Fast alles, was wir über Abhängigkeit zu wissen glauben, ist falsch!
»Wer Drogen nimmt, macht sein Leben kaputt.« Doch längst nicht jeder Konsument wird zum Junkie. Wann machen Drogen wirklich abhängig?
Millionen Menschen weltweit sind betroffen, darunter auch zahlreiche Kinder und junge Erwachsene. Von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Das Abhängigkeitspotenzial ist besorgniserregend und die möglichen Schäden weitestgehend bekannt. Schätzungen zufolge kommt es bei einer von 350 Anwendungen zu schwerwiegenden medizinischen Folgen. Diese sind unvorhersehbar, treten aber häufiger bei erfahrenen Nutzern auf, da sie risikofreudiger sind. Die Liste der möglichen langfristigen Folgen ist lang: Permanente neurologische Schäden, zum Beispiel schwerwiegende Persönlichkeits-Veränderungen wie Impulsivität, Angstzustände, die Unfähigkeit, sich zu freuen und Entscheidungs-Schwierigkeiten. Die Betroffenen versammeln sich meist an Wochenenden.
Die Rede ist von Equasy. Wissenschaftlich wurde es zum ersten Mal 2009 vom Neurowissenschaftler und Psychiater
»Equine« ist der englische Fachbegriff für alles, was etwas mit Pferden zu tun hat und »Equasy« beschreibt das sogenannte »Equine Addiction Syndrome«, also das
2 Tage nachdem er seine Studie veröffentlicht hat, ruft ihn die
»Sie können die Schäden einer legalen Sache nicht mit denen einer illegalen vergleichen.«
»Warum nicht?«
»Weil eine illegal ist.«
»Warum ist sie illegal?«
»Weil sie schädlich ist.«
»Müssen wir nicht die Schäden vergleichen, um zu entscheiden, ob etwas illegal sein sollte?«
»Sie können die Schäden einer legalen Sache nicht mit denen einer illegalen vergleichen.«
Danach ist er seinen Job als Regierungsberater los und gründet 2010 DrugScience (auf Deutsch:
Das Equasy-Beispiel zeigt die Unterschiede zum Drogenkonsum in Bezug auf mögliche Risiken sowie die soziale und moralische Akzeptanz.
Die Geschichte – sowohl diese als auch die Vergangenheit generell – zeigt uns: Was legal und illegal ist, ist nicht immer gleichbedeutend mit Gut und Schlecht. Unser Bild von Drogenabhängigkeit ist geprägt von Bildern und Berichten von Menschen,
Mit diesem Text möchte ich euch herausfordern. Herausfordern, um die
Fangen wir simpel an: Was ist eigentlich eine Droge?
Generell gibt es 2 Gründe, warum Menschen
»Was ist eine Droge? Noch nicht mal die Vereinten Nationen haben eine Definition. Wer kann also sagen, was eine Droge ist?«
Seit einigen Jahren ist außerdem klar: Auch bestimmtes Verhalten kann Droge sein – und abhängig machen:
Damit fällt der nächste zu klärende Begriff:
2010 wurde die
Auch die Erkenntnis, dass bestimmte Verhaltensweisen abhängig machen können, ist nun im Regelwerk zu finden: Unter dem Schlagwort
Sind 2 innerhalb von 12 Monaten erfüllt, lautet die Diagnose: moderate Substanzgebrauchsstörung, bei 4 oder mehr: schwere Substanzgebrauchsstörung. Jeder, der aufgrund des »begehrten« Verhaltens oder der Substanz
Ich mag den Begriff Abhängigkeit und habe mich für seine Rückkehr eingesetzt. Vor ca. 20 Jahren war er quasi aus dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch verschwunden, weil er angeblich Menschen stigmatisierte. Abhängigkeit galt nicht als Krankheit. Ähnlich wie Krebs signalisiert er uns, dass ein ernsthaftes Problem vorliegt. Menschen, die abhängig sind, bezeichnen sich selbst auch als Abhängige.
David Nutt liefert mir eine lehrbuchreife Definition: »Abhängigkeit ist im Grunde genommen ein Verhaltenszustand, bedingt durch Vorgänge im Gehirn, der Menschen nötigt, etwas zu tun, was sie für gewöhnlich nicht tun wollen. Das können natürlich Drogen sein, aber auch Dinge wie Glücksspiel und Internetnutzung.« Der Neurowissenschaftler verweist auf den »komplexen Mix aus Verhaltens- und Motivationsproblemen« und wiederholt,
Peter Cohen hat eine besondere Beziehung zum Begriff »Abhängigkeit«. Der pensionierte Soziologe hat jahrelang Regierungen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu Drogenfragen beraten. Noch immer reist er um die Welt, um Vorträge zu halten und wird gern als
»Ich denke, Abhängigkeit hat in gewisser Weise mehr mit Liebe und Verbindung zu tun als mit Belohnung.«
Stattdessen spricht er von »Bindungen«, dem
Nächste Frage: Warum werden Menschen abhängig?
Viele Menschen sagen: ›Abhängige haben einfach einen schwachen Willen und geben sich ihrem Verlangen hin. – Ich würde niemals abhängig werden!‹ Dann frage ich sie: ›Warst du schon mal verliebt?‹ Liebe ist eine Abhängigkeit. Für die Liebe tun Menschen extremere und exzessivere Dinge als für Heroin.
Wir alle (glauben zu) wissen: Heroin macht abhängig. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn sonst würde ein Großteil der damit behandelten Schmerzpatienten als Junkie entlassen werden. Wir alle (glauben zu) wissen, warum Menschen abhängig werden und kennen meist 2 mögliche Erklärungen: Entweder liegt es an der
Abhängig werden Menschen, die moralisch nicht stark genug sind, sich dem Drang zu widersetzen. »Ach, könnten wir nicht
Die Wirklichkeit sieht jedoch ganz anders aus. Auf die Frage, warum Menschen abhängig werden, antwortet David Nutt mit 3 möglichen Einstiegswegen in eine Abhängigkeit:
Menschen, die …
- eine Lücke in ihrem Leben haben. Die Drogen füllen diese Lücke.
- an einer
- besonders impulsiv und explorativ sind und die nach dem ersten Drogenkonsum
Das Heroin-Beispiel zeigt:
»Wenn Drogen die Lösung deiner sozialen Probleme werden, dann nimmst du Drogen.«
Dem stimmt der Journalist
Frage Nummer 3: Warum bleiben Menschen abhängig?
Genau das hat der kanadische Neurowissenschaftler Bruce Alexander vor 35 Jahren untersucht. Bis dahin hatten Studien die oben erwähnte Theorie untermauert: Drogen machen abhängig und wirken im Gehirn so stark, dass wir an nichts anderes mehr denken können. Das geht soweit, dass Ratten
Dem Neurowissenschaftler war aufgefallen: Die »Drogen-Ratten« saßen allein in einem kleinen, langweiligen Käfig. Also entwickelte er eine alternative Versuchsumgebung, in der die Ratten sich einen großen, abwechslungsreichen Käfig teilten: Der »Rat Park« (»Ratten-Park«) war geboren.
In den darauffolgenden Jahren untersuchte der Neurowissenschaftler gemeinsam mit seinen Kollegen
Die Ergebnisse dieser Studien klären einige Falsch-Annahmen auf:
- Heroin ist nicht »unwiderstehlich«: Obwohl Heroin das Potenzial hat,
- Das Umfeld bestimmt den Drogenkonsum: Wenn die Ratten in ihrer »normalen« Umgebung, also mit anderen Ratten und einem abwechslungsreichen Umfeld leben, ist ihr Appetit auf Drogen gering.
- Abhängigkeit ist nicht der stärkste Faktor für Gewohnheiten: Körperliche, mentale und soziale Umstände beeinflussen den Drogenkonsum der Ratten.
Ratten sind natürlich keine Menschen und die Mehrheit von uns erlebt die Welt nicht als Käfig. Ein vergleichbares Beispiel für eine Untersuchung mit Menschen sind die amerikanischen Soldaten, die während des Vietnamkrieges Heroin konsumierten: Viele von ihnen kehrten nach dem Krieg zu Freunden und Familien zurück; der Großteil davon
»Ich bin mir nicht sicher, ob alle Abhängigkeiten gleich sind. – Tatsächlich bin ich mir sicher, dass sie es nicht sind.«
Tatsächlich unterscheidet sich das Abhängigkeitspotenzial einer Droge, also der Anteil von Konsumenten, die abhängig werden,
Die unumgängliche Abhängigkeit ist also eher ein Mythos, der sich in unseren Köpfen eingeschlichen hat. Ob aus Drogenkonsum eine Abhängigkeit wird, hat weniger mit der Droge selbst und mehr mit den
Ein Gehirn auf LSD
Vor einigen Monaten hat David Nutt die Ergebnisse der ersten LSD-Studie veröffentlicht, die die Hirnaktivität während eines »Trips« misst – und damit gemeinsam mit einigen anderen Wissenschaftlern die
Grundsätzlich wird aus Fördertöpfen der Regierung keine Forschung mit psychedelischen Drogen finanziert. Einfach, weil sie illegal sind. Ihrer Meinung nach unterstützt du als Wissenschaftler ansonsten entweder den Konsum dieser Drogen oder untergräbst zumindest die Autorität [der Regierung].
Finanziert wurde die Arbeit über ein erfolgreiches Crowdfunding und die Unterstützung
Werden Menschen also von dieser oft als »bewusstseinserweiternd« beschriebenen Erfahrung abhängig? Ist das dann eine körperliche oder eine psychische Abhängigkeit?
Die Unterscheidung zwischen »psychischer« und »körperlicher« Abhängigkeit erscheint willkürlich, wenn wir davon ausgehen, dass jeder Gedanke neurobiologischen Prozessen in unserem Gehirn entspricht. Dann ist alles Psychische auch körperlich. David Nutt beschreibt das so: »Ich denke, es sind wirklich 2 Enden der gleichen Sache. Glücksspiel ist ein Verhalten und Heroin ist eine Droge. Die Frage ist also, in welchem Ausmaß beide Effekte von den gleichen neuronalen Vorgängen gestützt werden. Und in welchem Ausmaß die resultierenden Verhaltensprobleme und der impulsive Gebrauch [des Verhaltens und der Substanz] die gleichen sind.«
Generell ist von körperlicher Abhängigkeit die Rede, wenn der Körper sich so an eine Substanz (oder ein Verhalten) gewöhnt hat, dass die »normale« Funktionalität aus dem Gleichgewicht gerät, wenn die Substanz (oder das Verhalten) ausgesetzt werden. Es kommt zu den typischen Entzugserscheinungen: Schweißausbrüche bis hin zu Fieber, Halluzinationen, Kopfschmerzen, das intensive Verlangen nach der entsprechenden Droge und Angstzustände. Auch bei dieser Liste ist schnell klar: Eine Trennung von körperlich und psychisch ist nicht möglich.
Es ist noch zu früh, um fundierte Aussagen zu treffen. Aber was wir sehen, ist, dass Glücksspiel und Heroin nicht genau die gleichen Abhängigkeiten sind. Aktuell arbeiten wir daran, die genauen Unterschiede aufzudecken.
Ein weiterer wichtiger Begriff bei den Folgen für unseren Körper ist die Toleranzentwicklung: Unser Körper gewöhnt sich an eine wiederholte oder chronische Einnahme und die Schwelle, bei der ein bestimmter Effekt ausgelöst wird, erhöht sich. Der Körper braucht mehr, um den Ersteffekt zu erreichen, sprich: um »high« zu werden.
Klar ist: All das gilt sowohl für Substanz- als auch für Verhaltens-Abhängigkeiten. Egal ob Heroin oder Glücksspiel, Patienten erfüllen die diagnostischen Kriterien einer Abhängigkeit und entsprechender Entzugserscheinungen,
Ob unser Gehirn zwischen Heroin und Glücksspiel unterscheidet, frage ich auch David Nutt. Er hat bereits einige Studien mit pathologischen Glücksspielern veröffentlicht, stapelt aber lieber tief. Es gebe einige Unterschiede im Gehirn, es sei aber noch zu früh, um fundierte Aussagen zu machen.
Also forscht David Nutt weiter.
Raus aus dem Käfig: »Rat Park« für alle?
Ist es falsch Drogen zu nehmen? – Die Drogendebatte ist eine moralische Debatte, die sich hinter einem Deckmantel versteckt. Wir müssen die moralische Debatte in den Vordergrund rücken.
Seine
David Nutt hat weitergemacht: 2013 hat er den John-Maddox-Preis erhalten. Der zeichnet Menschen aus, die sich für die Weiterverbreitung von
Vor 20 Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass ein führender britischer Wissenschaftler gegen die Drogenpolitik argumentiert hätte. Das wäre ihnen zu gefährlich gewesen. Mittlerweile ist die Drogendebatte eine öffentliche Debatte. Vorher wollten nur Hippies und Abhängige die Drogengesetze ändern. Jetzt wissen die meisten Menschen, dass die Drogengesetze mehr Schaden anrichten, als Gutes zu bewirken.
Nachdem ich selbst tiefer in die Thematik eingetaucht bin, lande ich immer wieder bei der gleichen Frage: Wie können wir »Rat Park« für alle Menschen zugänglich machen?
Eingangs habe ich aufgefordert, Vorurteile, Schubladen und vermeintliches Wissen zum Thema Abhängigkeit für die Dauer dieses Artikels beiseite zu legen. Ich gebe zu, mir fällt es vielleicht leichter, da ich während meiner Recherche mehr Zeit zum Üben hatte. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass wir mehr über eine gesellschaftliche Rehabilitation nachdenken müssen als über eine individuelle. Und ich hoffe, dass Johann Haris Worte nicht leichtfertig abgetan werden: Abhängigkeit sei eines der Symptome der
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Drogen-Reihe!
Titelbild: Robin Schüttert - copyright