Das haben Senioren davon, wenn Kinder um sie herumwuseln
Die wenigsten Treffen zwischen Jung und Alt bringen wirklich etwas. Dieser Forscher weiß, wie daraus magische Momente werden. (In Kooperation mit ZDF | plan b)
Jedes Jahr aufs Neue passiert es: Besonders zu Weihnachten oder dem Fest des Heiligen Sankt Martin strömen Gruppen von kleinen Amateursängern in die Altenheime der Republik. Die Absichten dahinter sind stets gut – verfehlen aber dennoch nicht selten ihr Ziel. Kaum hat sich die aufgeregte Kinderschar aufgestellt, liefert sie ihre von langer Hand einstudierte Vorstellung ab. Und ist dann schneller wieder auf dem Rückweg in die Kita, als das hochbetagte Publikum applaudieren kann.
Der Alterswissenschaftler Thomas Klie kennt den Stellenwert der Begegnungen mit den nachkommenden Generationen für die Älteren genau. Der Freiburger Gerontologe hat untersucht, wie wichtig die gemeinsam verbrachte Zeit mit Kindern für Senioren ist.
Im Interview habe ich ihn gefragt, wie der Austausch zwischen den Jüngsten und den Ältesten richtig geht, welche Spielregeln dabei wichtig sind und welche erstaunlichen Auswirkungen die Begegnungen auf Menschen mit einer Demenzerkrankung haben können.
Wer es verpasst hat: Im ersten Teil am Donnerstag ging es darum, warum die Kinder bei solchen Begegnungen mehr sind als kleine Alleinunterhalter. Wie sie von den Begegnungen profitieren, erfährst du hier.
Chris Vielhaus:
Herr Klie, was macht es mit älteren Menschen, wenn sie früher Kinder und Enkel um sich hatten – und diese Kontakte im schlechtesten Fall wegfallen?
Thomas Klie:
Für ältere Menschen ist der Kontakt zu Kindern ausgesprochen wichtig. Emotional, weil sie sich nachfolgenden Generationen verbunden fühlen, und mental, weil sie über sie an Aspekten unserer Zeit teilhaben, die ihnen sonst schwer zugänglich sind. Ohne generative Bezüge besteht die Gefahr, sich in der eigenen Welt von der Sicht der Kinder und ihrem Welterleben abzukoppeln. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der kulturelle und soziale Wandel sehr schnell vor sich geht. Mit den Kindern gelingt es eher, sich in »generativer Verbindung« und somit im Kontakt mit der Welt aus der Sicht nachfolgender Generationen zu fühlen und zu wissen.
Chris Vielhaus:
Man kann es sich eigentlich kaum vorstellen, doch bisher gibt es kaum Forschungsliteratur zu den Auswirkungen von solchen Begegnungen zwischen Jung und Alt.
Thomas Klie:
Begegnungen wie die, die wir in den letzten Jahren organisiert haben, gibt es schon, wenn auch nicht sehr verbreitet. Wissenschaftlich systematisch wurden die Effekte für die Kinder und die Hochbetagten bisher allerdings noch nicht untersucht. Das war und ist auf wissenschaftlicher Ebene Pionierarbeit.
Chris Vielhaus:
Das stelle ich mir nicht leicht vor. Mit welcher Methodik geht man da heran?
Thomas Klie:
Bei den Kindern funktioniert das sehr gut über Frage- und Beobachtungsbögen zur Entwicklung und sozialem Lernen. Hier lassen sich durchaus Effekte messen. Bei den Älteren ist das ungleich schwieriger: Wir haben sehr viel mit Beobachtungen gearbeitet, haben Videosequenzanalysen vorgenommen. Das heißt, wir haben die Situationen betrachtet und geschaut, ob ältere Menschen mit Zeichen von Wohlbefinden, was wir Glück nennen, oder mit Abwehr und Irritation auf die Begegnungen mit den Kindern reagieren. Das können wir auf verschiedene Arten messen.
Chris Vielhaus:
Wie kann man denn in einem Video die Zufriedenheit von älteren Menschen ganz praktisch feststellen?
Thomas Klie:
Das kommt immer darauf an, was Sie für ein Gegenüber haben: Wenn Sie einen Menschen mit einer stark eingeschränkten hirnorganischen Leistungsfähigkeit haben, stellen wir das anders fest als bei einem mental fitten Menschen. Was wir bei allen feststellen konnten, war, dass die Mimik sehr aussagekräftig ist und sich während der Begegnungen verändert: Das Gesicht öffnet sich, der Augenkontakt wird gesucht, die Bereitschaft zum Kontakt wird sichtbar. Somnolente Phasen wurden aufgebrochen und beendet. Kommunikative Zuwendung gegenüber den Kindern wird sichtbar, durch körperliche Hinwendung, Gesprächsimpulse und Berührungen. Auch im Alltag kaum aktivierte und verschollene Fähigkeiten werden wieder stimuliert:
Exklusive Videoausschnitte von unseren Kooperationspartnern von ZDF | plan b.
Die ganze Folge ist ab dem 25.01. in der Mediathek des ZDF abrufbar.
Wir haben die Videosequenzanalysen mit den Betreuungspersonen analysiert und konnten mit ihrer Hilfe in Erfahrung bringen, was sich gegenüber den sonst typischen und üblichen Verhaltensweisen und Alltagssituationen verändert hat. Dabei ließ sich sehr deutlich feststellen, dass gerade bei Menschen mit Demenz sowohl alte kommunikative, soziale, kulturelle, aber auch hauswirtschaftliche Kompetenzen wieder aktiviert werden – wie zum Beispiel Gedichte aufsagen, Lieder singen, Gespräche führen, hauswirtschaftliche Aufgaben übernehmen oder malen. Das kann man zugegebenermaßen auch anders erreichen, gelingt aber mit den Kindern in besonderem Maße.
Wir haben die Treffen regelmäßig einmal pro Woche organisiert. Dadurch konnten aus vereinzelten Begegnungen Beziehungen entstehen. Man erkannte sich wieder, begrüßte sich, freute sich – kollektiv bezogen auf die Kinder, aber nach einer bestimmten Zeit gegebenenfalls auch auf ein Kind.
Chris Vielhaus:
Wie reagieren Menschen mit einer Demenzerkrankung auf den Kontakt mit Kindern?
Thomas Klie:
Menschen mit Demenz verfügen häufig über eine besondere emotionale Kompetenz und Wahrnehmungsfähigkeit. Kinder können sie in besonderer Weise stimulieren. Emotional sind Demente oftmals präsenter und direkter als wir.
Auf eine emotionale Ansprache hin zeigen sie häufig Humor, Anteilnahme und Kompetenzen, die verschüttet waren:
Exklusive Videoausschnitte von unseren Kooperationspartnern von ZDF | plan b.
Die ganze Folge ist ab dem 25.01. in der Mediathek des ZDF abrufbar.
An diesem Ausschnitt lässt sich sehr gut zeigen, wie die schwer an Demenz erkrankte Dame sich ganz anders in ihrer Körperhaltung und Beziehungsfähigkeit präsentiert als sonst. Für Menschen wie sie können das Momente des Glücks sein, die dann allerdings auch wieder verfliegen. Aber Glück ist ja meist so oder so flüchtig.
Chris Vielhaus:
Nun bringen Kinder ja nicht nur einfach Leben in ein Altenheim, sondern sie toben auch und machen Krach. Können alle Senioren damit umgehen?
Thomas Klie:
Ja, in der Regel schon. Es gab von Anfang an seitens der älteren Menschen großes Interesse an den Begegnungen. Dabei kommt es immer darauf an, dass man solche Situationen bewusst und klug gestaltet. Es sollte weder bei den Kindern noch bei den älteren Menschen zu Stresssituationen kommen, die überfordern.
Chris Vielhaus:
Welche Rahmenbedingungen müssen dafür gelten?
Thomas Klie:
Wir sprechen hier von »vertrauensstiftenden Konventionen« zur Einübung eines guten Miteinanders. Die beteiligten Mitarbeiter haben zum Beispiel immer dafür gesorgt, dass es feste Begrüßungs- und Abschiedsrituale gab. Das ist ein wichtiger Baustein, um die Verhaltensunsicherheit und die unterschiedlichen Verhaltensnormen zwischen Kindern und älteren Menschen aufzufangen.
Chris Vielhaus:
Ist es trotz dieser Rituale auch mal zu größeren Konflikten gekommen? Ich denke da zum Beispiel an die in früheren Zeiten gesellschaftlich akzeptierte körperliche Bestrafung als legitimes Erziehungsinstrument.
Thomas Klie:
Nein, so etwas ist selten vorgekommen. Es gab das ein oder andere Mal aggressive verbale oder auch körperliche Reaktionen.
Die muss man auffangen und mit ihnen umgehen, sie gehören zum Leben dazu. Die Begegnungssituationen sollten aber auch nicht idealisiert werden. Hier treffen Menschen aufeinander, die sich zunächst fremd sind, die sich in sehr unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen befinden. Da kann es auch Konflikte geben. Aus ihnen kann und muss man lernen – und das geschah auch. Auch in Familien geht es nicht immer harmonisch zu, auch dort gibt es Konflikte. Und die können in den Begegnungen auch eine Rolle spielen. Mit ihnen umgehen zu lernen hat Effekte für die soziale Entwicklung, das besonders bei den Kindern nachgewiesen werden konnte.
Überwiegend sind die Begegnungen wirklich wunderbar gelaufen: viel Lachen, viel freundliche Aufmerksamkeit, magische Momente im Miteinander von Alt und Jung. »Die Enkel sind die Delikatesse des Alters. Ihnen wird in der Regel sehr viel mehr Toleranz entgegengebracht als den eigenen Kindern.« – Thomas Klie
Chris Vielhaus:
Bei den Kindern gab es längerfristige Effekte, die auch abseits der Treffen nachweisbar waren. Gilt das auch für die älteren Teilnehmer?
Thomas Klie:
Nein. Da darf man die Treffen in ihren Auswirkungen nicht überschätzen. Im Wochenrhythmus spielten die regelmäßigen Treffen durchaus eine Rolle und haben bei den mental Präsenten auch für Vorfreude gesorgt. Kinder können schöne Situationen schaffen und Glücksmomente und Zugehörigkeit vermitteln. Trotzdem sind die existenziellen Fragen von Menschen im hohen Alter dann doch noch andere. Ein Mittel gegen die oft allzu redundanten, »qualitätsgesicherten« und »hygienisch keimfreien Alltage« im Pflegeheim sind sie aber in jedem Fall. Sie führen zu mehr Lebendigkeit in den Einrichtungen, das wirkt langfristig. Nur gegen Personalknappheit, existentielle Herausforderungen, denen sich die Bewohner gegenübergestellt sehen, schwere Krankheiten, da helfen keine wöchentlichen Events – so unverzichtbar sie auch sind.
Wir haben unseren wissenschaftlichen Blick aber nicht nur auf die hochbetagten Teilnehmer der Begegnungen gerichtet, sondern auch auf die beteiligten Mitarbeiter und die Eltern der Kinder.
Chris Vielhaus:
Haben die Begegnungen auch deren Altersbilder verändert?
Thomas Klie:
Da haben wir sehr wertvolle Hinweise erlangt. Die Kinder etwa waren durch ihre Erzählungen durchaus in der Lage, die Das war ein interessanter Effekt! Wir haben also nicht nur bei den älteren Menschen selbst hingeschaut, sondern auch die anderen Interaktionspartner in unser Forschungsdesign mit einbezogen.
Chris Vielhaus:
Also hilft der Kontakt von Kindern und Alten auch gegen Altersdiskriminierung in der Gesellschaft?
Thomas Klie:
Ja. Wir haben zum Beispiel feststellen können, dass manche Eltern zu Beginn des Projektes Angst hatten, dass ihre Kinder sich mit Demenz oder sogar generell bei den älteren Menschen anstecken könnten. Fremd, alt und ansteckend: Das sind fast schon dramatisch diskriminierende und pathologisierende Einstellungsmuster, die nicht überwiegend, aber doch vereinzelt zu beobachten waren. Es gibt sie immer noch, die Tendenzen zu Altersfeindlichkeit bis hin zu regelrechten »Hygieneängsten«.
Chris Vielhaus:
Wir können also auch als Gesellschaft gewinnen, noch über die Kinder und die Hochbetagten hinaus, wenn wir diese Art der sozialen Beziehungen mehr fördern?
Thomas Klie:
Besonders für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das gegenseitige Verständnis sind intergenerative Begegnungen wichtig. Der gesellschaftliche Wandel ist dynamisch, die Generationen werden sich in vieler Hinsicht (schneller) fremd. Regelmäßige Begegnungen zwischen den Generationen leisten da einen wichtigen Beitrag, um Altersdiskriminierung etwas entgegenzusetzen.
Exklusive Videoausschnitte von unseren Kooperationspartnern von ZDF | plan b.
Die ganze Folge ist ab dem 25.01. in der Mediathek des ZDF abrufbar.
Chris Vielhaus:
Was würden Sie Menschen mit auf den Weg geben, die solche Begegnungen ganz praktisch selbst auf die Beine stellen wollen?
Thomas Klie:
Zunächst einmal würden wir uns wünschen, dass Begegnungen zwischen Hochbetagten und Kindern überall zu einer Selbstverständlichkeit werden – in jeder Kita, in jedem Heim oder in Wohngemeinschaften für auf Pflege angewiesene Menschen. Das sollte fester Bestandteil des Konzepts jeder Einrichtung mit älteren Menschen und für ältere Menschen sein. Bitte nicht nur Kinderinvasionen in den Heimen an Weihnachten – so nett sie auch sind – mit einer passiven Rolle der Älteren! Das ist uns ein wirklich wichtiges Anliegen.
Begegnungen müssen gut gestaltet werden. Es bedarf einer klugen Vorbereitung: Einerseits nicht zu stark getaktet und vorgeplant, andererseits auch kein Laisser-faire. Dazu haben wir einiges an auf das jeder zugreifen kann.
Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit hat wenig Reibungspotenzial: Wer würde schon ernsthaft behaupten, für weniger Gerechtigkeit zu sein? Chris zeigt, wie das konkreter geht. Dafür hat er erst Politik und Geschichte studiert und dann als Berater gearbeitet. Er macht die Bremsklötze ausfindig, die bei der Gesundheitsversorgung, Chancengleichheit und Bildung im Weg liegen – und räumt sie aus dem Weg!