Europa ist solidarischer, als du denkst. Hier sind 4 Beweise
Krisen und Rechtspopulismus – zerfällt die Idee eines gemeinsamen Europas? »Nein!«, sagt dieser Soziologe. Nur in einem Fall wollen weniger Europäer helfen.
Solidarität mit den Menschen, die im Mittelmeer ertrinken? Das ist doch selbstverständlich.
Das sagt mir die junge Demonstrantin in der grellorangenen Schwimmweste. Ich gehe neben ihr her, um herauszufinden, warum sich Menschen solidarisch mit anderen zeigen – oder nicht. Eine Frage, die mich seit diesem Protest-Spätsommer umtreibt, der auch mit den Rufen begann,
Soziologen der Universität Leipzig und der Freien Universität Berlin haben sich angeschaut, wie viele Europäer sich für Menschen auf der Flucht einsetzen würden. Das war aber nur ein Teil der großen Studie zur Frage: Ein Interview mit dem über die überraschenden Ergebnisse.
Es geht nicht »alles den Bach runter«
Zusammen mit anderen Soziologen haben Sie jetzt in einer Studie nachgewiesen: Europa ist solidarischer, als viele vermuten. Wie haben Sie das festgestellt?
Holger Lengfeld:
Wir haben in 13 europäischen Ländern eine repräsentative Umfrage durchgeführt. Unsere Frage war: Wie solidarisch wollen die Europäer füreinander einstehen? Europäisch bedeutet hierbei, dass wir nicht die Solidarität zwischen Arm und Reich innerhalb eines Nationalstaats untersucht haben, sondern zwischen den Menschen, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU leben. Das Ergebnis steht im Widerspruch mit der öffentlichen Wahrnehmung. Viele glauben,
Dem ist nicht so?
Holger Lengfeld:
Auch wir sind eher davon ausgegangen, dass wir in der Studie auf Solidaritätsskepsis stoßen werden. Doch nachdem wir die Solidaritätsbereitschaft – also die Bereitschaft, Menschen in materiellen Notlagen mit eigenen Ressourcen zu unterstützen – in 4 unterschiedlichen Bereichen abgefragt hatten, zeigte sich: Im Durchschnitt findet sich über alle Staaten hinweg eine Mehrheit von Bürgern, die bereit sind, sich grenzübergreifend sowohl mit anderen Europäern als auch mit Menschen auf der Flucht solidarisch zu erklären und diese zu unterstützen.
Welche 4 Bereiche haben Sie untersucht?
Holger Lengfeld:
Wir erlebten in Europa in den vergangenen Jahren verschiedene Krisen: die Staaten in die Überschuldung getrieben hat. Deshalb wollten wir wissen, ob die Europäer dazu bereit sind, überschuldeten Ländern aus ihrer Notlage zu helfen.
ist sehr schnell eine Wirtschaftskrise erwachsen. Menschen verloren ihre Arbeit, die möglicherweise keine staatliche Absicherung hatten. Also wollten wir wissen: Wie sehr würden die Europäer andere Menschen in deren persönlichen Notlagen unterstützen? Dann haben wir noch die Frage der Umverteilung gestellt. Durch die Finanzkrise vergrößerte sich der zwischen West- und Südeuropa wieder, der sich in den Jahren zuvor verringert hatte. Wir untersuchten, wie sehr die Europäer dazu bereit sind, etwas von dem, was in ihrem Land zusätzlich erwirtschaftet wurde, an andere, schwächere Länder abgeben – Und dann fragten wir noch
Letzteres ist immer noch ein großes Reizthema in Europa – zeigte sich das auch in der Untersuchung?
Holger Lengfeld:
Bei der »Flüchtlingsfrage« wurde es tatsächlich kritisch. Hier scherten die Bürger der von uns untersuchten osteuropäischen Länder – Polen, Tschechien und Ungarn – sowie die von Zypern aus. Dort sprach sich jeweils eine Mehrheit gegen die Aufnahme von Flüchtlingen muslimischen Glaubens aus. In den 3 anderen untersuchten Solidaritätsbereichen fanden wir tatsächlich in jedem der Länder eine Mehrheit, die sich dafür aussprach. Das zeigt uns, dass die Entstehung eines neuen Typus von Gesellschaft in Europa voranschreitet.
Wer sind die, die kein solidarisches Europa unterstützen?
Holger Lengfeld:
Menschen, die sich selbst eher als rechts einschätzen und nationalistisch denken, sind auch eher gegen europäische Solidarität.
Solidarität – was ist das eigentlich?
dann auch ein Zeichen für eine wachsende Solidarität innerhalb der Bevölkerung?
Holger Lengfeld:
Der Begriff Solidarität braucht in diesem Zusammenhang eine Klärung. Weil Solidarität im Alltag verschieden verstanden wird.
Stimmt, das Problem mit dem Begriff hatte ich auch im Vorfeld dieses Interviews. Dann stellen wir die Frage erst mal hintenan und klären zuerst diesen Punkt: Wie geht Solidarität?
Holger Lengfeld:
Der Begriff von Solidarität, den ich verwenden würde, beschreibt ganz einfach die Tatsache, dass Menschen für andere in einer Notlage einstehen. Das ist relativ weit gefasst, macht aber deutlich, dass man nur in dieser bestimmten sozialen Situation überhaupt von Solidarität sprechen kann: Diese Hilfe kann verschiedene Formen annehmen:
Bereitstellung von symbolischer Unterstützung: Das ist das, was wir sehr häufig im Alltag unter Solidarität verstehen. Wir erklären uns mit jemandem gemein und unterstützen sein Anliegen, zum Beispiel auf Demonstrationen oder beim Unterschreiben von Petitionen.
Stärkung von Schwächeren durch Zusammenlegung von Ressourcen: Das ist ein Solidaritätsverständnis, das wir häufig in der Arbeiterbewegung finden – also die Herstellung von Macht, indem viele, die über wenig Einfluss verfügen, sich zusammenschließen, um gemeinsam Ziele zu erreichen. Jede gewerkschaftliche Aktion,
Verteilung von Gütern: Das ist, wenn wir Menschen, die sich in einer materiellen Notlage befinden, unterstützen. Das beginnt bei den 50 Cent und endet bei organisierter Solidarität, wie wir sie aus Wohlfahrtsstaaten kennen. Der Wohlfahrtsstaat erhebt Steuern, also er nimmt vielen, um das dann wenigen Hilfsbedürftigen zu geben.
Nach diesem Exkurs ahne ich Ihre Antwort auf die Frage, ob das in Chemnitz eine Solidaritätsbekundung war …
Holger Lengfeld:
Ich glaube nicht, dass das viel mit Solidarität zu tun hat. Sondern es geht darum, dass Menschen ihre Werte vertreten, also die wesentlichen Dinge im Leben, an die sie glauben. Es gibt Menschen mit verschiedenen Werten, die organisieren sich in Gruppen und treten Die Menschen, die gegen fremdenfeindliche Übergriffe demonstrieren, erklären sich nur indirekt mit dem Fremden solidarisch. Ihre Absicht ist eher: Ich will zeigen, in welchem Land und in welcher Gesellschaft ich leben will.
Warum sehen wir nur das Schlechte?
Demonstrationen zur erfüllen dann aber wieder den »Tatbestand« der Solidarität. Bei einer Kundgebung in Münster sagten mir viele Demonstranten, dass es selbstverständlich sei, Solidarität zu zeigen. Sehen Sie das auch so? Kann Solidarität für uns überhaupt selbstverständlich sein?
Holger Lengfeld:
Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, solidarisch zu handeln. Weil Solidarität bestimmte Wertüberzeugungen voraussetzt. Wer diese nicht teilt, wird sich auch nicht solidarisch zeigen. Auf dieser Demonstration werden Sie Menschen getroffen haben, die wir in der Forschung als Kosmopoliten bezeichnen. Das sind Menschen, die halten Überzeugungen hoch, in deren Zentrum eine offene, grenzenlose Welt steht. Sie verstehen sich als gleichberechtigte Weltbürger, die füreinander einstehen müssen.
Die Menschen, die diese Werte nicht teilen, nennen wir Kommunitaristen. Da steckt der Begriff Kommune drin. Kommunitarismus ist eine Denkweise, die besagt, dass Gesellschaft am besten kleinräumlich zu organisieren sei. In kleinen Gemeinschaften, die hoch integriert sind, in denen alle dieselbe Sprache, dieselbe Kultur, dieselben Werte kennen. Das gemeinsame Erinnern und die gemeinsamen Werte bilden in diesem Rahmen die Basis für Solidarität. Das ist eine Überzeugung, die von Menschen, die kosmopolitisch denken, als grundfalsch abgelehnt wird und nicht als Solidarität anerkannt wird.
Wie entsteht Kosmopolitismus überhaupt?
Holger Lengfeld:
Eine Theorie ist, dass Kosmopolitismus nur dann verbreitet wird, wenn es uns gut geht und niemand hungern muss. Zum Beispiel müssen die materiellen Grundbedürfnisse einer Gesellschaft und das Bedürfnis nach Sicherheit befriedigt sein. Erst dann streben die Menschen nach Selbstentfaltung. Und dann sind sie auch bereit, anderen, die in Not sind, zu helfen. Konkreter: Die große Hilfsbereitschaft von Deutschen gegenüber Flüchtlingen, die wir auch in unseren eigenen Daten sehen, ist ein langfristiger Effekt unseres Wohlstandsniveaus. Man darf aber nicht den Umkehrschluss machen, dass die Solidaritätsbereitschaft nur vom wirtschaftlichen Wohlstand eines Landes abhängt. Aber es gibt diesen Wohlstandseffekt, der sich nachweisen lässt.
Europäische Solidarität, Wohlstandseffekt – das klingt alles chancenreich. Warum, und damit wären wir wieder am Anfang des Interviews, nehmen wir das so wenig wahr?
Holger Lengfeld:
Ich habe eine Vermutung. Da ich mich als empirischer Sozialforscher verstehe, betone ich, dass ich dafür keine Belege habe. Mir scheint aber, dass es eine schweigende Mehrheit gibt. Und diese schweigende Mehrheit wird bei der heutigen Krisenbetrachtung überhaupt nicht beachtet. Weil wir in der Öffentlichkeit – und da schließe ich auch Journalisten und Medien mit ein – Ereignisse als wichtiger bewerten, die vom Alltag abweichen. Der Fokus auf den Rechtspopulismus scheint zu verstellen, dass sich ein großer Teil der europäischen Bürger ganz still und leise mit einer Entwicklung arrangiert hat und diese unterstützt. Diese Entwicklung bedeutet auch, dass wir in der europäischen Integration weiter voranschreiten.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.