Darf Trauern auch Spaß machen?
Zwischen schriller Totenparade und intimem Friedhofsbesuch findet unser Autor in Mexiko 4 Hinweise für einen offeneren Umgang mit dem Tod.
Fast 2 Millionen Menschen quetschen sich Ende Oktober für die Totenparade ins Zentrum von Mexiko-Stadt. Haushohe Skelette aus Pappmaschee mit Sombreros auf den kahlen Schädeln grinsen von den Festwagen herunter. Schauspieler,
Als der letzte Wagen vorbeirollt, verkündet eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Im Leben sind wir vielleicht unterschiedlich, aber wenn der Tod schließlich zu uns kommt, sind wir alle gleich. Dann sind wir alle nur noch »calaveras«. Die Menge jubelt.
Der »Día de los Muertos«, auf Deutsch der »Tag der Toten«, ist für viele Mexikaner das wichtigste Fest im Jahr – und spätestens seit dem letzten
Von Mitte Oktober bis November ist das ganze Land mit Skelettpuppen und Girlanden aus farbenfrohen Totenköpfen geschmückt; Familien bauen Altare mit Fotos sowie den Lieblingsspeisen ihrer Verstorbenen auf und auf dem Höhepunkt der Feierlichkeiten verbringen die Mexikaner eine Nacht an den Gräbern ihrer Lieben – in einem Meer aus Kerzen und Blumen.
1. Das Spiel mit dem Tod
Alle Mexikaner spielen schon seit ihrer Kindheit einmal im Jahr mit dem Tod. Deshalb haben wir keine Angst vor ihm.
Pedro García Muciño ist Präsident
»Jede Schule in Mexiko feiert den Tag der Toten«, erzählt García Muciño. Mexikanische Kinder ziehen vor den Feierlichkeiten in einer Lotterie den Namen eines Mitschülers und schenken dieser Person einen Totenkopf aus Zucker oder Schokolade, jeweils mit dem Namen des Beschenkten auf der Stirn des Schädels. Das erinnert an den Brauch des Wichtelns zu Weihnachten, nur in etwas makabrer Form.
Die Kinder tragen häufig noch selbst gedichtete, witzige Reime vor, warum der Tod sie oder ihn nicht erwischen konnte. »Wir sehen den Tod nicht als finstere, dunkle Person an, vor der man Angst haben muss. Sie ist eher wie ein Kumpel, mit dem man Scherze macht, aber von dem man sich nicht schnappen lassen darf«, erzählt er weiter.
Der Tod kommt in Mexiko übrigens immer in Form einer Frau – in Bildern wie auch in der Sprache.
Die heute bekannteste Darstellung des Todes ist die »Catrina«, ein Skelett mit elegantem Kleid, viel Schmuck und einem großen, französischen Hut. Zum ersten Mal ist sie in einem Kupferstich des Künstlers José Guadalupe Posada um die Jahrhundertwende aufgetaucht. Die Figur war als kleiner Seitenhieb auf die mexikanische Oberschicht gedacht, die in extravaganter europäischer Mode über die Marktplätze Mexikos flanierte und ihren Reichtum zur Schau stellte. Das Skelett in feiner Robe sollte klarmachen: »Innen drin seid ihr auch nicht besser als wir«. Das erklärt auch, warum in ländlichen Gebieten die Feierlichkeiten zum Tag der Toten wichtiger und ausschweifender sind als in den Städten.
2. Am Tag der Toten kommen die verstorbenen Verwandten zu Besuch
Am frühen Abend vor dem Tag der Toten am 2. November bekommt Javier Estrada Medina Besuch von seinen Tanten und Cousins. Die Medinas sind eine typische mexikanische Großfamilie. Die Tanten und Onkel von Javier, alle über 60, waren insgesamt 13 Geschwister. Viele von ihnen wohnen mit ihren Kindern und Enkeln nur ein paar Häuser voneinander entfernt und sehen sich fast täglich. Natürlich feiern sie auch den Día de los Muertos zusammen.
Gemeinsam bauen sie einen bunten Altar mit 7 Ebenen in Javier Medinas Wohnzimmer auf. Darauf stehen Fotos, Schokoladen- und
Kerzen, eine große Flasche Tequila mit einem aufgefüllten Schnapsglas daneben, Vanillepudding, Schokoriegel und sogar ein Teller mit gebratenem Reis samt Spiegelei – dem Lieblingsessen der verstorbenen Oma. Die dominierende Farbe ist orange, denn alles ist drapiert und dekoriert mit den Blättern der »cempasúchil«. Die Mexikaner glauben, die leuchtend orangefarbenen Blüten der Pflanze mit dem seltsam klingenden deutschen Namen »Aufrechte Studentenblume« zeigen den Toten in dieser Nacht den Weg zurück zu ihnen.
»Welches Lied hat Mama immer gehört?«, fragt Javier Medina seine Tante. Sie sitzen gemeinsam im Wohnzimmer, hören die Lieblingsmusik ihrer verstorbenen Familienangehörigen und erzählen Geschichten über die Mutter, Großmutter und den Cousin. Im Fernsehen läuft eine Aufzeichnung der Parade in Mexiko-Stadt. Die Stimmung ist fröhlich und gelöst.
Gegen 10 Uhr abends geht es zum Friedhof. Es hat den ganzen Nachmittag geregnet, die Schuhe versinken mit jedem Schritt etwas tiefer im schwarzen Schlamm. Das 3 Meter hohe, gerundete Steintor, der Eingang zum Friedhof, eröffnet den Blick auf ein Meer aus Kerzen. Blumenduft durchzieht die Luft und überall leuchten die orangefarbenen Blüten der cempasúchil. Hunderte Menschen drängen sich durch die schmalen Gassen zwischen den Gräbern, niemand hier ist verkleidet. Dieser Teil der Feier ist sehr intim.
Der Tequila hält warm
Intim bedeutet in Mexiko aber nicht gleichzeitig ruhig. Eine Mariachi-Band pilgert von Familie zu Familie, um zu Ehren der Toten für ein paar Pesos ein Ständchen zu spielen. Die Lieder klingen mal schwermütig und gedämpft, mal flott und fröhlich, je nachdem, was der Verstorbene gemocht hat. Manche sitzen still, mit geschlossenen Augen vor den Gräbern ihrer Lieben, einige haben kleine Lagerfeuer gemacht und erzählen sich kichernd Geschichten. Viele bleiben die ganze Nacht und halten sich mit Tequila warm, denn durch den Regen ist es kalt geworden.
Javier Medinas Cousin Alan Ayala Medina ist mit zum Friedhof gekommen. »Weißt du, bei uns ist der Tod nicht etwas durchweg Schlechtes«, erklärt er auf dem Weg zurück zum großen Steintor. Mittlerweile haben sich sogar einige Verkäufer unter die Menschen gemischt. Sie bieten rot und grün blinkende Armreifen und Snacks zwischen den Gräbern an. »Wenn jemand geht, bedeutet das nicht, dass die für immer weg sind«, erzählt Alan Ayala Medina weiter. »Sie kommen ja jedes Jahr zum Tag der Toten wieder zu uns zurück.«
3. Der Tod feiert das Leben! … und jeder Grund für eine Party ist gut
»Iss und trink, denn das Leben ist kurz« steht auf der Karte an einem Marktstand in der Stadt Toluca, die nur anderthalb Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt liegt. Auf der Karte ist ein bunt verziertes, breit grinsendes Skelett mit Poncho zu sehen. In der rechten Hand hält es eine Flasche Wein, in der linken ein »Todesbrot« – ein runder, mit kleinen Knochen aus Teig verzierter Wecken, den es während der Fests überall zu kaufen gibt.
»Mexikaner feiern eben gern«, sagt Jorge Esquivel. Seine Familie produziert und verkauft seit mehreren Generationen Totenköpfe, Särge und Skelette aus Zuckerguss zum Tag der Toten. »Der Tod macht uns unsere Endlichkeit bewusst. Deshalb wollen wir keine Sekunde verschwenden und feiern, was das Zeug hält.«
Mit Halloween hat der Tag der Toten nichts zu tun
Den Trend, sich zum Tag der Toten zu verkleiden, gibt es erst seit ca. 10 Jahren. Die US-amerikanische Popkultur nimmt mehr und mehr Einfluss auf das traditionelle Fest. Wie auch in Deutschland begannen viele Mexikaner, Halloween zu feiern, das zur gleichen Zeit stattfindet. Bei dem US-amerikanischen Fest geht es aber mehr um das Gruseln, Zombies und Monster als um die Verstorbenen.
Heute gibt es im Oktober und Anfang November überall im Land Mottopartys mit Skeletten im Kolonialzeit-Look, Mitternachtsradrennen oder Flashmobs, bei denen Hunderte Menschen gleichzeitig Michael Jacksons Thriller-Tanz vor überraschten Passanten zum Besten geben.
Einen besonderen Coup landete die amerikanische Filmindustrie im Jahr 2015 mit dem jüngsten James-Bond-Film »Spectre«. Der Film startet mit einer Verfolgungsjagd in Mexiko-Stadt – inmitten einer riesigen Parade zum Tag der Toten, die in der Form bis dahin in Mexiko nicht üblich war. Die Stadtverwaltung fand die Idee so gut, dass sie kurzerhand entschied, die Parade tatsächlich zu organisieren. Seit 3 Jahren zieht nun der farbenfrohe Umzug jedes Jahr im Oktober durch Mexiko-Stadt und lockt immer mehr Besucher an.
4. Das Fest ist mexikanischer Nationalstolz
Es ist 11:00 Uhr am Vormittag. In wenigen Stunden werden Dutzende Festwagen, ca. 1.200 Freiwillige sowie zahlreiche engagierte Akrobaten und Tänzer durch das Zentrum von Mexiko-Stadt ziehen. Priscila Hernández hat alle Hände voll zu tun, die verschiedenen Darstellerinnen der Parade zu organisieren. Mit 2 Gruppen von Schauspielern, die einen als spanische Einwanderer verkleidet und die anderen mit Schmetterlingsflügeln, geht Hernández noch einmal die Schrittfolgen und Tanzroutinen durch.
Priscila Hernández ist die Choreografin der Parade, gleichzeitig aber auch ein bisschen ihre Erfinderin. »Sam Mendes rief mich an, weil er wollte, dass die Parade im Film so mexikanisch wie möglich wird.« Der
Ein paar Monate nachdem der Film Premiere gefeiert hatte, bekam sie wieder einen Anruf. Diesmal war es die Stadtverwaltung. Sie wollten die Parade im kommenden Jahr wirklich machen und hätten sie gern dabei. »Und jetzt stehen wir hier schon zum dritten Mal, und in diesem Jahr werden über eine Million Menschen erwartet«, sagt sie, dreht den Kopf kurz zur wuselnden Menge hinter sich und sagt dann, nach einer kurzen Pause, mit einem breiten Grinsen: »Das ist doch verrückt.«
»Der Tag der Toten hilft uns im Kampf gegen Halloween«
Marko Mazatl sieht ein bisschen furchterregend aus. Sein Körper ist fast vollständig schwarz bemalt und in den Händen hält er etwas, das aussieht, wie ein Geweih oder die Krallen eines sehr großen Tieres. In wenigen Minuten wird ihm ein Helfer einen sehr echt aussehenden Totenkopf mit langen blauen und schwarzen Federn vor das Gesicht schnallen. Mazatl ist das religiöse Oberhaupt von In Kaltonal, einer Religion aus Zentralmexiko, die auf die Azteken zurückgeht. Sie beten zu den Himmelskörpern und den
Marko Mazatl ist etwas kritischer,
Die Parade ist in mehrere Segmente geteilt, jeder Teil steht für einen Abschnitt der mexikanischen Geschichte. »Außerdem hilft sie uns im Kampf gegen Halloween«, sagt er weiter. Der Einfluss des Fests aus dem Norden wurde in den letzten Jahren immer größer, aber seit dem James-Bond-Film und spätestens seit Disney’s Megahit »Coco« aus dem letzten Jahr finden die mexikanischen Kinder und Jugendlichen ihren Día de los Muertos viel cooler.
Als Disney auch noch versuchte, den Namen »Tag der Toten« für seinen Film als Marke schützen zu lassen, fand sich das Unternehmen jedoch im Zentrum eines
Das weltweite Interesse an der Totentradition in Mexiko ist groß. Vor allem von all denen, deren kultureller Umgang mit dem Tod eher von Distanz und Ängstlichkeit geprägt ist. Unvorstellbar beispielsweise, dass die Worte des einzigen mexikanischen Literaturnobelpreisträgers, Octavio Paz, auch für Deutsche gelten könnten:
Der Mexikaner jagt den Tod, verspottet und umgarnt ihn, umarmt ihn und schläft mit ihm. Er sieht den Tod als sein liebstes Spielzeug und seine beständigste Liebe.
Brauchen auch wir ein farbenfrohes Fest, um dem Tod zu begegnen? Das wird nicht funktionieren. Denn der Umgang mit Trauer und Tod ist zu individuell, als dass man dafür einfach neue, schöne
Titelbild: Arash Marandi - copyright