Gehst du sinnvoll mit deiner Unsicherheit um?
Wahrscheinlich nicht – denn dein Gehirn macht es dir nicht leicht.
Vor 9 Jahren stehe ich am Fenster meines Hotelzimmers und blicke auf die Straße hinunter. Mein Magen knurrt. Die letzte Mahlzeit ist 12 Stunden her. Eine kümmerliche Hähnchenbrust und schrumpelige Bohnen in einem Aluschälchen, das mir die Stewardess auf dem Nachtflug von Berlin nach Damaskus vorsetzte.
Ich bin das erste Mal in Syrien, einem mir komplett fremden Land. Auf der Straße sehe ich Passanten mit eingerollten Teigtaschen in der Hand. Wo haben die das her? Aus einem kleinen Laden dampft es verheißungsvoll. Doch ich traue mich nicht gleich runter auf die Straße, unter die Menschen. In mir macht sich ein Gefühl breit, das ich noch häufiger auf meinen Reisen spüren werde: Verunsicherung.
Das kennen viele: Plötzlich wird einem der Teppich unter den Füßen weggezogen. Wenn nichts mehr selbstverständlich ist, wenn wir Situationen nicht vorhersehen können, sind wir unsicher.
Auch auf digitalem Wege drängt Verunsicherung in unser Leben: Immer mehr Informationen finden ihren Weg auf unsere Smartphones und Computer.
In Ratgebern für Manager wird die sogenannte Unsicherheitstoleranz,
Ich weiß nicht, dass ich nichts weiß
Der Blick huscht hin und her, die Stirn liegt in Falten – was soll das sein? Dann die Erleuchtung: Ah, eine Ente! Das ist eindeutig eine Ente … Warte. Nein, da ist auch ein Hase.
Als Schulkind hast du vielleicht schon einmal diese Zeichnung gesehen:
Unser Gehirn ist darauf trainiert, Mehrdeutigkeit, die sogenannte Ambiguität, aufzulösen – wie das Beispiel »Ente oder Hase?« zeigt. Können wir nicht sofort eine eindeutige Entscheidung treffen, sind wir nicht nur unsicher, sondern können gestresst, ängstlich oder sogar aggressiv reagieren.
Das zeigte ein Team von
Entscheidungen werden irrationaler und unberechenbarer.
Die Wissenschaftler beobachteten: Je weniger Informationen die Probanden hatten, desto irrationaler und unberechenbarer wurden ihre Entscheidungen. Mit einer unsicheren Situation konfrontiert, beobachteten sie bei den Testpersonen, dass sich die Kontrolle im Gehirn auf das limbische System verlagerte. Das ist der Ort, an dem Emotionen wie Angst erzeugt werden.
Ein weiteres Forscherteam fand ein paar Jahre später heraus:
Ich weiß, dass ich nichts weiß
Um es vorwegzunehmen: Jeder Mensch geht anders mit Verunsicherung um. Wir starten an verschiedenen Punkten, je nach Sozialisation, persönlichen Erfahrungen und dem eigenen Umfeld. Die eigene Ambiguitäts(in)toleranz ist also nichts, was man von einem auf den anderen Tag ändern könnte.
Die Herausforderung liegt darin, Nichtwissen auszuhalten und so in unsicheren Situationen
- Fragen statt Antworten:
- Unterschiedliche Situationen berücksichtigen:
Wir sind darauf programmiert, Mehrdeutigkeit loszuwerden. Wenn wir uns damit beschäftigen, können wir bessere Entscheidungen treffen, wir können kreativer und sogar ein wenig einfühlsamer werden.
Doch nicht nur auf individueller Ebene kann die Toleranz gegenüber Unsicherheit Vorteile bringen.
Deine Verunsicherung hilft auch anderen
Nach mehreren Aufenthalten im Ausland fiel mir das
Ich muss zugeben, auf die Straße habe ich mich an diesem Morgen in Syrien nicht sofort getraut, auch wenn der Hunger groß war.
Aber Wiedemanns Aussage kann ich heute bestätigen, wenn ich auf meine Auslandserfahrungen der letzten 9 Jahre zurückblicke. Wenn mehr Menschen sich einmal in ihrem Leben woanders nicht zugehörig gefühlt und dafür keine eindeutige Lösung gefunden hätten, würde ihnen auch der Perspektivenwechsel in aktuellen gesellschaftlichen Debatten leichter fallen. Da das nicht der Fall ist, hilft es trotzdem, dem anderen erst einmal zuzuhören, bevor man ihn in eine Schublade steckt.
Titelbild: Tobias Kaiser - copyright