Lieber Nachbar, es gibt da eine Sache, die ich Ihnen sagen möchte
Nachdem ich mich 4 Wochen um Ihren Garten gekümmert habe, weiß ich: Er ist perfekt, aber nur fast. Deshalb habe ich Ihnen einen Brief geschrieben.
Lieber Herr Nachbar,
ich gebe zu: Kurz habe ich es bereut, Ihnen angeboten zu haben, mich während Ihres Urlaubs 4 Wochen um Ihren geliebten Garten zu kümmern.
Jeden Abend nach einem stressigen Arbeitstag in der prallen Sonne noch das Gemüse gießen, muss das wirklich sein?
Es gibt eine Sache, über die ich mit Ihnen sprechen wollte: den Rasen.
Ebenso gern gebe ich heute zu: Der Zweifel ist schnell verflogen. Die abendliche halbe Stunde mit dem Schlauch in der Hand ist mir längst zur willkommenen Routine geworden. Ich habe sogar angefangen, mich schon den Tag über auf die Pflanzen, Vögel und Bienen zu freuen, die mir immer vertrauter werden. Wenn ich daran denke, dass das schon bald wieder vorbei sein soll, werde ich fast ein bisschen wehmütig. Also: Wenn Sie mal eine Pause brauchen, nur zu, zögern Sie nicht, mich um Hilfe zu bitten!
Ich kann jetzt verstehen, warum Ihnen die kleine Parzelle so viel bedeutet: Der Garten genießt Ihre Zuwendung und zeigt sich erkenntlich fürs Gießen, Düngen, Trimmen und Jäten, indem er gut gedeiht und Ihnen Ruhe und Erholung gibt. Mir gefällt das auch. Es gibt nur eine Sache, über die ich mit Ihnen sprechen wollte: den Rasen.
Wussten Sie zum Beispiel, dass
Aber auch wenn der Rasen niemanden satt macht, leistet er eine ganze Menge: Gerade in Sommern wie diesem, die wir künftig öfter erleben werden, kühlt er die Luft und zieht die Hitze aus der Stadt wie eine Abzugshaube. Das ist auch dringend nötig, denn hier saugen Asphalt und Stein die Sonne ja regelrecht auf und bringen die Stadt zum Glühen. Deshalb liegt die Temperatur in der Stadt im Sommer meistens noch ein paar Grad höher
Es geht beim Mähen und Trimmen darum, was die Nachbarn denken.
Vielleicht interessiert es Sie ja gar nicht so sehr, was ich über Ihren Garten denke. Dann wären Sie aber die Ausnahme. Denn schaut man einmal, wo das Phänomen »Rasen« herkommt, zeigt sich: Es geht beim Mähen und Trimmen fast ausschließlich darum, was die Nachbarn denken.
Im alten Rom wäre niemand auf die Idee gekommen, einen schönen Rasen anzupflanzen. Und wenn doch, hätten die Nachbarn mit Unverständnis den Kopf geschüttelt. Denn erst im Mittelalter wurde Rasen zu dem, was er heute ist: ein Statussymbol. Damals konnte es sich nur der höchste Adel leisten, viel Arbeitskraft und Land in den Anbau einer Pflanze zu stecken, die niemanden satt macht. Auf dem Rasen wachsen weder Kartoffeln noch dürfen Kühe oder Schafe das feine Grün beim Grasen zertrampeln. Der einzige Zweck ist das Signal: »Ich kann es mir leisten!« Was damals allein den wenigen Adeligen vorbehalten war, leistet sich heute dank Dünger, Rasenmäher und
Auch im Sport signalisiert ein guter Rasen Qualität: Während Straßenkinder in Rio oder Kalkutta ihre Bälle über Staubpisten treten, trainieren der Fußball-, Tennis- und Baseballnachwuchs der globalen Mittel- und Oberschicht auf »Englischem Rasen«. Im Olymp des Sports angekommen ist, wer auf dem »Heiligen Rasen« in Wimbledon spielen darf.
Dass fast jeder, Sie wie ich, eine Faszination für die kurzen Halme hegt, haben wir also unserer Geschichte zu verdanken. Noch wichtiger für unseren Geschmack sind aber die Trends von heute.
In konventionellen Nachbarschaften bevorzugten die meisten Befragten ein Gartendesign, das der Norm unserer adligen Vorfahren entspricht. Sprich: Wenn alle einen sauberen, perfekt getrimmten Rasen haben, brauche ich das auch. Wenn die Nachbarn jedoch überwiegend »ökologisch innovative« Kultur-Landschaften vor ihren Häusern angelegt hatten, bevorzugten dieselben Befragten plötzlich ebenfalls ein Design, bei dem nur noch 1/4 der Fläche von Rasen belegt war und stattdessen einheimische Büsche, Sträucher und Blumen das Bild bestimmten.
In Ihrem Garten muss sich nichts ändern, meinen Sie?
So sind wir Menschen: Wir ordnen uns lieber dem Garten-Gruppenzwang unter als aufzufallen. Die Forscher aus Michigan ziehen einen praktischen Schluss daraus: Wenn wir unsere Gärten umweltfreundlicher machen wollen, erreichen wir das nicht Garten für Garten, sondern müssen Nachbarschaften als Ganzes neu denken. So sei die Wahrscheinlichkeit wesentlich höher, dass ein neues Gartendesign auch dauerhaft Wurzeln schlage.
In Ihrem Garten muss sich ja zum Glück nichts ändern, meinen Sie? Keine Frage, der Garten ist recht gut abgestimmt und sieht gut aus.
Trotzdem könnten wir uns ja – gern gemeinsam – an kleine Experimente heranwagen. Es sind auch weniger die optischen Dinge, es geht eher darum, den Garten besser an seine Umgebung anzupassen.
Bestimmt haben Sie schon mitbekommen, dass es für Bienen heute in Städten mehr Nahrung gibt als auf dem Land. Dort blühen kilometerweit Mais oder Raps zur selben Zeit. Nach der Ernte ist dann aber nicht mehr viel zu holen. Das ist einer der Gründe,
Wir könnten also ein Stück des Rasens umgraben und eine Mischung aus Blumen und Sträuchern säen, von denen das ganze Jahr über immer etwas blüht.
Ich weiß, Ihr Rasen liegt Ihnen besonders am Herzen. Ihr kleines Kind lernt bald laufen, da kommt die Spielwiese wie gerufen. Allein deshalb schütten Sie natürlich keinen Mineraldünger oder Pestizide darauf, das freut das Kind genauso wie die Insekten und Milliarden Mikroorganismen, die in den oberen Erdschichten zugange sind. Und er gedeiht ja trotzdem.
Ihr kleines Kind lernt bald laufen, da kommt die Spielwiese wie gerufen.
Aber auch wenn Sie den Rasen gern so belassen wollen, gibt es eine einfache Möglichkeit, den Bienen ein wenig unter die Flügel zu greifen. Dafür müssen Sie nichts tun. Und zwar jede zweite Woche, indem Sie den Rasenmäher einfach mal im Schuppen lassen.
Eine Gruppe amerikanischer Forscher hat einer Gruppe Besitzern von Vorstadt-Häusern an der Ostküste der USA 2 Sommer lang einen kostenlosen Mäh-Service geboten. Einzige Bedingung: Die Bewohner mussten in der Zeit selbst die Finger vom Rasenmäher lassen, um die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Die Wissenschaftler teilten die Gärten in 3 Gruppen ein, in Gruppe 1 wurde wöchentlich gemäht, in Gruppe 2 alle 2 Wochen und in Gruppe 3 im 3-Wochen-Rhythmus. Dann wurde gezählt, wie viele Insekten sich auf dem jeweiligen Rasen finden.
Denn auch wenn ein perfekter Rasen eine Monokultur ist, mit der eine Biene wenig anfangen kann, so mischen sich doch meistens Klee, Gänseblümchen und Löwenzahn zwischen die Halme. Und das wiederum schmeckt den Bienen. Und siehe da: In den Gruppen 2 und 3 fanden sich wesentlich mehr der Blumen für die Bienen.
Die Ergebnisse lassen keine konkreten Schlüsse auf die perfekten Rasenmäh-Rhythmen für die ganze Welt zu. Zu unterschiedlich seien die Bedingungen, sagen die Forscher, man müsse vor Ort genauer hinsehen.
Ein schlichtes Mantra lasse sich aber ableiten: Einfach mal ein bisschen »fauler« sein beim Rasenmähen. Ruhig mal was wachsen lassen und nicht jedem Halm, der quersteht, gleich mit der Nagelfeile zu Leibe rücken.
Würden all die Hobbygärtner, Gartenbauämter und Platzwarte öfter die Füße hochlegen, dann würden aus den grünen, toten Teppichen lebendige Rasen, von denen alle etwas haben.
Deswegen mein Vorschlag an Sie: Wir machen den Anfang und teilen uns künftig die Arbeit. Eine Woche mähen Sie, die nächste Woche mähe ich nicht!
Dieser Text ist Teil unserer Reihe zum Thema Dinge, die die Welt nicht braucht.Weitere Informationen zu dieser Förderung findest du hier!
Titelbild: Tobias Kaiser - copyright