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Meinung 

Wir brauchen mehr Verbote!

Wer das strikt ablehnt, hat eines nicht verstanden: Ohne Regeln gibt es keine Freiheit.

24. September 2018  –  6 Minuten

Bitte einmal hier unterschreiben. Jetzt noch hier … und ein letztes Mal hier unten. Das war’s, besten Dank! Hiermit haben Sie sich nach zahlreichen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz selbst dazu verpflichtet, künftig von derartigen Verstößen abzusehen. Mit der Unterschrift werden alle bisherigen Vergehen ad acta gelegt. Wir haben vollstes Vertrauen in Sie und möchten deshalb von jeglicher Ihre persönliche Freiheit einschränkenden, strafrechtlichen Verfolgung absehen. Schön, dass Sie fortan auf den Konsum illegaler Substanzen verzichten wollen.

Das kleine Gedankenexperiment, Kiffer und Fixer mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung von ihren fernzuhalten, ist abwegig und naiv. Wer sein Verhalten jahrelang gegen das Gesetz und über alle rechtlichen Hürden hinweg durchgezogen hat, soll plötzlich unter neuen, viel laxeren Spielregeln zum frommen Abstinenzler werden?

Wer ein pauschales Verbots-Verbot fordert, drückt sich vor der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.Der Gedanke ist aber auch aufschlussreich: Kaum jemand, der grundsätzlich eine restriktive Drogenpolitik unterstützt, würde eine solche Selbstverpflichtung befürworten und einem klaren Verbot vorziehen. Trotzdem schlagen die Reaktionen, wenn neue Verbote im Gespräch sind, schnell von Skepsis in Hysterie um. Gerade wenn es um Umweltfragen geht, ist von die Rede. Verbieten sei motiviert, schränke unnötig die Freiheit ein und stelle Betroffene unter Generalverdacht. »Als Nächstes wollen die uns noch die verbieten!«

Wer so tönt, hat nicht nur zu wenig nachgedacht – oder bedeutet ein bundesweites Mord-Verbot etwa, dass der Staat in all seinen Bürgern Meuchelmörder schlummern sieht? Nein, wer ein pauschales Verbots-Verbot fordert, drückt sich vor der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Was wir stattdessen brauchen, sind sachliche Debatten – und mehr Verbote!

Quelle: Chris Adams

Nicht Verbote sind das Problem – sondern verschiedene Sichtweisen

Während wir uns bei Mord und Diebstahl einig sind, gibt es viele heikle Angelegenheiten wie Marihuana, Fahrverbote oder Fleischkonsum, bei denen tiefe Gräben verlaufen zwischen denen, die ein Verbot fordern, und denen, die es ablehnen.

Die Konflikte verlaufen dabei nicht entlang des persönlichen Geschmacks, also etwa in Bezug auf die Frage, ob man Fleisch nun mag oder nicht. Es knirscht, weil die Handlungen, deren Verbot im Raum steht, für beide Seiten eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben. Ob du ein Verbot begrüßt oder ablehnst, hängt vor allem von der Frage ab:

Hat das Verbot für dich in erster Linie individuelle oder gesellschaftliche Bedeutung?

Fleischkonsum ist ein hervorragendes Beispiel: Die meisten Menschen betrachten es als ihre Privatangelegenheit, ob am Abend ein Schweine- oder ein auf dem Grill liegt. Klar: Niemand anderes muss die Wurst bezahlen, niemand anderem muss sie schmecken und niemand anderem schlägt sie im Zweifel auf die Gesundheit. Die eigene Familie hat es wahrscheinlich schon immer so gemacht, das hat Tradition.

Hat das Verbot für dich in erster Linie individuelle oder gesellschaftliche Bedeutung?

Die Kritiker einer industriellen Tierhaltung würden diesen Argumenten wahrscheinlich nicht widersprechen. Sie haben aber eine Reihe von Gegenargumenten, die sich auf einer völlig anderen Ebene abspielen: Sie sehen in der Bratwurst das fühlende Schwein mit eigenen Bedürfnissen und das sein Leben gelassen hat. Sie sehen nitratverseuchte Grundwässer und gerodete Regenwälder, auf denen das Schweinefutter angebaut wurde. Es geht ihnen also nicht darum, dem Grillmeister den Genuss zu vermiesen – sondern die Allgemeinheit vor dem

Betreten verboten! – Quelle: Siora Photography

Das legt den Kern offen, um den es bei Verboten immer geht: Wo endet die eigene Freiheit, wo beginnt die der Allgemeinheit? Und wie wägen wir die beiden im Zweifel gegeneinander ab? Müssen wir den Klimakollaps in Kauf nehmen, damit wir weiter ungehemmt Fleisch schlemmen können?

Ähnlich sieht es zum Beispiel bei einem Verbot von Marihuana aus: Während es für die Befürworter des Verbots darum geht, die Gesellschaft vor einer und vielen Verkehrstoten zu bewahren, verstehen die anderen nicht, warum ihnen der Feierabend-Joint nicht vergönnt sein soll, wo sie doch niemandem ein Haar krümmen. Auch im Falle der stellt sich die Frage: Nehmen wir es lieber hin, dass ein Teil der Gesellschaft (die Autofahrer) nicht mehr durch die Innenstadt brausen kann – oder dass ein anderer Teil (die Innenstadtbewohner) unter schlechter Luft, Lärm und Platzmangel leiden muss?

Wie du im konkreten Fall abwägst, welches Interesse für dich schwerer wiegt, hängt von vielen weiteren Fragen ab:

  • Geht es um ein neues oder ein bestehendes Verbot? Menschen scheuen Veränderung. Die möglichen Nachteile, die mit der Einführung eines neuen Verbots oder der Abschaffung eines alten einhergehen, erscheinen uns oft riesig. Die möglichen Verbesserungen dagegen unterschätzen wir. Deshalb sträuben wir uns mit Händen und Füßen gegen Änderungen – und haben die Sache, wenn sie mal durch ist, ganz schnell wieder vergessen. Oder fühlt sich heute noch ernsthaft jemand von der Gurtpflicht stranguliert und wünscht sich den Aschenbecher auf den Restaurant-Tisch zurück?
  • Was hast du durch das Verbot zu verlieren? Ein Verbot zu unterstützen, das an deinem eigenen Leben überhaupt nichts ändert, ist relativ einfach. Um als Christ einer jungen Muslimin das Kopftuch zu verbieten, als Tieraktivist dem Metzgerlehrling die Wurst zu nehmen und als Bierliebhaber gegen eine Liberalisierung von Haschisch zu sein, muss man keine Opfer bringen. Dass die Betroffenen das anders bewerten, ist klar.
  • Hast du das Verbot schon immer blöd gefunden? Wir alle unterliegen zahlreichen weiteren Denkfallen, wie zum Beispiel der »Confirmation Bias«. Informationen, die unseren bisherigen Überzeugungen widersprechen, sortieren wir aus und versuchen, sie zu widerlegen. Was uns dagegen in den Kram passt, schlucken wir allzu bereitwillig.

Dir diese Fragen zu stellen hilft dabei, zu verstehen, warum du für ein Verbot bist – und warum dein Gegenüber es vielleicht strikt ablehnt. Und wenn du merkst, dass du vielleicht sogar auch mal deine Meinung geändert hast, ist das ein gutes Anzeichen dafür, dass du die Argumente auch wirklich ernst nimmst.

Ohne Verbote keine Freiheit

Bei vielen Fragen ist völlig klar, dass der Einzelne im Interesse aller zurückstecken muss. Die Debatten darüber, wie wir es mit Mord und Diebstahl halten, sind seit biblischen Zeiten geklärt, zeigt ein Blick ins Alte Testament. Denn schon die sind genau genommen vor allem Verbote:

  • Du sollst nicht töten.
  • Du sollst nicht ehebrechen.
  • Du sollst nicht stehlen.

Auch wenn einige dieser Jahrtausende alten Regeln (für viele) überholt sind, so gelten die meisten im Grundsatz noch immer. Sie sollen uns garantieren, unversehrt durch den nächsten Tag und das nächste Jahr zu kommen.Erst ein ausgeklügeltes Regelwerk schafft für gefährliche Stahlgeschosse ein funktionierendes Verkehrssystem.

Gerade in den letzten beiden Jahrhunderten hat sich aber der Rahmen, in dem sich unser Alltag abspielt, so verändert, dass viele neue Regeln hinzugekommen sind. Neue technische Möglichkeiten und Formen des Zusammenlebens haben Gesetze nötig gemacht, die vor 300 Jahren so viel Sinn ergeben hätten wie ein Mehrfachstecker in der Kreidezeit – die heute aber kaum wegzudenken sind. Beispiel Auto: Erst ein ausgeklügeltes Regel- und Verbotswerk schafft für gefährliche Stahlgeschosse ein funktionierendes und einigermaßen sicheres Verkehrssystem. Rote Ampeln überfahren, mit 120 Sachen durch die Innenstadt brettern und Fahrerflucht begehen? Verboten!

Die Welt dreht sich weiter!

Wer neue Verbote strikt ablehnt, verkennt, dass sich die Welt ständig wandelt. Wir häufen einerseits immer mehr und immer schneller Wissen an. Damit verstehen wir auch immer besser, wie sich unser Verhalten auf komplexe Art und Weise auf andere auswirkt. Das gilt für unseren Körper, unsere Psyche, unsere Gesellschaften.

Neue Technik erfordert neue Verbote. – Quelle: Martin Sanchez

Und insbesondere für unsere Umwelt. Erschlägt ein Mann einen anderen mit der Axt, sind Ursache und Wirkung nicht gerade schwer zu entziffern. Lässt er unsichtbare Gase in die Luft, die über Jahrzehnte das Klima verändern und am anderen Ende des Globus dazu führen, dass eine ganze Familie ihr Leben bei einem Waldbrand verliert, ist der Zusammenhang verschachtelt, verzögert und viel weniger offensichtlich. Aber kein bisschen weniger verheerend.

Wir können dieses Wissen ausblenden und einfach weitermachen. Festhalten an Routinen, die wir einstudiert haben, als wir es nicht besser wussten. Verantwortungsvolle Politik berücksichtigt aber die Informationen, die ihr zur Verfügung stehen. FCKW frisst Löcher in die Ozonschicht? Also Und natürlich müssen auch alte Verbote verschwinden, wenn sich die Grundlage als falsch erweist – oder als erstunken und erlogen. Oder glaubt hier noch jemand, dass Masturbation krank macht und zum Wählen sind?

Mit dem Wissen verändern sich unsere Werte. Allein bei den Geschlechterrollen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten die Plattentektonik erheblich verschoben. Das hat uns viele wichtige neue Werkzeuge gebracht (Vergewaltigung in der Ehe wurde verboten!) und uns von drückenden Altlasten befreit (Frauen wurde das Wählen erlaubt!).

Und genau deshalb, weil wir immer mehr wissen und immer neue Lebenswelten auch neue Regeln erfordern, brauchen wir mehr Verbote! Sie sind kein Grund zur Angst – sondern ein Zeichen für neu gewonnene Freiheit.

Grünes Licht für mehr Verbote! – Quelle: Carlos Alberto Gómez Iñiguez

Titelbild: Erwan Hesry - CC0 1.0

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