Wie das Land, so die Leber
Wir Deutschen haben ein Drogen-Problem: Wir trinken zu viel Alkohol. Das macht zwar oft Spaß, es kostet uns aber einen Haufen Geld und geht auf die Gesundheit.
Mein Freund Ahmed sagt »Nein, danke!« Auch 3- oder 4-mal am Abend, stets höflich. Trotzdem frage ich ihn immer wieder, ganz automatisch, ob er ein Glas Wein oder ein Bier möchte, wenn ich den Kühlschrank offen habe. Obwohl ich seine Antwort ja kenne. Ahmed kommt aus Syrien, er ist es nicht gewöhnt, Alkohol zu trinken. In seiner Familie trinkt niemand. Er hat schon mal probiert, aber es interessiert ihn nicht wirklich.
Ich genieße den sanften Schleier der Entspannung, der sich mit jedem Schluck auf mich legt.
Ich komme aus Deutschland. Am Abend nehme ich mir gern mal ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank – am Wochenende auch mal 3 oder 4. Ich biete es meinen Gästen an, das gehört für mich dazu. So war es bei meinen Eltern und bei meinen Großeltern. Ich mag den erfrischenden Geschmack von Bier, genieße die feinen Noten eines guten Weins und den sanften Schleier der Entspannung, der sich mit jedem Schluck auf mich legt. Und vor allem aber liebe ich die geselligen Abende, die sich zwischen den Gläsern entfalten. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen:
Deutschland: Export- und Pils-Weltmeister?
Damit entspreche ich dem typischen Bild eines trinkenden Deutschen.
Zum Vergleich: In Syrien, das im Vergleich zum restlichen arabischen Raum im Mittelfeld liegt, trinken die Menschen etwas über 1 Liter pro Jahr. Natürlich,
- Alkohol-prohibitive Kulturen: Hier ist Alkohol komplett verboten, vor allem aus religiösen Gründen. Dazu zählen vor allem hinduistische und islamische Länder, aber auch einzelne, sehr christlich geprägte Bezirke in den USA.
- Alkohol-exzeptionelle Kulturen: Alkohol ist nur zu seltenen, fest geregelten Anlässen erlaubt, zum Beispiel religiöse Feiern. Jüdische und viele christliche Kreise fallen darunter.
- Alkohol-permissive Kulturen: Hier ist Alkohol regelmäßig, aber zu gegebenen Anlässen und in überschaubarer Menge erlaubt, etwa zum Essen oder am Wochenende. Traditionell zum Beispiel in Südeuropa.
- Alkohol-determinierte Kulturen: Hier gibt es keine Begrenzungen, mehr oder minder jeder Anlass – Geburtstag, Beerdigung, Feierabend, schönes Wetter, schlechtes Wetter – wird genutzt, um nach Lust und Laune zu trinken. Hierzu gehört auch Deutschland.
- Alkohol-pathologische Kulturen: Hier ist Alkohol im Zentrum des Alltags. Trinken steht für Werte wie Männlichkeit, Freiheit oder Macht. Statt Bier und Wein wird Hochprozentiges gereicht, wer noch sitzen kann, trinkt weiter. Dazu zählen vor allem die slawischen Länder.
Durchschnittlicher Alkoholkonsum pro Kopf und Jahr, in reinen Litern Alkohol, Quelle: WHO
Wie unterschiedlich die Rolle von Alkohol allein in den europäischen Ländern ist, kennen wir alle von Reisen: In Teilen Skandinaviens ist Alkohol extrem teuer, in Norwegen kostet eine Dose Bier schnell mal 3 Euro im Supermarkt oder 10 Euro in einer Kneipe. In Rumänien wird man kaum mit einem Einheimischen einen netten Plausch halten, ohne einen
Blaues Bier, rosa Sekt
Aber die Droge Alkohol ist viel tiefer in unserem Leben verwurzelt als nur durch ihre physische Anwesenheit. Sie steckt tief in uns, ob wir trinken oder nicht:
Auch In Frankreich wird Wein mit von der Feldarbeit schmutzigen Händen zu Mittag getrunken.
Die Nachbarländer Deutschland und Frankreich zeigen dieses Prinzip gut auf:
Viele Teile Süddeutschlands bilden natürlich Ausnahmen von dieser Regel: In meiner Heimat rund um Stuttgart etwa trinken die Menschen auf den Weinfesten vor herrlicher Weinberg-Kulisse Trollinger und Lemberger – im »Viertele«, versteht sich, also Gläsern mit 0,25 Litern.
Bevor wir uns die Folgen des kollektiven Rausches für unsere Körper und unsere Gesellschaft ansehen, werfen wir zunächst einen Blick auf die Ursachen unserer kollektiven Trink-Leidenschaft:
»Die deutschen Trinklande«
Wie die Rolle des Alkohols in unserer Gesellschaft erahnen lässt, reichen die Wurzeln unseres Konsums tief.
Unsere »Trunkliebe« trug sich durchs Mittelalter: Schon morgens nahmen auch Kinder Bier zu sich, Männer waren regelrecht gezwungen, sich regelmäßig zu betrinken – Bier abzulehnen oder aus einer Trinkrunde auszusteigen, wäre eine Beleidigung oder ein Zeichen von Schwäche gewesen und Grund genug für soziale Ächtung. Auch hygienische Gründe zeichneten für das viele Trinken verantwortlich, denn während das Wasser durch Unrat in den Straßen verschmutzt war, war es das Bier meist nicht. Getrunken wurde eigentlich überall und von jedermann: In der
Wie das Land, so die Leber
Streng wissenschaftlich gesehen, sind Alkohole eine Gruppe chemischer Stoffe. Der Vertreter, den wir trinken, ist Ethanol. Einmal im Körper, absorbiert unser Verdauungssystem es ins Blut, von dort wiederum gelangt es in den gesamten Körper.
Klar ist allerdings auch: Jeder Rausch schadet unseren Organen, vor allem dem Gehirn und der Leber. Die Schäden, die alkoholisierte Menschen sich und anderen zufügen, sind beachtenswert:
Alkohol wirkt als starkes Gift. Dies, verbunden mit dem legalen Status, macht ihn zur gefährlichsten und schädlichsten aller Drogen – mit Abstand. In Deutschland stehen den 74.000 Alkoholtoten gerade mal 1.032 Todesfälle durch alle illegalen Drogen zusammengenommen gegenüber.
Wenn die Fruchtblase zum Alkoholbad wird
Opfer von Alkoholmissbrauch werden Menschen in jedem Alter, die jüngsten schon 9 Monate vor ihrer Geburt.
Die sichtbaren Fehlbildungen aufgrund von FASD: ein zu kleiner Kopf, ein kurzer Nasenrücken und eine schmale Stirn.
Der Alkohol im Mutterleib hemmt die Zellteilung des werdenden Menschen, wodurch das Wachstum des Kopfes langsamer voranschreitet als gewöhnlich.
In weiten Teilen ähnelten diese Schäden den Symptomen von Kindern mit
Ein entscheidender Punkt in der Diagnose seien die Eltern: »95% der Kinder kommen aus Pflegefamilien«, sagt Spohr, »und die wissen oft nicht Bescheid, wenn die leibliche Mutter getrunken hat.« Das sei aber der entscheidende Hinweis darauf, dass tatsächlich FASD vorliegt. Und die Mütter, die von sich wüssten, während der Schwangerschaft getrunken zu haben, gäben es aus Scham oft nicht zu. Weil sich der Umgang mit ADHS und der mit FASD unterscheiden, sei es aber besonders wichtig, dass die richtige Diagnose gestellt wird: »Einerseits ist es für die Eltern wichtig, das zu wissen, sonst machen sie sich immer selbst Vorwürfe«, sagt Spohr. Zweitens müssen auch die Kinder wissen, warum sie nicht »funktionieren«, damit sie sich selbst weniger Vorwürfe machten. Und drittens könnten die Eltern nur dann verstehen, dass sie als Rückhalt und Auffangnetz die beste Therapie für ihre Kinder sind.
Wie viele Tausend Menschen auf der Welt leben, die unter FASD leiden, ohne es zu wissen, ist kaum zu sagen. Spohr schätzt, dass unzählige Insassen in Psychiatrien und 10% bis 30% aller Gefängnisinsassen in den USA betroffen sind. Um das Problem einzudämmen, helfe vor allem Aufklärung, die aber bei den typischen Müttern sehr schwierig sei – entweder sehr jungen Frauen, die nichts von ihrer Schwangerschaft wissen und sich am Wochenende stark betrinken oder Alkoholikerinnen, die kaum auf das Trinken verzichten könnten.
Warum verbieten wir LSD, aber verkaufen die Flasche Wodka für 4,95 Euro an der Supermarktkasse?
Bei all dem Tod, Leid und Elend, die der Alkohol über uns bringt, stellt sich die Frage: Warum unternehmen wir nichts dagegen? Warum verbieten wir
Der Versuch, Alkohol einzuschränken, ist wohl so alt wie die Herstellung alkoholischer Getränke selbst:
Der Alkohol fließt, der Rubel rollt
Brauereien und Distillerien machten schnell ein Vermögen mit ihrem flüssigen Geschäft und die Politik war dankbar für die hohen Steuereinnahmen.
Im Fokus der Kampagnen: Vor allem junge Menschen, die in ihren Konsummustern noch nicht gefestigt sind. Rund 30% der ausgestrahlten Alkoholwerbung zielt auf Jugendliche ab.
Die Jugendlichen, die am meisten mit Alkoholwerbung in Kontakt kommen, trinken demnach im Laufe ihres Lebens doppelt so viel Alkohol wie die Jugendlichen, die der Werbung am seltensten ausgesetzt sind. Andererseits
Die Werbebranche sieht das naturgemäß anders:
Bisher kontrolliert sich die Alkoholbranche selbst, was ihre Werbung angeht. In einem
Die Freiheit, zu trinken – und die Freiheit vom Trinken
Natürlich gibt es auch einen weiteren guten Grund gegen das Verbot von Alkohol: Die Freiheit eines jeden, selbst zu entscheiden. Für Millionen Menschen in Deutschland sind Bier, Wein und Schnaps eine Bereicherung, Genussmittel und Leidenschaft. Ein guter Grund gegen das Verbot von Alkohol: Die Freiheit, selbst zu entscheiden.
Alkohol ist Teil ihrer Kultur, sie trinken in einem gesunden Ausmaß oder nehmen einen gelegentlichen Brummschädel am Morgen gern hin für einen erfüllenden Abend mit Freunden und Familie. Damit jede und jeder für sich entscheiden und abwägen kann, welchen Konsum sie oder er für richtig hält, ist Aufklärung über die Wirkung von Alkohol – wie bei allen anderen Drogen – entscheidend.
Eine andere Frage ist allerdings, was uns als Gesellschaft wichtiger ist: Die Freiheit der Werbe- und Alkoholbranche, mit allen Mitteln den Umsatz zu steigern und den öffentlichen Raum mit Anpreisungen der gefährlichsten aller Drogen zu belagern? Oder die Freiheit von Millionen Menschen, denen Alkohol große Probleme bereitet? Die nicht durch die Stadt spazieren können, ohne mit Bier-Schildern konfrontiert zu werden? Die nicht den Fernseher einschalten können, ohne mit Alkohol-Werbespots überflutet zu werden? Und nicht ihre Lebensmittel einkaufen können, ohne über Bierkisten im Sonderangebot zu stolpern?
Wenn Perspective Daily in diesen Wochen über die vielen Aspekte eines zeitgemäßen Umgangs mit Drogen schreibt, stellt sich also auch die Frage: Wie gehen wir mit den Drogen um, die fest in unserer Kultur verankert sind? Wenn wir das als Gesellschaft ernsthaft diskutieren wollen, müssen wir als Erstes über unsere Alkohol-Besessenheit sprechen.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Drogen-Reihe!
Mit Illustrationen von Fabian Ludwig für Perspective Daily