Manchmal keinen Appetit, dauernd müde und immer wieder gereizt. Ist das jetzt einfach ein schlechter Monat, der stressige neue Job, irgendein Vitamin-Mangel – oder ist das schon ein Hinweis auf etwas Ernstes?
Vielleicht kennst du solche Sorgen von dir selbst. Denn genau, wie wir bei Kopfschmerzen oder Husten nach Ursachen und Zusammenhängen suchen, versuchen wir auch zu begreifen, was hinter Veränderungen in unserer Gefühlswelt steckt. Wer dafür lange genug im Internet recherchiert, stößt auf die unterschiedlichsten Diagnosekriterien für psychische Erkrankungen – und findet manche Sorgen bestätigt. So scheint es fast, als sei mittlerweile jeder auf irgendeine Art psychisch krank.
Kann das sein? Und wenn ja: Was ist dann überhaupt noch »normal«?
Tatsächlich werden seit einigen Jahren bei immer mehr Menschen
Ein gutes Beispiel sind die veränderten Kriterien für eine depressive Episode, die einen gravierenden Unterschied machen:
Dabei leuchtet es den meisten Menschen intuitiv ein, dass das »Trauerjahr« eine völlig gesunde Reaktion ist. Hinzu kommen neue, eher fremd klingende Diagnosen – von der
Das kann von außen den Eindruck erwecken, dass immer mehr Verhaltensweisen, Gefühle und Gedanken als »krank« gelten.
Drücken wir also normalen Gefühlszuständen und Lebensphasen vorschnell den Stempel »krank« auf?
Einer der prominentesten Kritiker der Veränderung der Diagnosesysteme ist der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, der selbst an früheren Weiterentwicklungen des DSM beteiligt war. Er hat seine Sorge in seinem Buch
Andere Psychiater haben eine
Sie alle befürchten, dass Diagnosen künstlich
Ihr Credo: Jede Falschdiagnose führe dazu, dass Ressourcen des Gesundheitssystems an
Aber warum sollte daran jemand ein Interesse haben?
Ein möglicher Verdächtiger ist laut den Kritikern die Pharmaindustrie, die mit Psychopharmaka ein Milliardengeschäft macht. Schließlich verdiene die an mehr Kranken, die mehr Medikamente benötigen. Tatsächlich haben mindestens 20 der 29 Task-Force-Mitglieder des DSM-5 Verbindungen zur Diagnosen für alle als Prävention?
In den einzelnen Ausschüssen für verschiedene Störungsgruppen sind es teilweise sogar mehr: Zum Beispiel waren alle Experten für Schlafstörungen und 83% der Experten für psychotische Störungen mit Pharmaunternehmen verbandelt. Die Kritik und Sorge der Psychiater ist also berechtigt, bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass der heutige diagnostische Leitfaden völlig wertlos ist, es generell keine psychischen Krankheiten gibt – oder die Gesellschaft »irre gemacht« wird, wie etwa
Das
Beim Blick ins DSM-5 wird deutlich:
Diese Veränderungen zeigen vor allem eines: Verlässliche Diagnosen für psychische Krankheiten zu entwickeln und dabei der Komplexität der menschlichen Psyche gerecht zu werden, ist eine große Herausforderung. Die können wir nicht von heute auf morgen lösen, sondern müssen gemeinsam mit Therapeuten, Wissenschaftlern und Patienten weiter daran arbeiten. Und dabei hilft ein Standardwerk wie das DSM, das als gemeinsame Grundlage dient.
Manche Psychologen und Psychiater argumentieren, dass breitere Diagnosen und die Angabe von Schweregraden helfen können, Menschen vor Schlimmerem zu bewahren und eine frühzeitige Behandlung anzustoßen: Etwa, wenn jemand von langer Trauer in eine Depression zu rutschen droht. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Prävention und Behandlung.
Um einen Umgang damit zu finden, müssen wir uns fragen: Worum geht es eigentlich?
Auch ich versuche schon lang, eine Antwort darauf zu finden, ob zu viele Menschen als »psychisch krank« diagnostiziert werden. Ich frage mich: Ist unsere Gesellschaft so versessen auf Normalität, auf Funktionieren und Erfolg, dass jede Abweichung kategorisiert und ärztlich legitimiert werden muss? Menschen sind nicht entweder »angstgestört« oder »angstfrei«.
Und impliziert eine Diagnose nicht auch, dass es eine schnelle Lösung gibt, eine eindeutige Therapie oder ein Medikament? Führt die Erwartung eines »quick fix« dazu, dass wir negativen Gefühlen, Unsicherheit und
Böse gefragt: Dürfen wir nur traurig, grantig und leistungsschwach sein, wenn wir auch einen »Seelenklempner« haben?
Eine Antwort auf diese Fragen habe ich bisher nicht gefunden. Nur eines ist klar: Diagnosen sollen Menschen helfen. Und viele Ärzte und Psychologen wissen das genau und beziehen bei ihrer Diagnose mehr als nur ein Standardwerk mit ein:
Das alles zeigt: Diagnosen sind keine in Stein gemeißelten, absoluten Wahrheiten. Im Gegenteil – sie werden durch Forschung und die Erfahrungen von Ärztinnen und Psychologen permanent angepasst.
Dass immer mehr Menschen als psychisch krank gelten, kann aber auch anders interpretiert werden:
Dabei bedeutet eine Diagnose für viele Patienten eine große Erleichterung. Durch sie wird aus Sorge eine Gewissheit und es kann ein Fahrplan erarbeitet werden, wie es weitergeht. Betroffene bekommen Worte an die Hand, um über ihren Zustand zu sprechen. Sie können sich weniger alleine fühlen – denn ein Befund bedeutet zugleich: Es gibt andere Menschen, die ähnliche Beschwerden haben. Im Idealfall folgen auf eine Diagnose auch nicht automatisch Psychopharmaka. Psychotherapie ist oft genauso wirksam und
Vielleicht würden sich weniger Menschen an Diagnosen stören, wenn der Arzt bei psychischen Beschwerden, Überlastung und Stress standardmäßig keine Medikamente verschreibt und wir gleichzeitig Heilung und Gesundheit eher als einen ganzheitlichen Prozess sehen. Den (potenzielle) Patienten und Behandler dann zusammen gestalten. Der Wissens- und Erfahrungsschatz von Forschern und Behandlern verrät schon, was dazugehören kann:
Titelbild: unsplash - CC0 1.0
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