Ist diese Schule in den Niederlanden nur eine verrückte Pädagogen-Idee?
Hier gibt es keine Klassen, keine Fächer und keinen Stundenplan. Lernt unser Nachwuchs so besser?
Die beiden Mädchen besuchen die weiterführende Schule Agora, deren Konzept zunächst klingt, als hätte sich Pippi Langstrumpf das Ganze an einem regnerischen Tag ausgedacht: kein Stundenplan, keine Fächer, keine vorgegebenen Lerninhalte. Und trotzdem sollen die Jugendlichen hier alles lernen, was wichtig ist. Ist das die Schule der Zukunft oder doch nur eine verrückte Pädagogen-Idee?
An jeder Ecke eine Überraschung
Lea-Sophies und Mels Arbeitsplätze befinden sich in einem U-förmigen Raum, der etwa 3-mal so groß ist wie ein deutsches Klassenzimmer. Gut 30 Schüler sitzen hier zusammen. Jeder arbeitet an etwas anderem. Herauszufinden, wie der Zauberwürfel funktioniert, ist Mels »Challenge«. Herausforderungen, so heißen die Projekte der öffentlichen Schule in Roermond, die Schüler aller
Alles, was sie dafür braucht, bekommt sie in der Schule. Sie kann, wann immer ihr danach ist, den Klassenraum verlassen. Jeder Schüler kann sich jederzeit frei bewegen. Frontalunterricht mit Präsenzpflicht gibt es nicht. Lea-Sophie nimmt mich mit zum Werkraum, der am anderen Ende des Schulgebäudes liegt. Hier arbeiten Schüler mit Holz und anderen Werkstoffen. Sie spricht kurz mit dem Werk-Coach und holt sich Klebeband. Dann geht sie an ihren Arbeitsplatz.
Immer wieder läuft mir Rob Houben über den Weg. Er ist so etwas wie der »Obercoach« der Schule. In seinem Büro hat er mir am Morgen genauer erklärt, wie
Ein Fenster in seinem Büro erlaubt den Blick in den überdachten Innenhof der Schule, der aussieht, wie man sich eine hippe Internetschmiede vorstellt, nur eben für Kinder. Der Hof ist das Kernstück der Schule, die
Eine Schule soll für uns eine Mischung aus Harvard-Universität, einem buddhistischen Tempel, einem Marktplatz, einem Kreativlabor und Disneyland sein. Die Schüler müssen an jeder Ecke Überraschungen, Inspiration und Freude erwarten können.
Der Coach führt mich durch einige Arbeitsräume. Dabei fällt mir einer der außergewöhnlichen Schreibtische ins Auge, an denen die Kinder in ihren Großraum-Klassenzimmern arbeiten: Die Tischplatte liegt hinter der Motorhaube eines alten Autos, dort, wo eigentlich Lenkrad und Armaturenbrett sein müssten. »Die Jungs haben das auf dem Schrottplatz zusammengebaut. Insgesamt 3-mal. Beim ersten Mal ist alles während des Verladens auf dem Lkw auseinandergefallen. Beim zweiten Mal kam es bis hierin, aber passte nicht in den Aufzug. Beim dritten Mal hat alles geklappt.« Rob Houben lacht. Ein gutes Beispiel für die Fehlerkultur an der Schule: »Normalerweise werden Fehler mit schlechten Noten bestraft. Aber die Forschung zeigt, dass Menschen, die ermutigt werden, viel häufiger ans Ziel kommen.«
Freies Lernen, aber mit Verbindlichkeiten
Das sieht Guido van Dijk ähnlich, ich treffe ihn im Lehrerzimmer, das genauso gut ein Café sein könnte. Der Doktorand der Open University Heerlen forscht über das Zusammenspiel von Technik und neuen Lernkonzepten. Er ist einer der Vordenker der Schule und mehrere Tage pro Woche hier. »Wir haben uns damals überlegt, wie unsere perfekte Schule aussieht, und wir haben schnell gemerkt, dass sie ziemlich wenig mit einer Schule zu tun hat, wie wir sie kennen.« Es war allen wichtig, dass nicht das Pauken von Fakten im Mittelpunkt steht, sondern die Freude am Lernen als Prozess.
»Lernen ist wie tanzen. Es muss Spaß machen und du musst es fühlen.« – Guido van Dijk, Mitgründer der Schule
Bei aller Freiheit ist es den Machern der Schule wichtig, zu betonen, dass auch Agora nur mit Verbindlichkeiten funktioniert. Den Lernfortschritt dokumentieren die Coaches zusammen mit dem jeweiligen Schüler in einer Software. Nach und nach bekommen die Coaches so ein detailliertes Bild über die Stärken und Schwächen ihres Schülers und über die Interessen. Jeder Coach betreut etwa 18 Schüler.
Wenn sich ändert, wie wir arbeiten, muss sich auch ändern, wie wir lernen
In der industriellen Revolution hat die Erfindung der Dampfmaschine einiges durcheinandergewirbelt. Heute erleben wir lernfähige Maschinen, die viele, auch komplexe Aufgaben besser und vor allem schneller erfüllen, als Menschen es je
Die Forderung, die deswegen immer lauter wird: Schüler sollen weniger Faktenwissen lernen, sondern mehr sogenannte Zukunftskompetenzen wie Teamfähigkeit, Empathie oder Kreativität.
Veränderungen sind möglich
Der Pädagoge Olaf-Axel Burow von der Universität Kassel schlägt in eine ähnliche Kerbe und plädiert für mehr Freiheit an Schulen. Schulen, wie sie heute in Deutschland Standard sind, hält der Erziehungswissenschaftler für überholt. Seine Ideen für Veränderungen sind denen der Agora-Macher relativ ähnlich:
Das Klassenzimmer hat ausgedient. Die Schule der Zukunft ist offen und frei. Innovative und inspirierende Umgebungen sind wichtig. Kreativität und Kollaboration sind wichtig. Lehrer sollten sich darauf konzentrieren, Schüler beim Lernen zu begleiten, zu fördern, Beziehungen herzustellen.
Auch Bildungsforscher Eckhard Klieme vom
Das Projekt Agora selbst kennt er noch nicht, für ihn klingen aber viele Einzelpunkte daran interessant. Er hält es für wichtig, dass es in einer Schule Lehrkräfte mit Fachkompetenzen gibt, die die Schüler unterstützen und das Lernen für sie strukturieren.
Die Idee, der Planungs- und Strukturierungsprozess für das Lernen werde von den Schülern selbstständig gemacht, ist attraktiv. Das tiefe, systematische Verstehen entsteht aber nicht ohne Anleitung. Schüler sollen an dem arbeiten, was für sie neu und herausfordernd ist. Und genau dafür brauchen sie die Begleitung. Die Schule ist keine Selbstlern-Agentur.
Bei Agora begleiten die Lehrenden diesen Planungsprozess vor allem pädagogisch, die Fachkompetenzen kommen meist von außen.
Trotz der recht starren Richtlinien sei auch in Deutschland vieles machbar, sagt Olaf-Axel Burow. Es gebe einige tolle Schulen, die vom üblichen Schema abweichen. »Die Politik fördert keine
Zwischen Berufswelt und Schulalltag
Was entstehen kann, wenn die Schüler mehr Freiheit erhalten, zeigt die Agora-Schule: Eine Gruppe baut gerade ein
Auch der finanzielle Hintergrund oder die ethnische Herkunft spielen für die Aufnahme an der öffentlichen Schule keine Rolle, jeder kann sich anmelden. Bislang gibt es bei Agora dennoch wenige Jugendliche mit Migrationshintergrund. »Diese Eltern erwarten meist, dass eine Schule traditioneller aussehen muss, mit Fächern, Tests und Noten. Sie werden zu uns kommen, wenn unsere Art der Bildung normaler und akzeptierter ist«, sagt Guido van Dijk.
Eine Frage, die viele beschäftigt: Schaffen die Schüler es so, die landesweit einheitlichen Prüfungen zu meistern?
Die Agora-Schüler legen wie alle anderen in den Niederlanden Prüfungen ab, für die landesweite Standards gelten. Beim letzten Mal haben alle Schüler ihre Prüfungen bestanden. Auf die Tests bereiten sie sich ebenfalls in Challenges vor. Nach Angaben der Schule machen sie das in etwa 20% der Zeit, die andere Schüler brauchen. Was neben dem Lernkonzept verlockend ist: Der Schulbetrieb von Agora in Roermond kostet den Staat pro Schüler im Prinzip genauso viel wie in einer normalen Schule. Im Verhältnis zu anderen Schulen gibt es aber deutlich mehr Lehrkräfte. Das funktioniert, weil der restliche
Nach anfänglicher Kritik und Skepsis schlägt der Schule inzwischen vor allem massives Interesse entgegen. Zu Beginn fanden sich mit Mühe und Not 35 Schüler, sagt Guido van Dijk. Jetzt hat Agora 250 Schüler und eine lange Warteliste. Bis zu 70 Besucher kommen wöchentlich, darunter viele Schulleiter. 2019 möchten 4 Schulen in den Niederlanden das Konzept übernehmen, eine davon auch für Grundschüler. In Belgien wird ebenfalls eine Agora-Schule entstehen.
Für Lea-Sophie, das Mädchen mit dem Schachbrett, bedeutete die neue Schule ein Ende der Hänseleien, die sie als Hochbegabte in anderen Schulen durchmachen musste, erzählt sie mir. Ihre Mitschüler hier akzeptieren sie und sie langweile sich nicht so wie früher im normalen Unterricht, sagt Lea-Sophie und blickt von ihrem Schachbrettrohling auf. Nebenbei erfahre ich, dass ich heute auch eine kleine Challenge für sie war. Lea-Sophie wollte Deutsch üben, indem sie mich durch die Schule geführt hat. Nur bei
Auch ich hatte ja eigentlich eine Challenge, das Kennenlernen der Agora-Schule. Was ich mitnehme: Lernmöglichkeiten und Aha-Erlebnisse sind überall zu finden, jederzeit. Das Leben ist zwar nicht immer eine Mischung aus Harvard, Tempel und Disneyland. In der Schule ist das aber durchaus möglich. Und in so einer Einrichtung wie Agora hätte ich richtig Lust, die Schulbank noch einmal zu drücken.
Titelbild: Benjamin Fuchs - copyright