Fasst mich an!
Hungrig, durstig, müde – wir meinen stets zu wissen, was uns fehlt. Ein Zeichen, das uns vor »Berührungsmangel« warnt, gibt es aber nicht. Dabei ist Körperkontakt lebenswichtig.
Stelle dir vor, du gehst zum Arzt. Seit ein paar Wochen fühlst du dich nicht wohl, kannst dir aber nicht erklären, warum. Die Symptome sind diffus und fügen sich zu keinem klaren Bild zusammen: Du bist erschöpft, latent gestresst, ein bisschen dünnhäutig, und fühlst dich irgendwie … verloren. Die Hausärztin macht verschiedene Routinetests, stellt dir ein paar Fragen und kommt zu dem Schluss: »Sie leiden an Berührungsmangel.« »Wie bitte?«, rutscht es dir heraus.
Zugegeben, dass deine Ärztin eine solche Diagnose stellt, ist eher unwahrscheinlich. So einfach wie eine Grippe ist ein Berührungsdefizit leider nicht erkennbar. Dennoch wurde unserer Gesellschaft als Ganzes in den letzten Jahren immer wieder »Berührungsarmut« Hier findest du eine Zusammenfassung der Umfrage-Ergebnisse (2014) zu wenig umarmt wird.
Sozialwissenschaftler und Psychologen mussten sich für dieses Urteil mit Indizien zufriedengeben: Laut einer Befragung aus dem Jahr 2014 wünscht sich jeder dritte Deutsche mehr Umarmungen. Fast die Hälfte gibt an, dass in DeutschlandDabei sind Berührungen kein »nettes Extra«: Der Haptikforscher und Psychologe
nennt sie ein »Lebensmittel« – und meint das nicht metaphorisch.Die Biologie der Berührung
Zahlreiche
legen nahe, dass Berührung für Säugetiere Doch auch wenn Kinder Nähe-Entzug überleben, nimmt ihre körperliche und psychische Gesundheit nachhaltig Schaden.Berührungen sind ein »Lebensmittel«
Martin Grunwald und seine Kollegen vermuten, dass zu wenig Nähe als Säugling und Kleinkind zu einer Störung des Körperschemas führt. Das Körperschema ist – grob zusammengefasst – unser Bewusstsein über die eigenen Diese Studie untersucht den Einfluss von Berührung auf die Gehirnentwicklung von Neugeborenen (englisch, 2017) Hirnentwicklung von Neugeborenen aus. Außerdem ist liebevolle Berührung ein wichtiger Baustein, um eine sichere Bindung
Laut Martin Grunwalds Forschung führen grundlegende Störungen des Körperschemas im Extremfall zu Erkrankungen wie zum Beispiel Viel Hautkontakt wirkt sich dagegen positiv auf dieAuch auf Erwachsene wirkt sich Berührung unmittelbar aus: Sie senkt die Herzfrequenz sowie den Blutdruck und bremst die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, dafür fluten die Hormone Diese Studie fasst Erkenntnisse zum Einfluss von Berührung zusammen (englisch, 2010, PDF) lassen nach.
unseren Körper – wir fühlen uns entspannt. Länger andauernde Berührung wie zum Beispiel eine Massage oder Kuscheln verbessert die Immunfunktionen, die Muskulatur entspannt sich und depressive VerstimmungenDie wahre Körpersprache
Zusätzlich hat Berührung vor allem zwischenmenschliche Funktionen: Martin Grunwald erklärt, dass die emotionale und kommunikative Funktion von Berührung bei starken Gefühlen deutlich wird. So reagieren wir zum Beispiel auf einer Beerdigung oder nach der Geburt eines Kindes instinktiv mit einer Umarmung, um Mitgefühl oder Mitfreude zu transportieren.
In einer Studie fanden Wissenschaftler heraus, dass Menschen in der Lage sind, 8 unterschiedliche Gefühle allein Probanden vermittelten in dieser Studie 8 verschiedene Gefühle allein durch Berührung (englisch, 2009, PDF) durch Berührung zu vermitteln.
»Halten und Gehaltenwerden«
Bereits kurzer, beiläufiger Kontakt – eine ritualisierte Umarmung zur Begrüßung oder das Streifen des Armes – kann ein Gefühl der Verbundenheit und der Sympathie hervorrufen und unser Verhalten beeinflussen. Restaurantgäste geben sogar mehr Trinkgeld, wenn sie vorher von der Kellnerin kurz an der Hand oder Den Einfluss kurzer Berührungen auf das Trinkgeld von Kellnerinnen untersuchte diese Studie (englisch, 1984, Paywall) Schulter berührt wurden. Auch eine flüchtige Berührung während einer Bitte erhöht laut einer weiteren Untersuchung die Wahrscheinlichkeit, dass diese Diese Studie zeigt, dass beiläufige Berührungen unsere Hilfsbereitschaft beeinflussen (englisch, 1986, Paywall) gewissenhafter erfüllt wird.
Die positiven Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unseren Gefühlshaushalt stellen sich aber erst durch Berührungen mit einer anderen Qualität ein. Die Körpertherapeutin
spricht hier von einem »Halten und Gehaltenwerden« bis zur Entspannung.
Wir Unberührten?
Aber wie können wir feststellen, ob Berührung in unserem Alltag zu kurz kommt? So könnte die Checkliste deiner Ärztin aussehen:
- »Wie viel sind Sie digital unterwegs?« Das viel beschworene Schreckgespenst Digitalisierung trägt zu einer Berührungsverarmung bei, sagt Martin Grunwald. In Beziehungen gelten digitale Medien – ab einem gewissen Nutzungsgrad – schon lange als Dirk Walbrühl schreibt hier über digitale Liebestöter – und wie es in der Beziehung wieder funken kann Intimitätsräuber. Die Rechnung ist einfach: Jede Minute, die wir vor dem Bildschirm verbringen, fehlt uns potentiell für echte Berührungen.
- »Ist Ihnen schön auszusehen wichtiger, als Schönes zu spüren?«
Die Werbeindustrie und ihre
»Wir haben Angst, zu spüren, wie sich unser Gegenüber anfühlt – und wir uns für ihn.«
vermitteln: Körper sollen immer glatt, straff und duftend-frisch sein. Körpertherapeutin Gabriele Riess glaubt, dass dieses Bild uns Angst macht, zu spüren, wie sich unser Gegenüber wirklich (an-)fühlt – und wir uns für ihn. Sind meine Hände zu schwitzig, ist meine zu Haut trocken, mein Bauch zu weich? - »Verwechseln Sie Ihre Lust auf Sex mit Ihrem Bedürfnis nach Nähe?« Auch wenn sexueller Kontakt natürlich auf Berührung und Nähe basiert: Unser Bedürfnis nach vertrauensvoller Nähe ist ein komplett eigener Verhaltens- und Bedürfniskomplex. Martin Grunwald merkt an, dass es mittlerweile einfacher ist, an Sex als an diese andere Art der Nähe zu kommen. Zwischen Händeschütteln oder der höflichen Umarmung auf der einen und Lustbefriedigung auf der anderen Seite gebe es wenig zu holen.
- »Leben Sie allein?« In 41% der deutschen Haushalte lebte im Jahr 2017 Die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts zu Singlehaushalten (2017) nur eine Person. In Großstädten sind es oft sogar mehr als die Hälfte. Seit langem zeichnet sich vor allem in Nordeuropa ein Trend Für immer mehr Menschen bedeutet nach Hause kommen also nicht automatisch die Möglichkeit, in den Arm genommen zu werden.
- »Empfinden Sie Berührung als bedrohlich oder belastend?«
Über dem Thema Körperkontakt schwebt schnell auch die Angst vor Übergriffen und sexualisierter Berührung. Körpertherapeutin Gabriele Riess sieht hier ein großes Dilemma: Das Bedürfnis nach Nähe wird von der – nachvollziehbaren – Angst vor Übergriffen überschattet.
- »Wie haben Ihre Eltern Ihnen Nähe geschenkt?« Wenn Eltern ohne viel körperliche Zuwendung aufgewachsen sind, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch ihren eigenen Kindern nicht ungezwungen Nähe schenken oder deren Bedürfnis danach erkennen. Der Schmerz durch soziale Zurückweisung ist Soziale Zurückweisung aktiviert Schmerzzentren (englisch, 2016, Paywall) vergleichbar mit körperlichem Schmerzerleben. So ist es nicht verwunderlich, wenn ein Kind nach erfolglosen Versuchen nicht mehr nach Nähe sucht.
Die möglichen Ursachen für Berührungsdefizite sind also vielfältig. Wie sieht es mit Heilmitteln gegen »Berührungsmangel« aus?

Was wir von den Experten lernen können
Die Ängste vor Berührung und die alltäglichen Hindernisse können wir nicht einfach beiseiteschieben. Aber es ist ein Anfang, mehr über unser Bedürfnis nach Nähe zu lernen und darüber zu sprechen. So wie Gabriele Riess und Martin Grunwald, die völlig ungezwungen und geradeheraus über Körperkontakt reden, ohne jedes Zögern Wörter wie schmusen oder Nacken kraulen aussprechen. Zu einem entspannten Umgang mit dem Grundbedürfnis Nähe gehört aber auch, die eigenen Grenzen zu kommunizieren: Nicht nur klar »Ja«, sondern auch deutlich »Nein« sagen lernen.
– Gabriele Riess, Körpertherapeutin
Die Körpertherapeutin betont, dass wir Berührungen fühlen können, ohne sie bewusst zu spüren. Die Voraussetzungen dafür, dass Berührung »spürbar wird«, sind Zeit und Vertrauen. Nur wenn wir uns erlauben, einfach beieinander zu sein und dem Gegenüber offen und ungeteilt Aufmerksamkeit zu schenken, entstehen Gelegenheiten zum Anlehnen und Festhalten. Nähe tanken geht nicht im Zwischendurch und Nebenbei.
Mit Illustrationen von Lucia Zamolo für Perspective Daily
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