Unser Wirtschaftssystem basiert auf diesen 6 Regeln. Und sie sind alle Lügen
Kaum jemand wagt es heute, die Idee des freien Marktes zu hinterfragen. Das haben ihre Profiteure geschickt eingefädelt.
Mit ein wenig Zeit und Abstand lassen sich die meisten Dinge klarer sehen: persönliche Beziehungen etwa, internationale Konflikte und sogar das Universum verstehen wir immer besser, je mehr Zeit vergeht und
Um deutlich zu machen, was ich meine, machen wir erst mal einen Probelauf. Fangen wir gemächlich an: Stell dir vor, du sitzt in einem Helikopter und schwebst über deinem Zuhause. Es sieht vertraut aus von hier oben, oder? Genau so, wie du es dir vorgestellt hast.
Jetzt lass uns etwas höher fliegen: Dein Zuhause sieht jetzt schon wesentlich kleiner aus, du siehst andere Häuser aus der Umgebung. Im Fluss schwimmt Müll, und wer hat all die alten Autos auf dem Acker abgeladen? Jetzt lass uns noch höher fliegen, bis du dein komplettes Heimatland sehen kannst. Oder geht das überhaupt? Auf der Erde verlaufen keine Linien, die dir anzeigen, wo dein Land endet und das Nachbarland beginnt.
Bei dieser einen Sache aber haben wir unglücklicherweise keine Zeit.
Was hast du gelernt auf unserem kleinen Rundflug? Die Gegend, in der du lebst, ist nicht so hübsch, wie du dachtest. Du hast ebenso bemerkt, dass dein Land nicht mehr ist als eine Idee. An seinen Grenzen ist nichts natürlich.
Also, wie war das? Bist du jetzt bereit für den Ernstfall?
Gut – nur dieses Mal werden wir uns nicht von einer greifbaren, physischen Sache entfernen, sondern von einer Philosophie, einer Weltanschauung. Das wird etwas schwieriger, denn die Idee, von der wir uns distanzieren werden, ist überall. Sie wird oft als gottgegeben hingenommen; ohne Zweifel, ohne Widerworte. Die Rede ist von der Idee des freien Marktes.
Warum es so schwierig ist, den freien Markt als das zu sehen, was er ist
Schauen wir zunächst von Nahem hin – was sehen wir? Vieles, was gut und vertraut ist: Wirtschaftswachstum, offene Märkte, Jahrzehnte steigenden Wohlstandes.
Nun erhöhen wir wieder den Abstand, und schon mischen sich ein paar Probleme ins Bild: Handelskonflikte, Finanzkrisen wie im Jahr 2008.
Dann fliegen wir jetzt ganz nach oben, bis die Luft zu dünn wird für den Helikopter. Was sehen wir?
Der freie Markt funktioniert nicht so, wie es sich die meisten Menschen vorstellen.
Steigende
Spätestens aus dieser Perspektive sehen wir: Der freie Markt funktioniert nicht so, wie es sich die meisten Menschen vorstellen. Vielleicht erkennst du, dass
Jetzt ist dir schwindelig? Dann sind wir die Sache wohl etwas zu eilig angegangen.
Warum die Prinzipien des freien Marktes Lügen sind
Also, gehen wir es langsamer an, Schritt für Schritt.
Die Kernidee der Philosophie des freien Marktes ist es, den Markt so wenig wie irgendwie möglich zu regulieren. Es wird gemeinhin so getan, als sei dies offensichtlich, natürlich, und als könne niemand, der über einen gesunden Menschenverstand verfügt, an diesem Prinzip zweifeln. Dasselbe gilt für alle weiteren »Regeln« des freien Marktes:
- Die natürliche Form des Marktes ist der freie Markt.
- Die »unsichtbare Hand« wird allen das beste Ergebnis bescheren.
- Wirtschaftswachstum schafft Jobs und reduziert die Armut.
- Regierungen müssen nicht allzu viel gegen die Ungleichheit unternehmen, denn der »trickle-down effect« (Durchsickerungseffekt) garantiert, dass das Geld auch in den Taschen der Ärmsten landet.
- Damit es allen gut geht, braucht es unregulierten Handel.
- Demokratie und der freie Markt harmonieren auf natürliche Art und Weise, wie ein Tanzpaar auf dem Parkett.
So gut wie alles davon ist falsch. Aber der Reihe nach:
- Der freie Markt ist nichts Natürliches. Er ist bei Weitem nicht die einzige Art und Weise, menschliches Wirtschaften zu regeln. Es gibt viele Alternativen, viele davon wurden noch nie ausprobiert. Es gibt außerdem kaum gute Gründe dafür, die Märkte nicht zu regulieren, solange das Ziel ist, den Lebensstandard zu verbessern. Das liegt daran, dass Unternehmen keine besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben. Ihr einziges Ziel ist es, kurzfristig ihre Profite zu maximieren. Alles, was dem entgegensteht, macht sie weniger wettbewerbsfähig – sie verlieren Geld.
- Die Sache mit der »unsichtbaren Hand« wird ebenfalls falsch ausgelegt.
Auch wenn die Anhänger des freien Marktes vom »survival of the fittest« sprechen, werden sie der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes nicht gerecht. Das Dictum bedeutet nicht etwa, dass Wettbewerb gut ist. Was Herbert Spencer (und später auch - Wirtschaftswachstum schafft keine Jobs, und es reduziert nicht die Armut; es tut das Gegenteil. In den
Obwohl die Weltbank und andere Akteure das immer wieder behaupten, ist auch die Armut in den vergangenen 30 Jahren kaum gefallen. - Die hohe Armut hat ihre Ursache darin, dass die Früchte unseres Wirtschaftssystems nicht in die Taschen der Ärmsten fließen.
- Freihandel ist nicht immer etwas Gutes. Offene Märkte haben ein globales Handelssystem erschaffen, in dem die meisten armen Länder sich darauf beschränken müssen, Rohstoffe zu exportieren, während die OECD-Länder die Produktion komplexerer Güter fast vollständig kontrollieren. Auch hier bilden China und andere asiatische Nationen wieder die Ausnahme, indem sie Handelsbarrieren nutzen, um die heimische Industrie zu schützen, während sie die Fähigkeiten entwickelt, um auch international mithalten zu können.
Freihandel bedeutet, dass sich die Länder des Globalen Südens niemals über ihren aktuellen Zustand hinaus entwickeln werden können. Denn sie können weder die - Die Idee, Demokratie und der freie Markt würden sich gegenseitig ergänzen, ist Nonsens. Sie sind sich vielmehr spinnefeind. Niemand, der ein Unternehmen leitet oder einen Markt zu beherrschen versucht, sieht es gern, wenn seine Aktivitäten von den launischen Ansichten der ungewaschenen Massen beschränkt werden. Das wäre Kommunismus.
Wie ist es möglich, dass ein System, das auf derart vielen Lügen basiert, es geschafft hat, die vorherrschende ökonomische Philosophie dieser Erde zu werden?
Warum wir damit anfingen, diese Lügen zu glauben – und warum wir damit weitermachen
Es ist kein Zufall. Der freie Markt wird seit über 70 Jahren von einer kleinen Gruppe Menschen beworben und gefördert. Und sie haben einen so dermaßen guten Job gemacht, dass heute fast niemand mehr ihre Ideen hinterfragt – obwohl sie eben überwiegend falsch sind.
Es begann in den späten 1940er-Jahren, als eine Gruppe der bekanntesten Ökonomen der damaligen Zeit die
Der freie Markt wird seit über 70 Jahren von einer kleinen Gruppe Menschen beworben und gefördert. Und sie haben einen so dermaßen guten Job gemacht, dass heute fast niemand mehr ihre Ideen hinterfragt.
Mit großzügiger finanzieller Unterstützung von Unternehmen und wohlhabenden Gönnern verschaffte sich die Gruppe in den 70er- und 80er-Jahren durch die Wahlen von Ronald Reagan zum US-Präsidenten und Margaret Thatcher zur britischen Premierministerin weltweit Gehör. Die profilierten Mitglieder der Mont Pelerin Society, zu denen hochrangige Politiker, Banker und Journalisten gehörten, gründeten zudem eine Reihe von Thinktanks, die wiederum die Idee des freien Marktes weiterverbreiteten. Auf diesem Wege beeinflussten die Gruppe auch die Ökonomie-Lehre an den Universitäten und Schulen.
Dabei waren diese frühen Verfechter des freien Marktes so erfolgreich, dass es heute nur noch vereinzelt Wirtschaftsinstitute gibt, die ihren Studierenden überhaupt noch irgendetwas anderes vermitteln als das System des freien Marktes. So kommt es, dass uns die Idee des freien Marktes heute so normal erscheint, dass so gut wie alle Menschen an sie glauben – sie ist zu unserer Religion geworden.
Warum wir endlich damit aufhören müssen, diese Lügen zu glauben
Zu Beginn sprach ich davon, dass wir Zeit und Abstand brauchen, um all das klar zu sehen. Ich erwähnte ebenfalls, dass wir die Zeit nicht haben.
Das liegt darin begründet, dass der Umgang mit der Natur einer der verhängnisvollsten Mängel innerhalb freier Märkte ist. Unsere Umwelt ist in diesem System nicht mehr als ein Vorratslager voller Rohstoffe und möglichen Wohlstands. Der freie Markt versteht nicht, dass die Natur die Quelle allen Lebens ist. Wenn sie zerstört und verschmutzt wird, spricht der freie Markt von »Externalitäten«, einem unbeabsichtigten Nebeneffekt. Die Ökonomen des freien Marktes bevorzugen es, die Externalitäten zu ignorieren, obwohl uns die klassische Ökonomie etwas anderes erzählt. Unter diesen Bedingungen ergibt es für Unternehmen sogar Sinn, die Natur zu zerstören. Ihr Verhalten hat keine Nachteile – selbst wenn es zur Klimakatastrophe kommt: Schmelzende Polkappen öffnen neue Handelsrouten, der
Die Klimakatastrophe ist die bedrohlichste Folge des freien Marktes und ein direktes Ergebnis des Strebens nach Wirtschaftswachstum.
Eine solche Denke ist nicht nur kurzsichtig und intellektuell schwach, sie hat auch zerstörerische Folgen.
Die Klimakatastrophe ist die bedrohlichste davon und ein direktes Ergebnis des
Solange unsere Gesellschaft damit nicht aufhört – und es bleiben nur wenige Jahre, um eine fatale Kettenreaktion zu verhindern –, macht sie große Teile dieses Planeten unbewohnbar. So wird die Idee des freien Marktes letztendlich einen Großteil der Arten und einen Großteil der Menschen töten.
Obwohl es an der Oberfläche anders zu sein scheint, leben wir in einer Welt, die viele Ähnlichkeiten mit der Zeit hat, in der Martin Luther lebte. Unsere Weltanschauung ist völlig verzerrt und wir müssen sie geraderücken, um voranzukommen.
Wir müssen endlich damit anfangen, die 95 Thesen an die Kirchentüre zu nageln.
Titelbild: Micah Williams - CC0 1.0