Deshalb hilfst du anderen (nicht)
Alle liefen vorbei, am Rentner, der in der Bankfiliale zusammengebrochen war. Eine Woche später starb er. Natürlich hättest du ihm geholfen, oder?
Der graue Fußboden um ihn herum ist nass und klebrig. Die anderen Fahrgäste der Regionalbahn machen um den zusammengesunkenen Mann einen großen Bogen. In der einen Hand umklammert er ein Bier, in der anderen eine Tüte voller Bierdosen, aus der es trieft. Er ist keine 50 Jahre alt, trägt ein T-Shirt mit dem Logo einer Rockband und außer der Bierlache, in der er sitzt, macht er äußerlich einen gepflegten Eindruck.
Ab und an kommt Leben in den trägen, betrunkenen Körper. Der Mann stiert um sich. Ein gedrungener Mann mit rotem Ferrari-Käppi wendet sich nicht schnell genug ab. »Ey, was glotzt du, Mann? Biste schwul oder was?«, brüllt der Betrunkene ihn an. Der Ferrari-Fan schüttelt den Kopf: »Du bist doch sternhagelvoll. Nerv’ mich nicht!«
Was willst du, du Schwuchtel?!
Mit wankendem Oberkörper richtet sich der Betrunkene auf. »Willst du Stress?!« Auch der Käppi-Typ springt von seinem Klappsitz auf, bleibt aber auf der Stelle stehen. Beide sind nur noch ein paar Schritte voneinander entfernt.
»Stopp!«, ruft ein hochgewachsener Mann in Radlerhose, der die Situation von seinem Platz aus mitverfolgt hat. Er zeigt auf den Angepöbelten und wendet sich an die anderen Fahrgäste: »Wir müssen zeigen, dass er nicht allein ist! Stellt euch zu mir!« Im ersten Augenblick reagiert niemand, außer dem Streithahn, der plötzlich mit geballten Fäusten auf den Helfer zutorkelt. Er kommt so nah, dass er nur noch ausholen müsste, um seine Faust ins Gesicht des mutigen Mannes zu schlagen.
»Stellt euch zu mir!«
Erst im letzten Moment treten 2 junge Männer zu dem Helfer auf dem Gang. Und auch mein Ehemann und ich rutschen von unseren Sitzen. Kurz blickt der Volltrunkene zu denen, die jetzt links und rechts von ihm stehen, und tritt dann mit starren Augen den Rückzug an. Langsam, einen Fuß hinter den anderen setzend, geht er zu seiner Tüte und sinkt in den Schneidersitz.
Die Situation hätte auch ganz anders verlaufen können, wenn niemand eingeschritten wäre.
Als ich zu meinem Platz zurückgehe, frage ich mich, warum ich erst so spät aufgestanden bin. Warum helfen manche Menschen
Warum helfen wir (nicht)?
Helfen, das tun viele von uns tagtäglich. Dem Kollegen die Milch reichen, jemandem den Weg erklären oder die Tür aufhalten. Solche kleinen Taten beginnen meist mit einem einfachen »Bitte« und sind für uns selbstverständlich. Aber schon im Kleinen zeigt sich, was Helfen wirklich ist: wer hilft, kooperiert mit anderen.
Wie sieht unsere Hilfsbereitschaft aber dann aus, wenn es für Fremde brenzlig wird und wir sehen, wie jemand in die Ecke gedrängt wird oder sich nicht aus eigener Kraft aus einer Notlage befreien kann? Was, wenn unsere eigene Unversehrtheit auf dem Spiel steht und wir eine moralische Entscheidung treffen müssen? Wie mutig sind wir dann?
Kitty Genovese war 28 Jahre alt und lebte im New Yorker Stadtteil Queens. In den frühen Morgenstunden des 13. März 1964 fuhr sie nach Hause und parkte ihr Auto nahe dem Wohnblock, in dem sie mit ihrer Lebensgefährtin in einem Appartement wohnte. Noch vor der Tür griff Winston Moseley sie an, der ihr mit dem Auto gefolgt war, nachdem sie zusammen an einer roten Ampel gewartet hatten. Er stach mehrere Male auf sie ein und vergewaltigte sie.
Niemand eilte ihr zu Hilfe.
Nachbarn und Gäste einer Bar hörten Genoveses Schreie. Doch niemand eilte ihr zu Hilfe.
Doch der Täter konnte nach 5 Minuten zurückkehren, um noch einmal über die schwerverletzte Genovese herzufallen, die sich zur Hinterseite des Hauses geschleppt hatte. Kitty Genovese starb kurze Zeit später.
Viele Jahre nach dem Verbrechen wurde bekannt, dass einige Nachbarn den Vorfall,
Mehr als eine halbe Stunde lang schauten 38 achtbare, gesetzestreue Bürger in Queens zu, wie ein Mörder einer Frau in Kew Gardens nachstellte und auf sie einstach […]
Der Fall aus dem Jahr 1964 ist in die US-amerikanische Geschichte eingegangen.
Der Zuschauereffekt
Waren die Nachbarn von Kitty Genovese allesamt »schlechte«, gefühlskalte Menschen? Keinesfalls, denn der Zuschauereffekt kann fast jeden von uns beeinflussen. Vor ein paar Jahren bekam ein Videoexperiment dazu besonders viel Aufmerksamkeit in sozialen Medien. Zu sehen: Ein Mann macht sich vor einer Gruppe Menschen daran, ein Zelt aufzubauen. Offensichtlich schafft er es nicht allein. Springt ihm jemand zu Hilfe?
Wenn neben den Testpersonen noch Schauspieler im Raum waren, dauerte es durchschnittlich mehr als 8 Minuten, bis die Testperson mit Hand anlegte oder ihre Hilfe anbot. Saßen die Testpersonen allein mit dem tollpatschigen Möchtegern-Camper im Raum, halfen sie bereits nach gut 3 Minuten.
Das Ergebnis: Je mehr Menschen sich in der Nähe befinden, desto weniger hilfsbereit sind wir. Denn wir können die Verantwortung einfach auf andere schieben. Nur leider machen die dasselbe.
Sind Stadtbewohner weniger hilfsbereit?
Und wo kommen viele Menschen zusammen? Richtig, in Städten. Nach Kitty Genoveses Tod wurde die Stadt New York und Millionen Menschen, die dort lebten, in der öffentlichen Debatte verteufelt. Die Großstadt galt als Brutstätte kalter, herzloser Bürger, die sich ärgerten, dass die Todesschreie einer jungen Frau ihren Schönheitsschlaf störten.
Aber stimmt die beunruhigende Annahme, dass uns in Großstädten die helfende Hand eher verwehrt wird?
Als Antwort ein nicht weniger beunruhigendes: »Ja«.
Hilfsbereitschaft sinkt ab einer Einwohnerzahl von 300.000
Doch Stadt ist nicht gleich Stadt. Nach Steblays Forschungsergebnis stellte sich die Frage, ob dieses Muster überall und auf jede größere Stadt zutreffe.
Einen Stift fallen lassen, das Knie anschlagen oder blind über die Straße gehen – in 23 Städten auf allen 5 Kontinenten spielte ein Einheimischer diese Fälle nach und notierte sich, wie viele ihm oder ihr zu Hilfe kamen. Das Ergebnis der Studie war überraschend: in Amsterdam wird einem genauso wenig geholfen wie in Singapur, in New York so wenig wie in Kuala Lumpur. Diese Städte rangierten auf den letzten Rängen. Den ersten Platz belegte Rio de Janeiro – eine Metropole, mit der
Diese Ergebnisse machten die Annahme der Forscher zunichte, dass West und Ost unterschiedlich hilfsbereit sind. In ihrem Fazit gaben sie an, dass nun weitere Bedingungen untersucht werden müssten. Zum Beispiel, welche hierarchischen und wirtschaftlichen Strukturen vorherrschen und wie sich Einheimische gegenüber Fremden verhalten.
Die 5 Stufen zum Helfen
Seit Kitty Genoveses Tod wurde viel dazu geforscht, warum Menschen nicht helfen. Aber wie sieht es eigentlich aus der anderen Perspektive aus? Wann helfen wir einander? Die Verhaltensforscher John M. Darley und Bibb Latané haben ein 5-Stufen-Modell entwickelt, das wir bis zum tatsächlichen Helfen durchlaufen:
- Die Situation wahrnehmen:
Warum du lieber wegschauen würdest, wenn Fremde in Notsituationen geraten, hat viele Gründe: die komplexe Situation, die emotionale Ferne zu der Person in Not und der Instinkt, die Flucht zu ergreifen. Häufig sehen wir auch nur das, was wir sehen wollen: Ein Mann liegt im Foyer einer Bank. Das wird wohl ein schlafender Obdachloser sein, dachten sich auch die Kunden einer Bank in Essen. Dort kollabierte ein 83-Jähriger mehrere Male, und ganze 20 Minuten lang half ihm keiner. Einige stiegen sogar über den - Das Risiko einschätzen:
Sind viele Menschen in der Nähe, schweift unser Blick schnell von rechts nach links. Wird die Frau bedrängt? Schafft der Mann es allein über die Straße? - Verantwortung übernehmen:
- Wie helfen?
Seine Optionen in Notsituationen zu kennen, ist das, was wohl am meisten zur Selbstsicherheit in diesen Momenten beiträgt. Gezieltes Ansprechen von Menschen im Umfeld, Kommunikation mit dem Opfer, um den Täter abzulenken, oder der Griff zum Mobiltelefon, um die Polizei anzurufen. - Helfen.
Übrigens: Wer in Not gerät, ruft nach Hilfe – und nicht nach Helden. Mit Heldentaten sollte Hilfeleistung nicht verwechselt werden. Das wird mir in der Regionalbahn klar, als der engagierte Mann in Radlerhosen und alle anderen, die ihm zur Seite standen, wieder auf ihre Plätze zurückkehren. Die eigentliche Hilfsaktion war so schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Die Anspannung unter den Fahrgästen ist verflogen. Der Helfer kein Heiliger. Rückblickend hätte ich ihm aber doch gern für seinen Einsatz gedankt, als er sein Fahrrad ein paar Haltestellen später aus dem Abteil schob.
Titelbild: Ian Espinosa - CC0 1.0