Auch du müllst dein Gehirn zu. Hol dir jetzt die Kontrolle zurück!
Alles, was du dazu brauchst, ist diese Anleitung für deine persönliche Medienhygiene. Lies hier den zweiten exklusiven Auszug aus dem Buch der Perspective-Daily-Gründerin Maren Urner.
Bevor wir loslegen, mach zunächst eine kurze – aber ehrliche – Bestandsaufnahme deines Informationskonsums. Beantworte dafür spontan ein paar ganz banale Fragen:
- Wie viel Zeit verbringst du täglich online?
- Wie viel vor dem Fernseher oder mit anderen Medien?
- Was schätzt du, wie oft du dich täglich durch E-Mails, Push-Nachrichten, Social-Media-Benachrichtigungen und andere »Ich checke das mal eben«-Botschaften ablenken lässt?
- Wie oft ärgerst du dich darüber und wünschst dir, dich anders zu verhalten?
Wenn unser Informationsdrang süchtig macht
Im 21. Jahrhundert besteht die Herausforderung nicht mehr darin, stunden- oder gar tagelang in Bibliotheken nach einer bestimmten Jahreszahl oder Aussage zu suchen. Ausgerüstet mit einem internetfähigen Mobilgerät kannst du von fast überall in Sekundenschnelle an eine unbegrenzte, ja unüberschaubare Menge an Informationen kommen. Kein vergebliches Suchen mehr, kein Streit mehr darüber, wann Napoleon lebte, und keine Sorge mehr darüber, ob wir auf dem Weg zur Arbeit vom Regen kalt erwischt werden.
Doch was, wenn unser Gehirn da nicht hinterherkommt – weil es einfach nicht dafür gemacht ist, unsere regelrechte Informationswut zu verarbeiten, und stattdessen überfordert ist? Wenn es vielleicht sogar abhängig wird von bestimmten Informationsquellen? Etwa dem Pop-up-Fenster deines E-Mail-Kontos, das mit einem unüberhörbaren »Pling!« signalisiert, dass du eine neue Nachricht erhalten hast. Oder dem Social-Media-Feed: Eben schnell noch mal checken, ob deine Freunde schon Fotos vom letzten Abend gepostet haben, ob du noch Karten fürs Konzert nächste Woche bekommen kannst oder irgendwo in der schönen, neuen Welt ein Shopping-Schnäppchen auf dich wartet.
Ja, unsere aktuelle Informationswut kann zur Sucht werden. Ein Weg weg von der Nadel kann uns nur gelingen, wenn wir unsere Gewohnheiten ändern – und eine Medienhygiene entwickeln. Denn genau wie wir uns nach dem Toilettengang und vor dem Essen die Hände waschen, mehrmals täglich die Zähne putzen und regelmäßig duschen, um unseren Körper zu säubern, können wir uns Verhaltensweisen für ein sauberes Gehirn angewöhnen.
Abgelenkt aus Gewohnheit
Statt dein Gehirn kontinuierlich zuzumüllen, kannst du jetzt beginnen, es dosierter mit Informationen zu versorgen – mit solchen Nachrichten und Quellen, von denen du vermutest, dass sie dich wirklich weiterbringen und nicht bloß ablenken. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen – und zwar nicht mit der Halbwertszeit von guten Vorsätzen zum neuen Jahr, sondern ein für alle Mal. Schließlich klappt das mit der Mundhygiene bei den meisten Menschen ja auch ganz gut – warum also nicht auch bei der Medienhygiene.
Um die zu etablieren, musst du zunächst verstehen, was eine Gewohnheit – oder im Extremfall eine Abhängigkeit – ausmacht. 4 Elemente bilden gemeinsam den sogenannten Habit Loop, die Gewohnheitsschleife:
- Der Reiz: Am Anfang steht immer ein Auslöser oder Reiz, der ein bestimmtes Verhalten auslöst – das Pop-up-Fenster, das laute »Pling!«, die Vibration oder das Blinken des Smartphones.
- Die Routine: Wir lernen, den Reiz mit einer bestimmten Routine zu verknüpfen: Das Smartphone hat vibriert oder blinkt, also schauen wir nach. Das Pop-up-Fenster hat unsere Aufmerksamkeit erhalten, also klicken wir in den E-Mail-Eingang.
- Die Belohnung: Wenn wir die Routine ausführen, erhalten wir die Belohnung: Der Kick der neuen Information, die Befriedigung, auf dem neuesten Stand zu sein, das gute Gefühl, dass jemand an uns denkt – immer sind es bestimmte Signale von Botenstoffen im Gehirn, die uns ein kleines
- Das Verlangen: Das Verlangen schließt die Gewohnheitsschleife. Es entsteht, weil unser Gehirn gelernt hat, wie sich die Belohnung – der Kick beim Klick – anfühlt. Das kann so stark sein, dass wir die Welt um uns herum vergessen, Gefahren ausblenden und Verluste in Kauf nehmen. Im Extremfall wird das Verlangen zur Sucht, und wir geraten in eine Abhängigkeit, in der wir nicht mehr anders können, als zu klicken, zu swipen und am besten 5 Informationsquellen gleichzeitig zu konsumieren. Das geht allerdings nicht, weil unser Gehirn zwar schnell zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her springen, diese aber nicht parallel ausführen kann – statt
Gewusst wie: Es kommt nicht auf die Willensstärke an
Bevor du dich nun darauf stürzt, den ungeliebten Gewohnheiten mit Blick auf deinen eigenen Informationskonsum den Garaus zu machen, muss ich dir vorab noch eine schlechte und eine gute Nachricht mit auf den Weg geben: Selbsthilfe-Bücher erklären gern lang und breit die 4 vermeintlichen Zutaten erfolgreicher Verhaltensänderungen.
Dazu gehören laut diesen Büchern in der Regel ein klares Ziel, ein guter Plan, um das Ziel zu erreichen, realistische Zwischenziele und eine ordentliche Portion Willensstärke. Wenn es dann mit dem ambitionierten Sportprogramm oder dem geplanten
Mit ein wenig Zeit und Ausdauer können wir (fast) jede Gewohnheit ändern.
Das ist allerdings grober Unfug, weil dieser Ansatz auf mindestens 2 Fehlannahmen beruht: Erstens können wir unser unerwünschtes Verhalten nicht direkt in das gewünschte Verhalten verändern, dazu gleich mehr. Zweitens können wir dafür nicht durchweg unsere Willensstärke und Selbstkontrolle nutzen. Denn mal ganz abgesehen davon, dass das
Nun aber zur guten Nachricht: Tatsächlich können wir
Schritt 1: Routine identifizieren
Die Routine ist der Teil der Gewohnheitsschleife, die wir ändern wollen – und können. Mithilfe deines kleinen Medien-Tagebuchs solltest du eine oder sogar mehrere Routinen leicht identifizieren können. In meinem Fall ist es zum Beispiel der Blick in den E-Mail-Posteingang. Dann gilt es, die Routine zu ändern, und dabei ist klar: Egal um was es konkret geht, gute Vorsätze und Klebezettel mit der Aufschrift »Jetzt nicht!« reichen nicht aus.
Schritt 2: Mit alternativen Belohnungen experimentieren
Belohnungen sind so mächtig, weil sie unser Verlangen befriedigen. Das Problem dabei ist, dass wir uns oft des zugrunde liegenden Verlangens nicht bewusst sind. Die Frage ist also: Was treibt unser Verhalten wirklich an? Geht es bei meinem Drang, den Posteingang zu kontrollieren, nur um das Lesen von E-Mails? Oder um eine andere Art der Belohnung?
Vielleicht sehne ich mich im stressigen Alltag voll großer und wichtiger Aufgaben nach einem Zeitvertreib, der schnelle Ergebnisse liefert. Die meisten E-Mails sind schnell gelesen und beantwortet, und danach habe ich das trügerische Gefühl, »etwas geschafft zu haben«. Oder geht es mir um das Gefühl, gebraucht zu werden, also letztendlich um einen sozialen Reiz?
Um das herauszufinden, probiere ich verschiedene Alternativen aus: vom Gespräch mit Kollegen oder Freunden (je nach Umgebung) bis zum Spaziergang zwischendurch. Nach jeder Alternative notiere ich ein paar Worte, die mir spontan in den Kopf kommen und später dabei helfen, mich an meine Wahrnehmung zu erinnern. Außerdem stelle ich mir im Anschluss einen Wecker auf 15 Minuten, um zu überprüfen, ob das Verlangen trotz der Alternativhandlung eine Viertelstunde später noch da ist.
Wer denkt, Gewohnheiten ließen sich über Nacht ändern, sei an dieser Stelle gewarnt: Es kann Wochen oder auch Monate dauern, das entsprechende Verlangen ausfindig zu machen – je nachdem, wie viele alternative Belohnungen auf der Liste stehen und wie strukturiert du vorgehst.
Schritt 3: Den Reiz ausfindig machen
Kommen wir zum Auslöser oder Reiz, der das Verhalten auslöst und sich gern zwischen all den Eindrücken versteckt, die täglich auf uns einprasseln. Mit anderen Worten: Häufig wissen wir nicht, warum wir bestimmte Dinge tun. Nehmen wir das Beispiel des routinierten Weges zur Arbeit, bei dem wir automatisch richtig abbiegen: Ist es das Straßenschild, das uns daran erinnert, rechts zu fahren, ein Baum am Wegesrand, der uns den Weg weist, die Uhrzeit, die uns daran erinnert, dass gleich die Arbeit und nicht das Vergnügen beginnt, der Kollege neben uns, der uns unbewusst daran erinnert, dass es ins Büro und nicht in die Stadt oder ins Kino geht? Und warum haben wir heute wie von selbst den Weg zum Bahnhof gewählt, obwohl wir eigentlich zum Sportplatz wollten?
Um den Auslöser einer Gewohnheit ausfindig zu machen, können wir uns zunutze machen, dass fast alle Reize, die Gewohnheiten auslösen, in eine von 5 Kategorien fallen: Ort, Zeit, emotionaler Zustand, andere Menschen und direkt vorausgehende Handlung. Um den Auslöser meiner notorischen E-Mail-Überprüfung ausfindig zu machen, notiere ich also für eine Weile für alle 5 Kategorien den entsprechenden Wert – das sieht dann für einen Tag zum Beispiel so aus:
- Ort: im Büro, im Konferenzraum, auf dem Rad …
- Zeit: 7.30 Uhr, 11.15 Uhr, 13.00 Uhr …
- Emotionaler Zustand: abgelenkt, gestresst, gehetzt …
- Andere Menschen: allein, 2 Kollegen, allein …
- Vorausgehende Handlung: Ankunft im Büro, Telefonat, Absprache mit Kollegen …
Bei welcher Kategorie wiederholen sich bestimmte Reize? Der emotionale Zustand scheint der Auslöser für mein Verlangen, meine Mails zu kontrollieren, zu sein. Nachdem ich also Routine, Belohnung und Reiz auf die Schliche gekommen bin und so alle 3 Eckpunkte der Gewohnheitsschleife kenne, muss ich diese nun umprogrammieren: Jetzt heißt es, die alte Gewohnheit zu ändern – also durch eine neue zu ersetzen.
Schritt 4: Einen Plan haben
Bevor es an den konkreten Plan geht, erinnern wir uns noch mal schnell, was Gewohnheiten sind: Verhaltensweisen, für die wir uns irgendwann mal aktiv entschieden haben und die wir dann automatisiert haben. Um solche Automatismen abzuschalten, müssen wir uns wieder aktiv entscheiden.
Angenommen, der Reiz ist eine bestimmte Zeit, dann hilft es beispielsweise, sich einen Wecker zu stellen. Der Alarm erinnert daran, die neue Routine zu starten – bis sie selbst zur Gewohnheit wird. Ist es wie in meinem Fall eine negativ besetzte Stimmung, etwa aufgrund von Zeitmangel, hilft vielleicht eine Notiz am Bildschirm, auf der steht: Aufstehen!
Jedes Mal, wenn ich merke, dass ich mich überfordert fühle, meine Konzentration schwindet und ich auf die vermeintlich leichte und schnell zu bewältigende Aufgabe »E-Mail-checken« zurückgreifen will, stehe ich also schnell auf, laufe ein paar Schritte durchs Büro und kehre mit einem Glas Wasser, gestreckt und vielleicht mit einem Lächeln im Gesicht zurück an den Schreibtisch. Für den Posteingang lege ich feste Zeiten oder Das-muss-vorher-fertig-sein-Regeln fest, ansonsten bleibt mein E-Mail-Programm komplett geschlossen, sodass erst gar keine Pop-ups am Bildschirmrand auftauchen.
Ich gebe zu, es funktioniert (noch) nicht immer. Es gibt Tage, an denen ich das Programm im Hintergrund anhabe und öfter das Fenster wechsele. Dann aber hoffentlich nicht, weil es eine Gewohnheit ist, sondern weil ich mich bewusst dafür entscheide.
Medienhygiene ist eine bewusste Entscheidung
Die eigene Medienhygiene zu überdenken hat also viel damit zu tun, sich alte Gewohnheiten erst bewusst zu machen und dann zu hinterfragen. Genau das kann sich richtig gut anfühlen, und dafür musst du kein
Du musst kein Achtsamkeitsguru werden oder täglich ins Yogastudio gehen.
Dieses Sich-Bewusst-Machen beeinflusst auch direkt unser Selbstbewusstsein. Denn wer das Gefühl hat, Herrin oder Herr der Lage zu sein, kann aktiver entscheiden und handeln. Wer Gewohnheitsschleifen öfter seziert, kann die eigentliche Handlung, egal ob es die Schokokekse, die Facebook-Timeline oder die Netflix-Serie ist, zu einem selbst gewählten Zeitpunkt viel intensiver
Eine generelle Regel, um mit der Informationsflut umzugehen, ist sicher die alte Binsenweisheit: Weniger ist mehr. Das bringt uns am Ende zurück zum Anfang und den 4 Fragen.
Nutze sie und deine Spontaneinschätzung als Basis für ein kleines Medienhygiene-Tagebuch, das du ein paar Tage oder Wochen führst. So kannst du nach einiger Zeit erkennen, wann, wo und in welchen Situationen du dich am häufigsten ablenken lässt – und wo du den größten Änderungsbedarf siehst!
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