beiseiteschieben. Aber es ist ein Anfang, mehr über unser Bedürfnis nach Nähe zu lernen und darüber zu sprechen. So wie Gabriele Riess und Martin Grunwald, die völlig ungezwungen und geradeheraus über Körperkontakt reden, ohne jedes Zögern Wörter wie schmusen oder Nacken kraulen aussprechen. Zu einem entspannten Umgang mit dem Grundbedürfnis Nähe gehört aber auch, die eigenen Grenzen zu kommunizieren: Nicht nur klar »Ja«, sondern auch deutlich »Nein« sagen lernen.
Man muss sich das Verhalten von Kleinkindern in Erinnerung rufen, die sich gegenseitig ganz selbstverständlich anfassen, den anderen zu begreifen versuchen.
Die Körpertherapeutin betont, dass wir Berührungen fühlen können, ohne sie bewusst zu spüren. Die Voraussetzungen dafür, dass Berührung »spürbar wird«, sind Zeit und Vertrauen. Nur wenn wir uns erlauben, einfach beieinander zu sein und dem Gegenüber offen und ungeteilt Aufmerksamkeit zu schenken, entstehen Gelegenheiten zum Anlehnen und Festhalten. Nähe tanken geht nicht im Zwischendurch und Nebenbei.
Mit Illustrationen von Lucia Zamolo für Perspective Daily
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