Und, wie viele psychische Krankheiten hast du so?
Immer mehr Menschen kriegen eine Diagnose vom Psychologen. Sind wir wirklich alle »irre« geworden?
Manchmal keinen Appetit, dauernd müde und immer wieder gereizt. Ist das jetzt einfach ein schlechter Monat, der stressige neue Job, irgendein Vitamin-Mangel – oder ist das schon ein Hinweis auf etwas Ernstes?
Vielleicht kennst du solche Sorgen von dir selbst. Denn genau, wie wir bei Kopfschmerzen oder Husten nach Ursachen und Zusammenhängen suchen, versuchen wir auch zu begreifen, was hinter Veränderungen in unserer Gefühlswelt steckt. Wer dafür lange genug im Internet recherchiert, stößt auf die unterschiedlichsten Diagnosekriterien für psychische Erkrankungen – und findet manche Sorgen bestätigt. So scheint es fast, als sei mittlerweile jeder auf irgendeine Art psychisch krank.
Kann das sein? Und wenn ja: Was ist dann überhaupt noch »normal«?
Depression statt Trauer?
Tatsächlich werden seit einigen Jahren bei immer mehr Menschen
Ein gutes Beispiel sind die veränderten Kriterien für eine depressive Episode, die einen gravierenden Unterschied machen:
- Früher: Eine Person, die bis zu 2 Monate vor Beginn der Symptome eine nahestehende Person verloren hat, galt als trauernd.
- Heute: Ein zeitnaher Trauerfall gilt im DSM-5 nicht mehr als Ausschlusskriterium für Depression.
Dabei leuchtet es den meisten Menschen intuitiv ein, dass das »Trauerjahr« eine völlig gesunde Reaktion ist. Hinzu kommen neue, eher fremd klingende Diagnosen – von der
Das kann von außen den Eindruck erwecken, dass immer mehr Verhaltensweisen, Gefühle und Gedanken als »krank« gelten.
Drücken wir also normalen Gefühlszuständen und Lebensphasen vorschnell den Stempel »krank« auf?
Einer der prominentesten Kritiker der Veränderung der Diagnosesysteme ist der US-amerikanische Psychiater Allen Frances, der selbst an früheren Weiterentwicklungen des DSM beteiligt war. Er hat seine Sorge in seinem Buch
Andere Psychiater haben eine
Sie alle befürchten, dass Diagnosen künstlich
Ihr Credo: Jede Falschdiagnose führe dazu, dass Ressourcen des Gesundheitssystems an
Aber warum sollte daran jemand ein Interesse haben?
Wir wollen doch nur helfen! Psychiater zwischen Hilfe und Pharmaindustrie
Ein möglicher Verdächtiger ist laut den Kritikern die Pharmaindustrie, die mit Psychopharmaka ein Milliardengeschäft macht. Schließlich verdiene die an mehr Kranken, die mehr Medikamente benötigen. Tatsächlich haben mindestens 20 der 29 Task-Force-Mitglieder des DSM-5 Verbindungen zur Diagnosen für alle als Prävention?
In den einzelnen Ausschüssen für verschiedene Störungsgruppen sind es teilweise sogar mehr: Zum Beispiel waren alle Experten für Schlafstörungen und 83% der Experten für psychotische Störungen mit Pharmaunternehmen verbandelt. Die Kritik und Sorge der Psychiater ist also berechtigt, bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass der heutige diagnostische Leitfaden völlig wertlos ist, es generell keine psychischen Krankheiten gibt – oder die Gesellschaft »irre gemacht« wird, wie etwa
Das
Beim Blick ins DSM-5 wird deutlich:
- Alles relativ? Manche Diagnosekriterien wurden gelockert (depressive Episode) – andere dagegen verschärft
- Hilfe zur Differenzierung: Im Anhang findet jeder Behandler eine ausführliche »Kommentierung und Anleitungen zur sachgerechten Nutzung«: Zum Beispiel sollen hier Anmerkungen bei der Unterscheidung zwischen einer depressiven Störung und einem gesunden Trauerprozess helfen.
- Weniger Diagnosen: Die Gesamtzahl spezifischer Diagnosen wurde von 172 (DSM-IV) auf 157 (DSM-5) reduziert. Dabei wurden Diagnosen auch zusammengelegt oder neu zugeordnet: Zum Beispiel wird nicht mehr zwischen »Abhängigkeit« und »Missbrauch« von Substanzen unterschieden, stattdessen gehört beides zu »Substanzgebrauchsstörungen« und ein Schweregrad wird angegeben.
- Keine Willkür: Neue Diagnosen entstehen nicht aus dem Nichts – so gehörte die Binge-Essstörung schon beim DSM-IV zum Katalog der Forschungskriterien.
Diese Veränderungen zeigen vor allem eines: Verlässliche Diagnosen für psychische Krankheiten zu entwickeln und dabei der Komplexität der menschlichen Psyche gerecht zu werden, ist eine große Herausforderung. Die können wir nicht von heute auf morgen lösen, sondern müssen gemeinsam mit Therapeuten, Wissenschaftlern und Patienten weiter daran arbeiten. Und dabei hilft ein Standardwerk wie das DSM, das als gemeinsame Grundlage dient.
Manche Psychologen und Psychiater argumentieren, dass breitere Diagnosen und die Angabe von Schweregraden helfen können, Menschen vor Schlimmerem zu bewahren und eine frühzeitige Behandlung anzustoßen: Etwa, wenn jemand von langer Trauer in eine Depression zu rutschen droht. Hier verschwimmt die Grenze zwischen Prävention und Behandlung.
Um einen Umgang damit zu finden, müssen wir uns fragen: Worum geht es eigentlich?
Alles ganz normal
Auch ich versuche schon lang, eine Antwort darauf zu finden, ob zu viele Menschen als »psychisch krank« diagnostiziert werden. Ich frage mich: Ist unsere Gesellschaft so versessen auf Normalität, auf Funktionieren und Erfolg, dass jede Abweichung kategorisiert und ärztlich legitimiert werden muss? Menschen sind nicht entweder »angstgestört« oder »angstfrei«.
Und impliziert eine Diagnose nicht auch, dass es eine schnelle Lösung gibt, eine eindeutige Therapie oder ein Medikament? Führt die Erwartung eines »quick fix« dazu, dass wir negativen Gefühlen, Unsicherheit und
Böse gefragt: Dürfen wir nur traurig, grantig und leistungsschwach sein, wenn wir auch einen »Seelenklempner« haben?
Eine Antwort auf diese Fragen habe ich bisher nicht gefunden. Nur eines ist klar: Diagnosen sollen Menschen helfen. Und viele Ärzte und Psychologen wissen das genau und beziehen bei ihrer Diagnose mehr als nur ein Standardwerk mit ein:
- Du bist nicht entweder »irre« oder nicht! Menschen sind nicht entweder »angstgestört« oder »angstfrei«. Es gibt zahlreiche Abstufungen dazwischen. Das Ziel von Ärzten ist es deshalb nicht, unangenehme Gefühle wegzutherapieren, sondern Menschen aufzufangen, die ohne Unterstützung
- Nur wer leidet, ist auch krank! Erst wenn mich zum Beispiel meine Angst vor Kontakt mit fremden Menschen einschränkt und meine Lebensqualität beeinträchtigt, bekommt sie Krankheitswert. Das ist in den meisten Diagnosen ein fest verankertes Kriterium. Psychologen sprechen hier vom
- Wie messe ich eine psychische Störung? Gar nicht. So wie Ärzte auch nicht die Grippe an sich, sondern das Fieber messen und andere Symptome »abhaken«, müssen wir uns übergeordneten Störungen mit einzelnen Symptomkombinationen annähern.
Das alles zeigt: Diagnosen sind keine in Stein gemeißelten, absoluten Wahrheiten. Im Gegenteil – sie werden durch Forschung und die Erfahrungen von Ärztinnen und Psychologen permanent angepasst.
Diagnose – und dann?!
Dass immer mehr Menschen als psychisch krank gelten, kann aber auch anders interpretiert werden:
Dabei bedeutet eine Diagnose für viele Patienten eine große Erleichterung. Durch sie wird aus Sorge eine Gewissheit und es kann ein Fahrplan erarbeitet werden, wie es weitergeht. Betroffene bekommen Worte an die Hand, um über ihren Zustand zu sprechen. Sie können sich weniger alleine fühlen – denn ein Befund bedeutet zugleich: Es gibt andere Menschen, die ähnliche Beschwerden haben. Im Idealfall folgen auf eine Diagnose auch nicht automatisch Psychopharmaka. Psychotherapie ist oft genauso wirksam und
Vielleicht würden sich weniger Menschen an Diagnosen stören, wenn der Arzt bei psychischen Beschwerden, Überlastung und Stress standardmäßig keine Medikamente verschreibt und wir gleichzeitig Heilung und Gesundheit eher als einen ganzheitlichen Prozess sehen. Den (potenzielle) Patienten und Behandler dann zusammen gestalten. Der Wissens- und Erfahrungsschatz von Forschern und Behandlern verrät schon, was dazugehören kann:
- Bewegung: Viele Studien legen nahe, dass Sport nicht nur für den Körper gesund ist – Aktivität hat auch einen positiven Einfluss auf die mentale Gesundheit. Warum sollten Ärzte also nicht einfach Bewegung verschreiben?
Mehr dazu? - Naturerfahrung: In Japan ist Waldbaden als »grünes Wundermittel« schon selbstverständlich. Dort gehört Zeit im Grünen zur Gesundheitsvorsorge.
Mehr dazu? - Den Placebo-Effekt nutzen: Bei Placebos wirkt ein Zusammenspiel aus Zeit, Aufmerksamkeit und Vertrauen. Das Wissen über diese Faktoren können Ärzte systematisch nutzen. Grundvoraussetzung dafür ist natürlich, dass diese mehr Zeit für den einzelnen Patienten haben – und lernen, erfolgreiche Patientengespräche zu führen.
Mehr dazu? - Gesundheitskompetenz: Ärzte (und Patienten) können lernen, besser miteinander zu kommunizieren. In ihrer Überforderung verschreiben einige Hausärzte vorschnell Psychopharmaka – oder klären Patienten ungenügend auf. Dabei ist
Mehr dazu? - Dankbarkeit: Studien konnten zeigen, dass »praktizierte Dankbarkeit« einen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit hat. Wem wir dankbar sind, ist dabei eher zweitrangig:
Mehr dazu? - Körperliche Nähe: Wir sind soziale Wesen – Berührung ist mehr als ein nettes Beziehungsextra, sie ist ähnlich essenziell wie Nahrung und Bewegung.
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Titelbild: unsplash - CC0 1.0