Der Architekt Eyal Weizman steht auf der Terrasse eines Hauses im Westjordanland. Die israelischen Siedlungen sind auf Hügeln über den palästinensischen Gebieten gebaut, von dort lässt sich das überblicken, was Weizman
Alles, was in diesem Panorama zu sehen ist, Bäume, Hügel, die gigantische Sperranlage, die mal Mauer, mal Zaun ist, sei ein taktisches Werkzeug und Teil dieser Architektur, erklärt Weizman dem Filmteam. Architektur sei hier langsame Gewalt – im Westjordanland schaffe sie eine Umgebung, die für Menschen nicht lebenswert sei.
Der gebürtige Israeli lebt heute in London. Im Jahr 2010 gründete er dort am Goldsmiths College der Universität London das Rechercheinstitut Forensic Architecture.
Der Gedanke dahinter: Wenn Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Kontext von Architektur stattfinden, dann können Architekten auch etwas zu ihrer Aufklärung beitragen.
Aber was, wenn der Staat selbst in Verbrechen verwickelt ist? Hier setzen Weizman und sein Team aus Architekten, Künstlern, Softwareentwicklern und Forschern verschiedenster Disziplinen an. Sie drehen den Spieß um – und richten den forensischen Blick auf den Staat.
Im Auftrag von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder auf eigene Initiative sammeln sie Beweismittel in Form von öffentlich zugänglichen Daten, vor allem Bildern und Videos, um damit Tatorte und -hergänge minutiös zu rekonstruieren. Ihre Ergebnisse – Videos und interaktive Grafiken – wurden in der Vergangenheit in Untersuchungsausschüssen und Gerichtsverfahren gezeigt.
Man findet sie aber auch an eher unerwarteten Orten: Auf der documenta 14 sorgte eine Videoinstallation für Furore, die sich nicht mit Menschenrechtsverletzungen in Syrien, Pakistan oder auf offener See beschäftigte, sondern einen Fall mitten in Kassel untersuchte – den Mord an Halit Yozgat durch die Terroristen des NSU. Genauer gesagt: die Rolle des ehemaligen Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz in Hessen, Andreas Temme.
Robert Trafford hat als investigativer Journalist gearbeitet, bevor er im Jahr 2017 Teil des Teams von Forensic Architecture wurde. Die sogenannte Open-Source-Recherche ist seine Spezialität – so trieb er in den Tiefen des Internets Facebook-Bilder auf, die bewiesen, dass Mitarbeiter des US-Militärs in Internierungs- und Folterlagern der kamerunischen Armee vor Ort waren.
Über die Untersuchungen im NSU-Fall hat er ein langes Stück für Auch das ist eine seiner Aufgaben im Team – er soll die zunächst wie unter dem Mikroskop betrachteten Fälle in ihre größeren Zusammenhänge einordnen.
Ich habe Robert in London angerufen und mit ihm darüber gesprochen, warum es in manchen Fällen auch in Deutschland nicht ausreicht, wenn nur die Polizei ermittelt.
Robert, du bist Journalist. Die Ermittlungen von Forensic Architecture in Fällen von Menschenrechtsverletzungen werden in Kunstgalerien ausgestellt, die Arbeit zum NSU-Komplex wurde im Jahr 2017 auf der gezeigt. Was genau ist Forensic Architecture denn nun: Kunst, Journalismus oder Aktivismus?
Robert Trafford:
Ich weiß nicht, warum es entweder das eine oder das andere sein muss. Manchmal ist diese Frage ein Problem für uns, manchmal ist sie aber auch produktiv. Das gilt ganz besonders für den NSU-Fall: Als wir unsere Untersuchungsergebnisse auf der documenta ausgestellt haben, gab es die folgende Schlagzeile:
Nachdem unser Film in Kassel gezeigt wurde, wurden wir eingeladen, ihn auch beim NSU-Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag vorzustellen. Der CDU-Obmann im Untersuchungsausschuss Wir hängen also zwischen verschiedenen Kategorien, und manchmal öffnet uns das Türen, manchmal schließen sich deshalb auch Türen. Aber es ist auf jeden Fall zentral für unsere Arbeit, dass wir nicht nur Architekten, Künstler oder Journalisten sind. Wir sind all das und zwischen all dem.
Beweismittel für Verbrechen zu sammeln ist doch eigentlich die Aufgabe der Polizei. Warum sollte eine Gruppe von Architekten, Künstlern und Softwareentwicklern das besser machen?
Robert Trafford:
Wir können den Job gar nicht besser machen als die Polizei. Wir haben keinen privilegierten Zugang zum Tatort eines Verbrechens wie die Polizei. Wir haben nicht die im Grunde genommen unbeschränkten Ressourcen des Staates bei der Ermittlung und Verfolgung von Verbrechen. Wir können nicht die Regeln für die Beweisführung festlegen, auf deren Grundlage Gerichte über »schuldig« oder »nicht schuldig« entscheiden.
Gesellschaften investieren in den Staat, in die Ressourcen, die ihm privilegierten Zugang ermöglichen, um Forensik im Dienst der Bevölkerung zu betreiben. Aber was der NSU-Fall und die Geschichte von Halit Yozgat und Andreas Temme zeigen, ist etwas, das wir schon immer wussten: Staaten ermitteln nicht immer im Interesse ihrer Bürger. Manchmal ermitteln sie im Interesse des Staates. Was wir im Fall von sehen, ist ein staatliches Ermittlungsverfahren, in dem der Staat versucht, sich selbst zu schützen.
»Wir sagen nicht, dass wir bessere Arbeit machen als die Polizei. Wir sagen, dass jemand anderes als die Polizei diese Arbeit machen muss.«
Hier kommt ihr ins Spiel. Ihr nennt eure Arbeit »Counter Forensics« (deutsch »Gegen-Forensik«) – was genau soll das sein?
Robert Trafford:
Wenn forensische Ermittlungen des Staates zum Staat zurückführen, kann man nicht erwarten, dass dieser gründlich oder fair gegen sich selbst oder seine Bediensteten ermittelt. Dann brauchen wir Gegen-Forensik. Wir sagen nicht, dass wir bessere Arbeit machen als die Polizei. Wir sagen, dass jemand anderes als die Polizei diese Arbeit machen muss. Die Zivilgesellschaft hat schon immer dringend investigative Kapazitäten gebraucht. Was wir machen, hat viel mit der Arbeit von investigativen Journalisten zu tun: Genau wie diese soll unsere Arbeit dafür sorgen, dass der Staat wahrheitsgemäß operiert.
Wie wählt ihr die Fälle aus, in denen ihr ermittelt?
Robert Trafford:
Es muss etwas geben, das wir zur Aufklärung beitragen können, das andere nicht leisten. Das hat natürlich auch etwas mit unseren Ressourcen zu tun. Es gibt Organisationen, die dieselbe Arbeit machen, aber viel mehr Zeit und Geld investieren können. Die New York Times hat zum Beispiel eine mit der wir eng zusammenarbeiten. Die können schneller arbeiten als wir.
Ein Kriterium ist natürlich, dass der Fall eine räumliche oder architektonische Dimension haben muss.
Und dann hat die Auswahl der Fälle auch damit zu tun, wie wir uns finanzieren, – also in einem akademischen Kontext und nicht getrieben von kommerziellen Anreizen, Unser Mandat ist es, ständig neue Wege der Beweisermittlung und -enthüllung zu entwickeln.
»Der NSU-Fall ist ein perfektes Beispiel für das, was ›Forensic Architecture‹ leisten kann«
Wie seid ihr auf den NSU-Fall aufmerksam geworden?
Robert Trafford:
Das lief über eine persönliche Verbindung, die uns mit Mitgliedern der Aktivistengruppen und in Kontakt brachte. Ich glaube, es war sogar die documenta selbst, die uns die Perspektive eröffnete, mit diesem Fall zu arbeiten.
Wir hörten also von dieser Geschichte, die etwas über die Menschenrechte einer Bevölkerungsgruppe in Deutschland aussagte und sich zu einer ganz bestimmten Zeit in einem ganz bestimmten Raum entfaltete. Und nicht nur das: Sie entfaltete sich in einem Zeitraum, in dem die Bewegungen der Akteure aufgezeichnet und zeitlich erfasst wurden, weil sie Computer benutzten. Außerdem war der Staat selbst involviert. Es gab Fragen über die Beteiligung eines Staatsbeamten an einer Menschenrechtsverletzung, einem Mord. Das Team von Forensic Architecture musste nicht lange darüber nachdenken, ob es diesen Fall annehmen wollte: In vielerlei Hinsicht ist es ein perfektes Beispiel für das, was wir leisten können.
In diesem Fall habt ihr zu einem ganz bestimmten Ereignis ermittelt, das in einem der längsten und größten Gerichtsverfahren der deutschen Geschichte eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat: Es ging darum, ob der ehemalige Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz Andreas Temme den Mord an Halit Yozgat in einem Internetcafé in Kassel bemerkt haben muss. Was wolltet ihr mit der Rekonstruktion von Temmes Handlungen am Tatort erreichen?
Robert Trafford:
Unsere Ermittlungen im NSU-Fall erforderten, dass wir uns durch viele verschiedene Foren bewegten. Wir hatten Kontakt mit der Politik, indem wir uns an den Untersuchungsausschüssen beteiligten. Mit der Justiz waren wir beim NSU-Prozess in München in Kontakt. Mit der Zivilgesellschaft haben wir in Form von anti-rassistischen und anti-faschistischen Aktivistengruppen zusammengearbeitet. Durch das Forum der Kultur bewegten wir uns mit unseren Ausstellungen: Unsere Arbeit zum NSU-Komplex haben wir an verschiedenen Orten in Deutschland und ganz Europa gezeigt.
Was wollten wir mit alldem erreichen? Es war von Anfang an klar, dass der NSU-Prozess nicht die Gerechtigkeit, Antworten oder Erklärungen liefern würde, die sich die Familien der Opfer erhofften – und die sie auch verdienten.
Es gab Entscheidungen der Richter und Staatsanwälte, die den Prozess begrenzten und auf Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt fokussierten. Dadurch wurde vermieden, sich einigen größeren Fragen zu stellen:
Warum wurde Andreas Temme festgenommen und wieder freigelassen, ohne dass sein Haus durchsucht wurde? Warum wurde ihr Schutz als eine Frage der nationalen Sicherheit betrachtet, die über den Interessen der Bürger stand, die Familienmitglieder durch die Verbrechen einer rassistischen Terrorzelle verloren hatten?
Das alles waren Fragen, die im Prozess nicht behandelt wurden. Einige von ihnen wurden nicht nur bei der juristischen Aufarbeitung außen vor gelassen, sondern auch von der Politik vernachlässigt. Von außen scheint es mir auch,
Euer Ziel war es also, diese Fragen öffentlich zu verhandeln?
Robert Trafford:
Wir haben uns sehr gefreut, dass wir ein Teil des NSU-Tribunals waren, Das war genau die Art von Veranstaltung, die für das Verständnis des NSU-Komplexes nötig war – und immer noch nötig ist. Das NSU-Tribunal war ein perfektes Beispiel dafür, wie die Zivilgesellschaft in Aufarbeitungsprozessen eine Führungsrolle übernimmt, weil der Staat auf vielerlei Art und Weise mit dem Problem verflochten ist.
Aber sollte es nicht gerade dann der Staat sein, der für Aufklärung sorgt?
Robert Trafford:
Ein solches Tribunal hätte es von staatlicher Seite gar nicht geben können. Es gab zwar Untersuchungsausschüsse, dort wurden einige wichtige Fragen aber gar nicht gestellt. In solchen Kontexten kommt die Arbeit von Forensic Architecture besonders gut zur Geltung. Wenn – wie in diesem Fall – diejenigen einen Prozess der Wahrheitsfindung anführen, und wissen, wie sich eine rassistische Kultur anfühlt, dann können wir diesem Prozess eine Ebene investigativer und forensischer Präzision hinzufügen. Genau das wollten wir tun. Wir wollten nicht herausfinden, wer Halit Yozgat getötet hat. Wir beschäftigten uns ausschließlich mit der Frage: Ergibt die Aussage von Andreas Temme Sinn? Und wenn die Antwort darauf »Nein« lautet – warum sind wir die Einzigen, die darauf hinweisen?
»Das Beste, was wir tun können: auf Fakten hinweisen und auf irgendeine Art von Reaktion hoffen«
Welche eurer Ermittlungen hat am meisten bewegt?
Robert Trafford:
Das ist schwer zu beantworten. Die Regeln der Beweisführung werden schließlich von unseren Kontrahenten gesetzt.
Im Fall von 2 getöteten palästinensischen Teenagern im Jahr 2014 Er wurde zu 9 Monaten Haft verurteilt. Sehen wir das als Erfolg? wäre es vielleicht nicht bekannt geworden, dass dieser bestimmte Polizeibeamte diesen einen Jungen erschossen hat. Aber in einigen Monaten wird er wieder frei sein.
In einem anderen Fall konnten wir beweisen, dass US-amerikanische Spezialeinheiten in einem Camp in Kamerun anwesend waren, wo Folter und außergerichtliche Hinrichtungen stattfanden. Was uns aber auch klar wurde: Das amerikanische Außenministerium wusste schon seit Jahren, was in diesem Camp vor sich geht, und hatte Berichte dazu veröffentlicht.
Diese Fakten hängen in der Luft, es ist aber das Privileg des Staates, sie in dieser Konstellation zu belassen, obwohl es klar ist, dass sie im Konflikt zueinander stehen. Das Beste, was wir tun können, ist, darauf aufmerksam zu machen und auf irgendeine Art von Reaktion zu hoffen. In diesem Fall hat die US-Armee wenigstens zeitweise die Militärhilfe für Kamerun suspendiert. Von Kontakten vor Ort haben wir außerdem gehört, dass einige Menschen aus dem Camp in das reguläre Justizsystem des Landes überstellt wurden. Das betrachten wir schon als einen fantastischen Erfolg, wenigstens unterliegen sie nun einer Art von Rechtsstaatlichkeit.
Ihr verfolgt die Fälle also auch weiter, nachdem eure Ermittlungen abgeschlossen und veröffentlicht worden sind?
Robert Trafford:
Klar, wir bleiben in Kontakt mit unseren Kooperationspartnern. Das ist auch Teil meiner Rolle bei Forensic Architecture: Ich behalte im Auge, was rund um die Fälle weiter passiert.
Forensic Architecture baut insbesondere auf das Wissen von Architekten bei der Ermittlungsarbeit zu Menschenrechtsverletzungen. Welche anderen Berufe könnten noch zur »Counter-Forensik« beitragen?
Robert Trafford:
Im Moment interessieren wir uns dafür, was künstliche Intelligenz zur Analyse von Bildern und Videos beitragen könnte. In diese Richtung experimentieren wir schon. Wir interessieren uns darüber hinaus für Virtual Reality und arbeiten nicht nur mit Softwareentwicklern, sondern auch mit Spieledesignern. Und uns interessiert, inwieweit unsere Interviewtechniken sich auf Menschen mit Trauma-Erfahrungen auswirken und Wir sind gespannt, wo uns das hinführt.
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.