So geht Schule, die wirklich aufs Leben vorbereitet
Statt Tafeln und Kreide gibt es dort Tablets und WLAN, statt ständiger Kritik bekommen Lehrkräfte Respekt. Dieses Land hat eines der besten Schulsysteme Europas.
Mathematikunterricht in der dritten Klasse des
Die Lehrerin Riina Leppmaa ist eine zierliche, blonde Dame in brauner Bluse und dunkelblauen Jeans. In der Hand hält sie einen Stift, mit dem sie auf dem weißen Board schreiben kann. Der Stift hinterlässt keine Kreidespur, sondern eine feine, schwarze Linie. Per Knopfdruck wird der Stift zum Radiergummi oder zum Textmarker. Mit ihrer Fernbedienung kann Riina Leppmaa auch Dateien in verschiedenen Formaten öffnen, Texte einblenden oder Videos zeigen.
Die Mathelehrerin öffnet eine Datei mit Textaufgaben, die auf dem Smartboard erscheint. Die Schüler lesen: »Bei der Fußball-WM gibt es 8 Gruppen mit jeweils 4 Mannschaften.« Sie sollen herausfinden, wie viele Teams mitspielen.
Vor jedem Schüler liegt eine gedruckte Karte mit 4 QR-Codes – jeder Code steht für eine von 4 Antwortmöglichkeiten. Die Kinder scannen die entsprechenden Codes, innerhalb weniger Sekunden bekommt die Lehrerin die Ergebnisse auf ihrem Tablet angezeigt, gleichzeitig erscheinen sie auf dem Smartboard. Nur 3 Schüler lagen falsch,
Informatikunterricht einer sechsten Klasse; 20 Kinder sitzen an Computern. Das Thema des Unterrichts: »Ein Wintertag«. Die Kinder sollen sich Objekte überlegen, die sie mit Wintertagen verbinden. Anschließend lautet die Aufgabe, Schneeflocken, Tannenbäume oder Schlittschuhe in einem 3D-Grafik-Programm zu zeichnen. Davon kennen sie bis jetzt nur den Namen, ausprobieren müssen sie es selbst.
Was in Deutschland nach Utopie klingt, ist in Estland schon lange Realität.
Kommen sie nicht weiter, können sie sich untereinander austauschen oder im Internet Video-Tutorials anschauen. Eines der am Computer gezeichneten Objekte – die Schneeflocke wird am Ende das Rennen machen – wird dann mit dem
Im Nebenraum sind andere Schüler mit der Programmierung von Robotern beschäftigt, die selbstständig Linien auf einem Blatt Papier abfahren sollen. Andere im selben Raum nutzen das Licht ihrer Smartphones, um damit Roboter zu führen, die auf Licht reagieren.
Klingt utopisch? Was in Deutschland nach einer gewagten Vision für die Schule der Zukunft klingt, ist im kleinen Estland schon lange Realität.
Mangelnde Digitalkompetenz, skeptische Bevölkerung
In Deutschland dagegen hinken viele Schulen ihren Schülern bei der Digitalisierung hinterher. Die Klassenzimmer stecken oft
Big Data, E-Government, Industrie 4.0? In Deutschland fremdeln große Teile der Bevölkerung mit digitalen Themen.
Wenn das so bleibt, wird sich so schnell nichts daran ändern, dass große Teile der Bevölkerung hierzulande mit digitalen Themen fremdeln. Während der Begriff
Viele Berufsprofile werden sich bald verändern – und wer mit digitaler Technik umgehen, programmieren oder Daten analysieren kann, besitzt in Zukunft gefragte Qualifikationen. Solche Kompetenzen vermittelt die digitale Bildung – am besten ab dem Tag der Einschulung. Digitale Probleme und Lösungsoptionen identifizieren, technische Systeme einrichten, neue Programme lernen – diese Kompetenzen können dabei helfen, die Herausforderungen der digitalen Welt zu meistern. Und in dieser ist Deutschland bislang noch Entwicklungsland.
Digitale Kompetenzen für das 21. Jahrhundert
Anders sieht es in Estland aus. Der baltische Staat hat den freien Zugang zum Internet bereits im Jahr 2000 zum Grundrecht gemacht und ist stolz darauf, dass etwa
Das estnische Bildungssystem schafft die Voraussetzungen für
Wir wollen, dass Kinder und Eltern frühzeitig eine positive Einstellung zur Technologie entwickeln. Kindern wird beigebracht, kreativ zu sein, wenn es um Technologie geht.
»Das Lernen digitaler Kompetenzen sowie der kreative und kritische Umgang mit digitalen Technologien sind im Bildungssystem fest verankert: in der Lehrerausbildung, in der Ausstattung von Kindergärten und Schulen sowie durch das Ausprobieren neuer digitaler Unterrichtskonzepte und -fächer«, erzählt Kristel Rillo, stellvertretende Leiterin der E-Service-Abteilung im estnischen Ministerium für Bildung und Forschung. Das sogenannte
Statt Tischen und Tafeln befinden sich in den Klassenzimmern verschiedene Arbeitsstationen, an denen Lektionen mit unterschiedlichen Methoden gelehrt werden – von Online-Tutoring, Erklärvideos und Liveunterricht bis hin zu Gruppenarbeit. Die Lehrkräfte betreuen ihre Schüler und Schülerinnen nach Bedarf, meist lernen die Kinder selbstständig. Am Ende des Tages wird der individuelle Lernerfolg mit einer Online-Prüfung erfasst und analysiert.
Die regelmäßige Kommunikation zwischen Eltern, Schülern und Lehrkräften ist zentral für den Erfolg der Kinder. Doch in der Praxis gestaltet sich dieser Informationsaustausch manchmal schwierig. Bis Eltern etwa von unerledigten Hausaufgaben und schlechten Noten erfahren, ist das Kind oft schon sprichwörtlich in den Brunnen gefallen.
»Viele Schulen sind schon jetzt vollkommen digitalisiert und individualisiert« – Kristel Rillo, stellv. Leiterin der E-Service-Abteilung im estnischen Bildungsministerium
Damit das nicht passiert, gibt es
Mehr Chancen auf die individuelle Bildung
Während in Deutschland der Schulerfolg immer noch mit der
Durch die Möglichkeit der
Der Zugang zu digitalen Technologien und Bildung in Estland ist keine Frage des Alters.
Aber auch das Schulsystem gilt als eines des besten Europas und das spiegelt sich im Bildungserfolg wider: Laut der
»Lehrkräfte in Estland genießen eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung und Anerkennung. Eltern begegnen ihnen mit großem Vertrauen und nicht mit ständiger Skepsis. Ohne dieses Vertrauen – gegenüber Lehrern, der Regierung und der digitalen Zukunft – würden wir nicht so viel schaffen«, erklärt Kristel Rillo.
Dieses Vertrauen entsteht durch Kompetenzen und Transparenz. Je besser Bürger die digitalen Vorgänge kennen und verstehen, desto höher ist die Chance, dass sie Vertrauen aufbauen und sich selbst aktiv einbringen. In Estland wird Digitalisierung als etwas Normales, Alltägliches angesehen und mit positiven Attributen wie Sicherheit, Erleichterung des Alltags oder neuen Marktchancen verbunden.
Bricht jetzt auch in Deutschland das Ende der Kreidezeit an?
Dass die Schüler in Deutschland fit für die Digitalisierung gemacht werden sollten, haben inzwischen auch deutsche Politiker verstanden. Im
Erfolgreiche Projekte gibt es bereits – sowohl aus staatlicher als auch aus privater Initiative. Hier sind nur 3 Beispiele:
- Die
- Auch für die Schüler der Hamburger Förderschule Elfenwiese hat die Zukunft des Lernens begonnen: Sie alle haben körperliche oder motorische Beeinträchtigungen – und für das Miteinander im Unterricht und in den Pausen leisten digitale Tools, Tablets, Whiteboards und Apps einen wichtigen Beitrag. Wer nicht sehen kann, nutzt die Braille-Zeile auf der Computertastatur, wer nicht hört, sieht während des Unterrichts verschiedene Lernvideos auf dem Tablet. Digitale Medien gleichen Beeinträchtigungen aus und ermöglichen so allen die Teilhabe am
- Im sauerländischen Olpe erprobt eine mutige Lehrerin – die im Internet unter dem Pseudonym
Um digitale Bildung in Deutschland zum Alltag zu machen, reichen Leuchtturmprojekte wie diese aber nicht aus.
Natürlich ist es einfacher, die Bildungsrevolution in einem kleinen Land wie Estland voranzutreiben. Das heißt aber nicht, dass es für Deutschland mit seinen über 80 Millionen Einwohnern unmöglich ist.
Vor allem ist es eine politische Entscheidung. Diejenigen, die Lehrpläne schreiben und Entscheidungen treffen, müssen sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben und die Vorteile und Risiken neuer Methoden kennen und erkennen. Voraussetzung dafür ist auch eine bessere digitale Infrastruktur: unter anderem ein freier Internetzugang für alle.
Diskussionen um Handyverbote an Schulen sind also genau der falsche Ansatz. Das oberste Ziel der Ausbildung sollte es sein, die Schüler bestmöglich auf die zunehmend digitale Welt vorzubereiten. Und wenn sie mit dem Handy etwas Neues lernen können – dann gibt es keinen Grund, darauf zu verzichten.
Dieser Text ist Teil unserer Reihe Europa-Reise.