Die deutschen Drogengesetze sind verfassungswidrig
Unser Autor und Rechtsanwalt Frederik v. Paepcke untersucht: Warum darf der Staat seinen mündigen Bürgern verbieten, Cannabis zu besitzen? Die Antwort: Er darf es nicht.

Das zu Recht hochgelobte Grundgesetz ist eine tolle Sache.
An diese Gesetze, die uns einschränken, gibt es Anforderungen. So muss unter anderem jedes Gesetz, das uns etwas verbietet, den Schutz eines
Alle genannten Voraussetzungen (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit) müssen vorliegen, damit ein Verbot verfassungsgemäß ist. Beim Verbot von Cannabis lag das (sonst ebenfalls zu Recht hochgelobte) Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise einmal falsch. Keine einzige der genannten Voraussetzungen liegt vor. Darüber hinaus verfolgt das Verbot von Cannabis einen Zweck, der ebenfalls nicht verfassungsgemäß ist.
Es kommt selten vor, dass ein Gesetz aus so vielen unterschiedlichen Gründen verfassungswidrig ist – und dennoch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wird. Inwiefern lag die Rechtsprechung (aus heutiger Sicht) falsch? Darum geht es heute.

Das Cannabis-Verbot verfolgt keinen verfassungsrechtlich legitimen Zweck
Beginnen wir mit dem Zweck, den das Verbot von Cannabis verfolgt. Zu welchem Zweck darf der Staat überhaupt etwas unter Strafe stellen? Um Mitbürger zu einem »ordentlichen« Lebensweg zu motivieren, festgelegt durch die Mehrheitsbevölkerung? Keineswegs. Der Mensch ist laut unserer Verfassung, wie gesagt, frei. Wir dürfen uns auch dann nach unseren eigenen Vorstellungen frei entfalten, wenn andere dies als »unvernünftig« empfinden. Die Grenze liegt dort, wo wir andere Rechtsgüter verletzen, die schwerer wiegen. Nehme ich ein Messer und ramme es meinem Sitznachbarn ungefragt in den Unterschenkel, so verletze ich sein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses Recht wiegt schwerer als mein Interesse an einer allgemeinen Handlungsfreiheit. So weit, so verfassungsmäßig.
Die §§ 29 ff. des Betäubungsmittelgesetzes (»BtMG«) verbieten unter anderem den Besitz von Cannabis. Folgende Rechtsgüter sollen dadurch geschützt werden:
- Der Einzelne vor sich selbst
- Die Allgemeinheit vor einer
Beide Rechtsgüter sind für den ausgebildeten Juristen äußerst überraschende Begründungen.
»Zu einem selbstbestimmten Leben gehört […] auch die Freiheit jedes mündigen Bürgers, selbst darüber zu entscheiden, ob er berauschende Mittel nimmt oder nicht.« – Positionspapier des Bundes Deutscher Kriminalbeamter
Es verbleibt der Schutz der Volksgesundheit als verfassungsrechtlich zu überprüfendes Ziel. Hinter dieser Zwecksetzung steckt die Befürchtung – oder
Doch damit nicht genug:
Wir danken allen Konsumenten illegaler Drogen, die an unserer Umfrage teilgenommen haben. Leider können wir nicht alle Antworten veröffentlichen. Hier eine Auswahl:
Zum Navigieren benutze die Punkte unterhalb der Grafik oder wische nach links.















Das Cannabis-Verbot ist nicht geeignet, um die »Volksgesundheit« zu schützen
»Betrachtet man die ressourcenintensive Arbeit der Polizei im Bereich der Drogenbekämpfung generell, kommt man recht schnell zu der Frage, ob der engagierte Einsatz wirklich zielführend ist.« – Positionspapier des Bundes Deutscher Kriminalbeamter
Nächster Prüfungspunkt: Ist das BtMG wenigstens geeignet, um den verfolgten (verfassungswidrigen) Zweck zu erreichen? Geeignet ist eine Maßnahme, wenn anzunehmen ist, dass sie den erstrebten Erfolg herbeiführt oder doch wenigstens fördert. Ist das beim Verbot von Cannabis der Fall?
Die kurze Antwort lautet »nein«.
Die etwas ausführlichere Antwort lautet: Das Cannabis-Verbot hat sich entgegen seiner Zweckrichtung sogar nachteilig auf die »Volksgesundheit« ausgewirkt:
- Der
- Die Verfügbarkeit ist nicht nur trotz, sondern sogar wegen der Prohibition gestiegen: In kaum einem anderen Wirtschaftszweig lassen sich derartige Profite erzielen, frei von staatlichen Kontrollen und Steuerpflicht.
- Auch die (erfasste) Deliktshäufigkeit bei Konsumenten sinkt nicht. In absoluten Zahlen:
Die gesellschaftliche

Fazit: Die Prohibition (von Cannabis – aber bezüglich der meisten anderen derzeit illegalen Drogen gelten die gleichen Argumente) schützt die »Volksgesundheit« nicht. Im Gegenteil: Sie verschlechtert sie sogar.
Zahlreiche unbeabsichtigte Nebenwirkungen des Verbots von Cannabis und anderer Drogen schaffen zusätzliche Probleme:
- Aufgrund unserer
- Die Drogenpolitik bewirkt zwar unter dem Strich nichts Gutes – teuer ist sie trotzdem.
- Aus globaler Perspektive sind die Folgen noch einmal verheerender:
Staatliche Strukturen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leiden nicht nur auf dem globalen Level: Auch auf der Ebene des juristisch gebildeten Individuums frage ich mich, wie zur Hölle ein Rechtsstaat angesichts dieser Faktenlage auf die Idee kommt, uns einen Joint unter Androhung von Strafe zu verbieten.
Die folgende Grafik veranschaulicht am Beispiel Cannabis das einzig verbleibende Argument für eine Prohibition. Eine Legalisierung führt zu einem moderaten Anstieg des Konsums – hier bezogen auf Jugendliche. Allerdings gilt diese Aussage bei sonst gleichen Umständen, also bei gleichem Preis und ohne zusätzliche Maßnahmen (zum Beispiel verbesserte Aufklärung und Beratung), um den Gesundheits- und Jugendschutz zu verbessern.
Zum Navigieren benutze die Punkte unterhalb der Grafik oder wische nach links.







Quelle: Liana Jakobi und Michelle Sovinsky: »Marijuana on Main Street? Estimating Demand in Markets with Limited Access«, Dezember 2015. Hier geht es zur Studie
Angesichts der erdrückenden Faktenlage, welche Schäden die Prohibition anrichtet, ist es jedoch –
Das Cannabis-Verbot ist nicht erforderlich
Um bürgerliche Freiheiten nicht unnötig intensiv einzuschränken, wird außerdem danach gefragt, ob ein Verbot erforderlich ist. Eine simple, aber entscheidende Frage ist bei der Beurteilung dieser Frage entscheidend: Stehen dem Staat noch andere, mindestens ebenso geeignete, aber für den Bürger weniger empfindliche Möglichkeiten zur Verfügung, den angestrebten Zweck zu verfolgen?
Na klar gibt es die mit Hinblick auf die Prohibition von Cannabis:
Da ein Verbot von Cannabis das Gegenteil dessen bewirkt, was es soll, ist zunächst eine Entkriminalisierung geeigneter –
Der Staat hat außerdem die Möglichkeit, Präventions- und Suchtberatungs-Angebote auszubauen – insbesondere wenn nicht mehr 80–90% der staatlichen Mittel in Repression (also Strafverfolgung) fließen. Daneben weisen sogenannte »Harm Reduction«-Modelle Erfolge auf – allerdings bislang überwiegend bei harten Drogen wie Heroin, zum Beispiel durch Spritzenvergabe, Drogenkonsumräume etc.
»Offene und realistische statt dämonisierende und polarisierende Aufklärung in Familie und Schule muss durch Entkriminalisierung und sachgerechte Didaktik […] ermöglicht werden.« – Lorenz Böllinger
Im Ergebnis geht es, ähnlich wie bei der
Ganz nebenbei kann man durch eine staatliche Kontrolle des Angebots von Drogen dem äußerst profitablen Geschäft des Drogenhandels die Basis entziehen.
Das Cannabis-Verbot ist nicht angemessen

Der letzte Punkt betrifft die sogenannte Angemessenheit. Dabei wird abgewogen: Welche Rechtsgüter und Interessen wiegen schwerer? Die, die man durch das Verbot einschränkt? Oder jene, die man durch das Verbot schützt? Der beabsichtigte Zweck darf nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen.
Millionen von Deutschen konsumieren die illegale Droge Cannabis.
Moment mal: Weil es »möglich« ist? War da nicht etwas mit »im Zweifel für den Angeklagten«? Nun ja – es ist durchaus möglich, eine abstrakte Gefahr im Strafrecht zu sanktionieren, zum Beispiel die Trunkenheitsfahrt. Nur geht es hier nicht um die Gefahren im Straßenverkehr, wo jederzeit ein Kind über die Straße laufen kann.
»Man kann nicht 4–8 Millionen Gebraucher von Cannabis kriminalisieren, von denen nur 1–4% gegebenenfalls ein Gesundheits- oder Abhängigkeitsproblem haben.« – Lorenz Böllinger
Natürlich sollte es strafbar bleiben, unter dem Einfluss gleich welcher berauschenden Droge Auto zu fahren. Aber bei Cannabis reicht es schon aus, statt eines Glases Rotwein abends einen Joint zu rauchen, um sich strafbar zu machen. Schließlich gefährdet man damit ja abstrakt die Volksgesundheit.
Unsere Verfassung gewährt uns ein umfassendes Freiheitspostulat. In dieses einzugreifen aufgrund einer vermeintlichen Gefahr, die sich in Ausnahmefällen (denn: Abhängigkeit ist die Ausnahme) realisiert und dann noch nicht einmal jemand Dritten unmittelbar schädigt oder gefährdet: Das ist mit unserer Verfassung nicht vereinbar.
Was noch gegen ein Verbot spricht
»Der Staat darf die Bürger durch die Drogenpolitik nicht schädigen« – 123 deutsche Strafrechtsprofessoren
4 Gründe habe ich genannt,
Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, warum sich das Bundesverfassungsgericht noch einmal mit dem Verbot von Cannabis auseinandersetzen sollte:
- Der Gleichheitssatz aus Artikel 3 Grundgesetz: Er verbietet, gleiche Sachverhalte ungleich zu behandeln. Als Besitzer von Cannabis macht es derzeit einen großen Unterschied, ob ich in Berlin, München oder nahe der niederländischen Grenze gefasst werde.
- Der Verfassungsgrundsatz »nihil nocere«: Dieser verbietet dem Staat, seinen Bürgern zu schädigen. Aus dem Vorigen ergibt sich, dass er mit der Prohibition von Drogen gegen dieses Gebot verstößt, wenn man Schaden und Nutzen der Drogenpolitik gegeneinander aufrechnet.
- Das Experten-Argument: Es ist ja nicht so, dass nur Technofans und Alt-68er für eine Legalisierung streiten. Unterstützung kommt aus ungewohnter Richtung: 2012 haben 123 Strafrechtsprofessoren, also etwa 40% aller deutschen Strafrechtsprofessoren, als Initiative »Schildower Kreis« eine gemeinsame Resolution an den Bundestag geschrieben. Titel:
- Die Grenzen der sogenannten »Prärogative des Gesetzgebers«: Man kann vom Gesetzgeber in einer Demokratie nicht verlangen, dass er stets die bestmögliche Politik betreibt. Unsere gewählten Mandatsträger haben einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, Gesetze entsprechend der eigenen Einschätzung im Hinblick auf tatsächliche Gegebenheiten zu fassen. Diese sogenannte »Prärogative« ist ein häufiger Grund dafür, dass ein unvernünftiges Gesetz dennoch verfassungsgemäß ist. Schließlich soll politische Willensbildung im Bundestag geschehen und nicht beim Bundesverfassungsgericht. Aber es gibt Grenzen: Der Gesetzgeber darf keine Rechtsgüter erfinden (Stichwort »Volksgesundheit«). Und er hat eine Überprüfungspflicht: Im Jahre 1994 war der Stand der Wissenschaft ein anderer. Viele der damaligen Befürchtungen, etwa, dass ein Konsum von Cannabis zwangsläufig zu Abhängigkeit führe, sind aus heutiger Sicht empirisch unhaltbar.
- Manche argumentieren außerdem, die Drogenprohibition sei aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen geboten. Ohne in die Tiefen des Völkerrechts vorzudringen: Ja, Deutschland hat das
Was können wir tun?
2 Aussagen über Juristen illustrieren die Meinungsfindung in meiner Profession recht zutreffend: »2 Juristen, 3 Meinungen.« Und wenn wir nach einer rechtlichen Einschätzung gefragt werden, beginnt unsere Antwort immer mit »Das kommt darauf an.«
Das ist nicht ganz falsch. Auch bei der Drogenpolitik denke ich, dass es »darauf ankommt«, nämlich jeweils auf die Erkenntnisse zu den einzelnen Drogen und die Wirksamkeit unterschiedlicher gesetzgeberischer Werkzeuge. Entgegen meiner restriktiveren Einschätzung zu Beginn der Recherche bin ich mittlerweile davon überzeugt: Auch das Verbot von Heroin ist verfassungswidrig. Von LSD, MDMA und zahlreichen weiteren Drogen ganz zu schweigen. Es ist überraschend: Sowohl bezüglich der tatsächlichen Gefahren einzelner Drogen als auch bezüglich der (fehlenden) Effizienz der Prohibition ist die Wissenschaft in den 22 Jahren seit dem Cannabis-Urteil erheblich klüger geworden – nur in der Politik und in der Gesellschaft sind diese Erkenntnisse kaum angekommen.

Was kann der Einzelne tun? Zunächst das Übliche: Parteien wählen, die sich für eine liberalere Drogenpolitik einsetzen. Petitionen unterschreiben. Dem eigenen Abgeordneten schreiben: Finden sich 25% der Abgeordneten zusammen, so können diese eine
- Erhebe Verfassungsbeschwerde! Nachteil: Du musst dich erst durch alle Instanzen klagen (es sei denn, du erwischst durch Glück einen Richter, der die Norm ebenfalls für verfassungswidrig hält. Dann geht es erheblich schneller.) Vorteil: Du schreibst möglicherweise Geschichte. Aber hat man da angesichts des Cannabis-Urteils aus dem Jahr 1994 überhaupt eine Chance? Diese Frage habe ich Lorenz Böllinger gestellt, emeritierter Strafrechtsprofessor an der Universität Bremen und Sprecher des »Schildower Kreises«. Seine Antwort: »Man sollte bedenken, wie viel mehr wir heute wissen und wie in allen Teilen der Gesellschaft langsam ein Umdenken stattfindet. Auch die Debattenqualität hat sich beim Thema ›Drogen‹ erhöht. So könnte die Zeit durchaus reif dafür sein, eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zu erheben.«
- Und zu guter Letzt: Wem das alles zu aufwendig erscheint: Auch darüber reden hilft. In puncto Drogen bedarf es in vielerlei Hinsicht breiter, gesellschaftlicher Aufklärung. Jeder kann seinen Teil dazu beitragen.
Unser Grundgesetz ist eine tolle Sache! Wir sollten darauf achten, dass wir es auch beim sensiblen, kontroversen, angsteinflößenden, verruchten und komplexen Thema Drogen einhalten.
Update: Ich habe dem Bundesjustizministerium die Veröffentlichung einer Gegendarstellung auf Perspective Daily angeboten. Am 29. September 2016 teilte mir Herr Dr. Scholz von der Presseabteilung telefonisch mit, dass dies derzeit nicht möglich sei – auch vor dem Hintergrund, dass sich der Bundesjustizminister zu dem Thema dieses Artikels bislang nicht positioniert habe.
Mehr davon? Dieser Text ist Teil unserer Drogen-Reihe!