Hast du dich heute schon über deinen Chef geärgert?
In diesen Unternehmen kann das nicht passieren – weil alle alles gemeinsam entscheiden.
Menschen kündigen nicht ihren Job, sie kündigen ihrem Chef. Diese Einsicht drängt sich auf,
Wahrscheinlich ist das ein Grund dafür, dass inzwischen viele Firmen mit flachen Hierarchien und fluffiger Arbeitsatmosphäre werben – am besten samt Tischkicker, Bällebad und kostenlosen Mate-Drinks. In manchen Agenturen und Start-ups dürfen Gehalt und Urlaubstage jetzt sogar selbst bestimmt werden. Ist das die schöne neue Arbeitswelt, die unsere Wirtschaft auf den Kopf stellt? Kommt jetzt die große Freiheit?
Nicht solange du einen Chef hast, der die Regeln weiterhin allein bestimmt – das meinen jedenfalls Menschen, die in Kollektivbetrieben arbeiten. Sie wollen auch am Arbeitsplatz Gleiche unter Gleichen sein; ohne Hierarchien, auf Augenhöhe, selbstbestimmt und solidarisch. Arbeiten ohne Chef – kann das funktionieren?
Warum es besser ist, wenn alle mitreden
Denise Kästner und Alexander Naniev können es sich gar nicht anders vorstellen. Sie sind Teil des 8-köpfigen Münsteraner Kollektivs
Wie funktioniert es, wenn niemand das Sagen hat und alle mitreden?
Entscheidungen treffen wir nach dem Konsensprinzip. Sie werden nicht in dem Sinne demokratisch getroffen, dass die Mehrheit über die Minderheit bestimmt, sondern jeder hat das Recht, ein Veto einzulegen.
Trotzdem heißt Arbeiten im Kollektiv nicht, dass endlos geredet wird und jeder macht, was er will. »Regeln und Strukturen ermöglichen erst, dass es funktioniert«, sagt Alexander Naniev, der bei roots of compassion unter anderem den Verkauf und die Kommunikation mit den Kunden organisiert.
Der wichtigste Schmierstoff, damit das Unternehmen läuft, sind geteilte Ziele und Werte. Und hier liegt wohl der größte Unterschied zwischen Kollektivbetrieben und dem herkömmlichen Wirtschaften. roots of compassion arbeitet – wie viele andere Kollektive auch – nicht profitorientiert. Teile des erwirtschafteten Gewinns fließen in neue Projekte, ein anderer Teil wird regelmäßig an Initiativen mit ähnlichen Zielen und Idealen gespendet.
Jeden Dienstag hält das Münsteraner Kollektiv ein Plenum ab, in dem alle Entscheidungen, die gerade für diskussionswürdig erachtet werden, gemeinsam getroffen werden. Tagesordnungspunkte werden vorher in einem Dokument gesammelt; 2 Stunden sind für jedes Plenum angesetzt – es kann aber auch mal länger dauern, erzählt Denise Kästner.
»Wie langwierig Entscheidungsprozesse sind, hängt auch von der Erfahrung ab, wie gewohnt es die Kollektivmitglieder sind, Kompromisse zu machen oder Konsens zu erzielen. Und auch davon, welche Diskussions- und Moderationstechniken sie einsetzen.« Jochen Körtner betreibt den Verein
In Kollektivbetrieben dauern die Entscheidungen zwar länger – aber der Prozess der Umsetzung ist viel effizienter. In normalen Betrieben ist es ja nicht damit getan, dass der Chef eine Entscheidung trifft. Die muss dann ja auch umgesetzt werden. Kollektivbetriebe sind hier besser aufgestellt, denn wenn alle beteiligt waren, ist die Umsetzung letztlich kein Problem mehr.
Auch mitten im
So zeigt
Für Alexander Naniev von roots of compassion ist es nichts weiter als »ein Feigenblatt«, dass der Mainstream gerade eine neue Arbeitskultur ausruft. Solange Gewinnmaximierung das oberste Ziel bleibe, solle man flache Hierarchien auch nicht als Revolution der Arbeitswelt verkaufen. »Man versucht, das Arbeitsklima als besonders förderlich zu verkaufen, um die besten Köpfe in einer Konkurrenzsituation zwischen Unternehmen zu sich zu ziehen. Da gibt es dann Club Mate kostenlos im Kühlschrank und man kann den Chef duzen. Aber das sind keine wirklichen Freiheiten, wie sie uns vorschweben und wie wir hier auch versuchen, sie umzusetzen.« Bei dem Münsteraner Kollektiv ist das »wie« untrennbar verbunden mit dem »was«, in ihrem Fall dem gemeinsamen Einsatz für Tierrechte.
»Der Sinn von Unternehmen kann nicht die Gewinnmaximierung sein«
Elena Tzara ist im Organisations-Team eines Kollektivs, das den Systemwandel ausgerechnet mit einem Produkt herbeiführen will, das weltweit als Symbol des Kapitalismus gilt:
Auch sie meint, dass ein bisschen mehr Demokratie am Arbeitsplatz keinen echten Mehrwert hat – jedenfalls nicht, solange es eine Glasdecke gibt, bei der die Mitbestimmung an ihre Grenzen stößt.
Wir müssen jetzt langsam auch mal größer denken. Allen Menschen ist bewusst, dass die Welt an der Kippe steht und wir dringend etwas ändern müssen, wenn wir wollen, dass auch noch unsere Enkel eine Zukunft haben.
Uwe Lübbermann hat damit vor mehr als 16 Jahren begonnen. Damals änderte der Hersteller seiner Lieblings-Cola einfach das Rezept. Lübbermann wollte sich damit nicht abfinden; ihn ärgerte, dass seine Meinung als Verbraucher offenbar nicht zählte. Er besorgte sich das Rezept der Cola, wie er sie gemocht hatte, und produzierte sie fortan einfach selbst. Das Premium-Kollektiv war geboren. Hier dürfen alle mitreden – natürlich die Mitarbeiter, aber auch Kooperationspartner, Zwischenhändler und sogar die Endverbraucher, sofern sie es denn wollen. Die einzige Hürde, um dem Online-Forum beizutreten, in dem alle Beschlüsse gefasst werden: Man muss einen der Premium-Kollektivisten persönlich kennengelernt haben. Derzeit sind 235 Personen Teil des Kollektivs und können theoretisch über alles mitentscheiden, was die Premium-Getränke betrifft. Wie soll das funktionieren? Was weiß der Endverbraucher schon von den Prozessen in der Abfüllanlage?
Diese Frage bekommt Elena Tzara oft zu hören. Sie gibt zu, dass man die Mitbestimmung bei Premium sehr bewusst auf die Spitze treibe. Aber es funktioniere. »Wir profitieren von einer sehr großen Schwarmintelligenz«, erzählt sie. »Wenn du nicht nur Leute hast, die auf einem Gebiet Fachmensch sind, schauen die da noch mal ganz anders drauf. Bei vielen Entscheidungen kommen wirklich gute Vorschläge von Leuten, die in dem Bereich gar nicht unbedingt das größte Wissen haben.«
2 Ausnahmen vom Konsensprinzip sind bei Premium-Cola vorgesehen:
- Ein Notausschluss ist möglich, wenn Vorwürfe gegen eine bestimmte Person im Raum stehen. Jede Person im Kollektiv kann eine andere dafür nominieren; diese verliert dann ihr Vetorecht und kann relativ schnell ausgeschlossen werden – solange eben niemand von den anderen ein Veto dagegen einlegt. Laut Elena Tzara kam das bislang erst einmal vor.
- Eine Notentscheidung darf eine für den jeweiligen Prozess verantwortliche Person treffen, wenn die Produktion – also damit die Existenz – von Premium bedroht ist. Die Entscheidung muss nachträglich im Kollektiv gerechtfertigt werden, anschließend wird gemeinsam daran gearbeitet, dass eine solche Situation nicht mehr eintritt.
»Es macht keinen Sinn, aus Ideologie sein eigenes Unternehmen zu zerfleischen.« – Elena Tzara, Premium-Kollektiv
Elena Tzara betont, wie wichtig es sei, im Konsens über Strategien zu entscheiden, die verhinderten, dass man sich lahmlege. Das rate sie auch Unternehmen, die etwas an ihren Entscheidungsprozessen drehen und mehr Mitarbeiterinnen mitreden lassen wollen. Aber wollen eigentlich überhaupt alle permanent mitbestimmen?
Demokratie kann man lernen
Das glauben selbst die überzeugten Kollektivisten von roots of compassion nicht. Den Grund dafür sehen sie allerdings nicht in der menschlichen Natur, sondern in einem Bildungssystem, das schon Kinder permanent entmündige und unangepasstes Verhalten abstrafe.
Auch Elena Tzara meint, dass Menschen erst mal lernen müssten, wie konsensbasierte Entscheidung funktioniere.
Es brauche eine Kultur der Großzügigkeit, in der man nicht einfach immer alles blockiere, weil man es nicht so richtig ideal finde. Man müsse Meinungen, Bedürfnisse und Wünsche aller Beteiligten miteinbeziehen; das könne ein komplizierter Prozess sein, an dessen Ende aber Lösungen stünden, die sehr vielschichtig und gut durchdacht wären.
Bei Premium sei die Beteiligung an Entscheidungsprozessen zudem nur ein Angebot, so Elena Tzara. »Es gibt auch Kollektivisten, denen es reicht, eingreifen zu können, wenn das Projekt mal vollkommen vom Kurs abkommt. Aber im Alltagsgeschäft vertrauen sie allen anderen, dass das schon einen guten Weg nimmt.« Eigentlich wie in einem ganz normalen Unternehmen – oder? Der Unterschied liege darin, dass man sich bewusst dafür entschieden habe, den anderen zu vertrauen, sagt Elena Tzara. »Und im Zweifelsfall aber die Wahl hat, sich einzumischen.«
Die Vision hinter roots of compassion und Premium ist dieselbe: eine Wirtschaft
Natürlich sorgen manche Anfragen für Diskussionen, gibt Elena Tzara offen zu. Aber es sei eben möglich, dass man einen positiven Wandel erzeugen könne. »Wenn man von vornherein sagt, man kooperiert nur mit Menschen, die schon so denken wie wir, dann wäre das zwar schön, aber dann kommst du auch nicht großartig aus deiner Blase raus.«