3 Aufgaben, die wir nach Chemnitz endlich anpacken müssen
Was passieren muss, damit sich alle einig sind: Konzerte sind besser als Hetzjagden.
Sind wir so langsam aus dem Gröbsten raus? Die Chemnitzer Chaostage haben so manches Gemüt auch noch in Hunderten Kilometern Entfernung erhitzt. Statt Nazis, die Migranten und Journalisten angreifen und den rechten Arm zum Hitlergruß recken, zeigten die Bilder aus Chemnitz an diesem Montag eine fette Party: Mehr als 65.000 Menschen sind gekommen, um beim Gratiskonzert mit Künstlern wie Kraftklub, Marteria, Casper, K.I.Z., die Toten Hosen und Feine Sahne Fischfilet zu zeigen, dass Chemnitz kein brauner Sumpf ist. #WirSindMehr – diesmal hat dieses Signal zahlenmäßig geklappt. Wenn wir uns bald alle beruhigt haben, können wir besonnen ein paar Schlüsse aus den Ereignissen von Chemnitz ziehen.
Was war eigentlich in Chemnitz los?
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Jeden Tag kommen in Deutschland 6–7 Menschen gewaltsam ums Leben. In der Nacht zum Sonntag, dem 26. August, starb ein 35-jähriger Chemnitzer, nachdem bei einem Streit ein Messer zum Einsatz kam. Dringend tatverdächtig sind 2
»Unsere Stadt – unsere Regeln«, schrieb eine Hooligan-Fanabteilung des Chemnitzer FC am 26. August auf Facebook.
Dem Aufruf folgten 800 Rechte.
Dieser Post, hundertfach geteilt, war schließlich der erste Hauch eines Orkans,
Ähnliche Kräfteverhältnisse, wenn auch unter stärkerer Polizeipräsenz, wiederholten sich samstags mit der als »Trauermarsch« getarnten AfD-Pegida-Kundgebung und anderen Aufmärschen. An diesem Tag wurden auch vermehrt Journalisten zur Zielscheibe.
Droht eine zweite Machtergreifung?
Spätestens, seitdem am vergangenen Montag die sichtlich überforderte Polizei vor der Übermacht der Rechten kapitulierte (bei den nächsten Kundgebungen hatte sie die Lage wesentlich besser im Griff), diskutiert halb Deutschland wild durcheinander: über den braunen Sumpf in Sachsen, über die leise Gegenrede der bürgerlichen Mehrheit, über das staatliche Gewaltmonopol. Manch einer wirft sogar die Frage auf, ob das Szenario einer zweiten Machtergreifung der Nazis wirklich so undenkbar ist, wie fast alle von uns hoffen.
Keine Frage, es ist gut, dass wir solche Diskussionen führen. Jetzt, da sich nach dem Orkan der Staub wieder etwas gelegt hat, können wir ans Aufräumen gehen und Lehren aus den Chemnitzer Chaostagen ziehen. Diese 3 Erkenntnisse helfen uns dabei.
Rechte Mitläufer brauchen ein Forum
Nicht jeder einzelne der rund 6.000 Demonstranten vom vergangenen Montag hat ein Hitler-Porträt über dem Sofa hängen. Aber allein die Tatsache, dass sie dem Ruf der Bürgerbewegung PRO CHEMNITZ gefolgt sind und sich eingereiht haben in eine Kundgebung, bei der Teilnehmer den Hitlergruß zeigten und Naziparolen riefen, macht sie zum Wirkungsverstärker der Nazis. Das ist nicht zu relativieren – denn die historischen Parallelen sind offensichtlich: Im Jahr 1933 kam die NSDAP nicht zuletzt deshalb an die Macht, weil es neben überzeugten Ideologen auch desillusionierte Mitläufer gab. Trotzdem machen wir es uns zu einfach, alle als Nazis abzustempeln.
Dass die Demo so großen Zulauf hatte, zeigt zweierlei: Erstens, dass die Nazis in Chemnitz und deutschlandweit ein riesiges Mobilisierungspotenzial haben. Viele Bürger haben kein anderes Forum, um sich Gehör zu verschaffen.
Sie trommelten in kürzester Zeit nicht nur die Faschos von nebenan zusammen, sondern auch Radikale von weiter weg. Und zweitens, dass viele Bürger in Chemnitz und sicher auch in vielen anderen Orten Ost- und Westdeutschlands kein anderes Forum haben, wo sie sich Gehör verschaffen können.
Viele Menschen, nicht nur in Chemnitz, Sachsen oder Ostdeutschland, leben materiell in großer Unsicherheit. Die Arbeitslosenzahlen hetzen von einem historischen Tiefststand zum nächsten, allerdings nur, weil sie keinen Unterschied machen zwischen einer auskömmlichen Festanstellung und mit einem
»Gegen irgendwen muss man ja sein, und mit denen ist es einfach.«
Sehr plastisch drückte es eine Frau gegenüber einem Reporter von
Die AfD hat (endgültig) ihre Unschuld verloren
Ich weiß, schon sehr häufig hat in den vergangenen Jahren jemand öffentlich erklärt, dass die AfD mit diesem und jenem endgültig eine rote Linie überschritten habe. Dann gab es ein paar Tage Empörung, die abflachte, bis die AfD noch einen Schritt weiter nach rechts ging und dabei die nächste rote Linie übertrat.
Nach den Ereignissen von Chemnitz ist es anders. Diesmal ist die AfD über so viele rote Linien auf einmal hinweggehüpft, dass der Verfassungsschutz schon fast gezwungen ist, sie zu beobachten.
- Markus Frohnmaier, Bundestagsabgeordneter aus Böblingen, setzte diesen Tweet ab:
- Diverse hochrangige AfD-Mitglieder wie die Landeschefs Björn Höcke (Thüringen), Uwe Junge (Rheinland-Pfalz) und Josef Dörr (Saarland) suchten den Schulterschluss zum einschlägig vorbestraften
- Der AfD-Kreisverband Hochtaunus schrieb bei Facebook: »Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und die Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Darüber sollten die Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken, denn wenn die Stimmung endgültig kippt, ist es zu spät!« Darauf gab es neben Empörung auch einige Anzeigen, inzwischen hat sich der
In diese Gemengelage platzt auch noch die Meldung, dass bereits im Juli eine Besuchergruppe der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen so lange den Holocaust relativierte und Naziverbrechen verharmloste, bis sie
Mittlerweile fordert das Spitzenpersonal von SPD und Grünen mit klaren Worten, der Verfassungsschutz solle die AfD beobachten. Auch aus anderen Parteien kommen Forderungen, zumindest einzelne Mitglieder oder Gruppen zu beobachten. Und die Verfassungsschützer in Bremen und Niedersachsen lassen den Worten bereits Taten folgen: beide Landesämter haben jeweils die Markus Söder warnt vor einer »versteckten, geheimen Agenda« der AfD.
Und sogar der bayerische Ministerpräsident Markus Söder – der selbst schon bewiesen hat, dass er Populismus kann – unterstellt der AfD eine
Die AfD hat sich auf der Suche nach einer einheitlichen Haltung zu Chemnitz gewunden wie eine Kobra, die ein Schlangenbeschwörer am Genick packt. Teile der Partei haben in scheinheiliger Weise die Trauer um Daniel H. gekapert und instrumentalisiert. An vielen unterschiedlichen Stellen ist jedoch eine Haltung durchgeblitzt, die sich klar gegen den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat richtet. Dass die ehemalige Anti-Euro-Rettungsschirm-Partei längst radikale Züge trägt, die den Verfassungsschützern nicht länger gleichgültig sein können, machte auch ihr Chef Alexander Gauland deutlich. Vor ein paar Wochen forderte er auf dem Parteitag in Augsburg, nicht nur Kanzlerin Angela Merkel, sondern ein
Ob all diese neueren und neuesten Entwicklungen der AfD nun eine Überwachung mit V-Männern, angezapften Telefonen und anderen Großkalibern aus dem Instrumentarium des Verfassungsschutzes rechtfertigen, muss die Behörde selbst entscheiden.
Das gilt im Übrigen auch für andere Gruppierungen: Die frisch gegründete politische Stiftung der AfD, die Desiderius-Erasmus-Stiftung, will das AfD-Weltbild in der Gesellschaft verankern,
Die Politik muss Ursachen statt Symptome bekämpfen (okay, Symptome auch)
Die voranschreitende Ächtung der AfD birgt aber auch ein Problem, solange sie eine große Basis besitzt. Diese Menschen könnten sich noch weiter als ohnehin schon vom politischen Geschehen in diesem Land entfernen.
Und damit sind wir bei den Ursachen, die Situationen wie die in Chemnitz bedingen: Da sind die bereits erwähnten Verteilungsängste, gepaart mit dem fehlenden Vertrauen, dass gemäßigte politische Kräfte die individuelle Lage verbessern werden.
Noch haben nicht alle Ostdeutschen ihren Platz in der globalisierten Welt gefunden, die nach dem Mauerfall Einzug gehalten hat.
Längst nicht alle, aber zumindest einige Bewohner der ehemaligen DDR
Chemnitz ist ein Indikator dafür, dass viele Menschen sich auch nach 28 Jahren noch nicht in der Mitte der Gesellschaft aufgenommen fühlen. Kein Wunder, wenn man sich die Witze über das rückständige, naziverseuchte Sachsen anhört, bei denen schon die möglichst bescheuerte Imitation des vermeintlichen Hinterwäldler-Dialekts die Lacher garantiert. Es kommt nicht von ungefähr, dass die sächsische Integrationsministerin die Forderung vieler Bürger zu ihrem politischen Ziel machte:
Wenn man sich wie ich aus der Ferne mit Chemnitz beschäftigt, kann man dabei leicht den Eindruck bekommen, die Ostdeutschen beziehungsweise die Chemnitzer seien Nazis, deren Integration vollends gescheitert ist. Deshalb kann man gar nicht oft genug sagen, dass das nur bei einem kleinen Teil stimmt – es braucht nur ein entsprechendes Klima, damit die »schweigende Mehrheit« den Diskurs korrigiert. Im Webstream des Konzerts
Sicher, es ist auch wichtig, dass die lokalen Programme gegen Rechtsextremismus fortgeführt werden, sie gehören sogar ausgebaut. Wichtiger ist es jedoch, den Rechten den Nährboden zu entziehen, indem wir deutlich machen, dass die Menschen im Sendegebiet des Mitteldeutschen Rundfunks auch zur Mitte der deutschen Gesellschaft gehören.
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