Liebes Tagebuch, ...
Manche behaupten, du würdest mich kreativer, zufriedener und produktiver machen. Ist da was dran?
Möchtest du auch dein Leben verbessern, deine Kreativität entfesseln, zufriedener und produktiver werden? Dann haben zahlreiche Blogs und Online-Videos eine Lösung parat: Schreibe etwas!
»Wie das Schreiben mein Leben rettete.« – Titel eines Blogbeitrags auf PassionFlow
Seit ein paar Jahren tauchen immer neue Schreibrituale auf, die uns helfen sollen. Schreiben gehört zur
Das klingt sehr nach einem Hype. Doch dass Schreiben hilft, wird schon
Am Hype ist also etwas dran. Doch wie genau und warum wirkt Schreiben so auf uns? Und wie können wir es gezielt für uns selbst einsetzen?
»Auf dem Blatt ist aus dem Kopf!«
Wir alle schreiben für uns selbst, um uns besser oder zumindest klarer zu fühlen: sei es die Erinnerungsnotiz »Brot kaufen«, die wütende E-Mail, die dann doch nicht abgeschickt wird, oder das Tagebuch. Dabei nutzen wir geschriebene Worte offensichtlich nicht nur, um mit unserer Außenwelt zu kommunizieren, sondern auch mit unserem eigenen Innenleben.
Doch ganz plump gefragt: Wenn ich einfach nur aufschreibe, was ohnehin in meinem Kopf herumgeistert – wie soll dabei etwas Neues entstehen?
»Selbst, wenn ich einfach drauflosschreibe, ordnen und strukturieren sich meine Gefühle und Gedanken ein wenig. Ich kann sie gar nicht so, wie sie in mir existieren, aufs Papier bringen«, sagt
Schreiben hilft, die Gedanken zu fokussieren.
Der Schreibprozess unterscheidet sich von unserem Gedankenstrom: Schreiben ist linear. Die eigenen Gedanken sind so vielschichtig (und nicht selten durcheinander), dass wir sie unmöglich eins zu eins einfangen können. Beim Schreiben bringen wir einen Gedanken nach dem anderen aufs Papier und treffen so eine Auswahl: Was ist gerade wichtig, interessant, drängend? Was belastet, bewegt, beschäftigt mich?
Wenn wir dann zum dritten Mal dasselbe schreiben, stoßen wir auf
»Was ich aufs Papier gebracht habe, bin ich erst mal los.
Doch was ist mit der Hoffnung, sich selbst schreibend besser kennenzulernen – kommen wir mit der richtigen Schreibtechnik an verdrängte Konflikte heran und können neue Potenziale entdecken?
Märchen oder Morgenseiten?
Die US-amerikanische Autorin Julia Cameron prägte in ihrem Buch The artist’s way den Begriff der
Doch viele Verfechter der Methode schätzen an den Morgenseiten noch etwas anderes: dass sie morgens direkt nach dem Aufwachen weniger im »Funktionsmodus« und in alltäglichen Denkmustern sind. Die Hoffnung ist, dass sie so besser an tiefliegende Empfindungen und Konflikte im Unterbewusstsein kommen, um sie zu verarbeiten.
Silke Heimes hält viel von dieser Schreibmethode, glaubt aber, dass sie auf Dauer für viele Menschen zu einseitig ist: »Wir sind alle so gepolt, dass wir bereits eher sortiert und ordnend schreiben. Um an Unbewusstes zu kommen, müssen wir unser Gehirn überlisten. Das heißt, wir müssen Übungen machen, die spielerisch sind, die assoziativ sind, die scheinbar nichts mit unseren Problemen und uns selbst zu tun haben. In diesen Geschichten oder Übungen tritt dann oft das zutage, was darunter liegt.«
Um an das Unterbewusste heranzukommen, lässt Silke Heimes in ihren Kursen nicht Morgenseiten, sondern beispielsweise Märchen schreiben. Die Teilnehmenden bekommen Märchenfiguren und -elemente zugelost, über die sie dann eine Geschichte schreiben sollen. »Da geht es scheinbar nicht um sie. Wenn sie diese Märchen dann vorlesen, halten sie oft inne und denken: ›Scheiße. Jetzt bin ich exakt bei mir gelandet!‹ Es treten also Dinge zutage, die sie vorher nicht bemerkt haben.«
Eine andere spielerische Herangehensweise sei die »Namensübung«. Auch hier hat die Aufgabe scheinbar nichts mit dem Schreibenden zu tun: Die Teilnehmenden schreiben die Buchstaben ihres kompletten Namens untereinander und notieren dann assoziativ und schnell die ersten Worte, die ihnen zu jedem Buchstaben einfallen. Diese Begriffe sollen dann in eine Geschichte eingebaut werden. »Das ist ja zunächst scheinbar Nonsens. Doch da blitzt immer etwas hervor, was zentral ist«, erklärt die Poesietherapeutin.
Einmal am Unbewussten gekratzt, können wir Neues über uns selbst herausfinden. Deswegen hat sich Schreiben in der Therapie längst einen eigenen Platz verdient.
Schreiben als Hilfe zur Selbsthilfe
Viele Therapeuten binden Schreiben heute in irgendeiner Form ein. Silke Heimes hat die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, während einer Therapie Schreibroutinen aufzubauen. Diese können für Patienten dann auch eine Brücke für die Zeit nach der Therapie sein.
Doch nur wenige Therapien nutzen die Macht des Schreibens als begleitende Intervention. So wie das Zentrum Überleben, das im Rahmen des Projekts
Ein beeindruckendes Ergebnis – mit einem großen Aber. Denn Schreiben ersetzt keine Therapie, und sich allein mit dem Kugelschreiber an ein Trauma heranzuwagen ist keine gute Idee: »Psychisch krank zu sein bedeutet ja, dass Zustände, die wir alle kennen, sich so verschärft haben, dass ich massiv darunter leide, im Alltag eingeschränkt bin und allein nicht mehr damit zurechtkomme. Wenn ich das merke, dann sollte ich mir ganz unabhängig von irgendwelchen Schreibangelegenheiten Hilfe holen«, betont Silke Heimes. Haben wir das Gefühl, mit einem Problem klarzukommen, können wir das Schreiben
Und noch etwas ist Schreiben nicht, auch wenn manche Blogs und Online-Videos es versprechen: ein schnelles Wundermittel. Diese falsche Darstellung ärgert auch Silke Heimes: »Bei dem Hype wird da aktuell Wellness to go ›6 Minuten schreiben und Ihnen geht’s gut‹ draus gemacht.« Auch wenn einzelne Schreibsitzungen gleich guttun können, braucht es Regelmäßigkeit, um vom Schreiben nachhaltig zu profitieren.
Du bist dran. Schreibe einfach los!
Für alle, die »das mit dem Schreiben« jetzt ausprobieren oder an alte Erfahrungen mit dem Tagebuch anknüpfen wollen, hat Silke Heimes 3 Tipps parat:
- Wo soll ich nur anfangen? Das unbeschriebene Blatt Papier vor sich liegen zu haben kann einschüchtern und eine ganze Reihe an Selbstzweifeln in Bewegung setzen – auch wenn das Geschriebene für niemanden bestimmt ist. Die erste Herausforderung beim kreativen und therapeutischen Schreiben ist also, alle Erwartungen fallen zu lassen. Erwartungen darüber, wie klug das Endergebnis, wie klar die Handschrift, wie korrekt der Text sein muss. Darüber, wie gut und leicht sich das Schreiben anfühlen sollte. Und darüber, wie viel besser und leichter wir uns danach fühlen müssten.
Für den Einstieg helfen Halbsätze, die dann frei ergänzt werden. Doch wichtig sei, so Silke Heimes, mit so wenig starren Regeln wie möglich an das Schreiben heranzugehen. Auch beim Schreiben müssen wir uns bei Laune halten – es muss Spaß machen. Wer mit einem Fließtext nicht weiterkommt, kann etwa mal Lyrik probieren oder einen Dialog. - Füller oder Tastatur? Den Stift übers Papier zu führen ist eine sinnliche Erfahrung. Aber auch das rhythmische Klappern der Tastatur kann einen beruhigenden Effekt haben. Laut Silke Heimes sind wir handschriftlich tendenziell kreativer und können uns den Inhalt besser merken. Das kennen viele vom Vokabellernen – oder von Spickzetteln, die sie dann doch nicht brauchten. Das spricht dafür, zumindest ab und an zum Kugelschreiber zu greifen,
- Viel hilft viel? Silke Heimes empfiehlt, lieber regelmäßig und dafür kurz als selten und »bulimisch« zu schreiben. Das nehme auch den Druck raus. Also, lieber jetzt für 10 Minuten schreiben, als sich vorzunehmen, am Wochenende mal richtig Zeit dafür zu schaffen.
Die wichtigste Antwort auf alle Fragen zum Thema Schreiben lautet aber: weniger nachdenken, mehr drauflosschreiben.
Titelbild: Brent Gorwin - CC0 1.0