»Leute, die sich öfter prügeln, kennen diese Techniken«
Wie hast du zugeschlagen? Autor Houssam Hamade hat aufgeschrieben, warum Menschen austicken. Wir treffen ihn am Görlitzer Bahnhof, wo Skinhead Gese sich mit 60 Punks angelegt hat.
22. Juli 2019
– 18 Minuten
Görlitzer Bahnhof, Berlin-Kreuzberg.
»Hier hat mir seine Geschichte erzählt«, sagt Houssam Hamade.
»Gese bezeichnet sich selbst als – aber nicht als rechter, nicht als Nazi-Skin. In der Geschichte erzählt er auch davon, dass er und seine Freunde immer schwarze Musik gehört haben. Sie hatten halt was gegen
In den 80er-Jahren war er viel unterwegs. Er ist auch immer noch so: kurze Haare, trainiert, tätowiert. Ein ganz interessanter Mensch. Wir haben früher Kampfsport zusammen gemacht. Gese ist zu Hause geschlagen worden und hat einfach einen ganz schönen Hass gehabt. ›Entweder Täter oder Opfer‹, sagt er. Er hat mir erzählt, wie sein Vater ihn geschlagen und die Polizei nur zu ihm gesagt hat, er solle aufpassen, dass es keine Spuren gibt.
»Wir haben uns gefühlt wie die Götter«
Gese und seine Freunde haben sich in der Gruppe also gern gekloppt. Hier in der Gegend sind sie in eine Punk-Kneipe gelaufen und haben Stress gesucht – Stühle rumgeworfen, rumgebrüllt. Das war wohl auch sehr erfolgreich, weil alle nur ausgewichen sind. ›Wir haben uns gefühlt wie die Götter‹, hat er gesagt. Danach haben sie sich gegenseitig erzählt wie toll sie sind, sind hier am Görlitzer Bahnhof gesessen, hier drüben, glaube ich, und fanden sich geil. Dann haben sie unten auf der Straße Geschepper und Getöse gehört. Sie schauen runter und sehen 60 Punks die Treppe hochrennen, mit Knüppeln und Stangen. Gese meinte, dass sei wie im Film gewesen. Ihm und seinen Freunden ist natürlich der Arsch auf Grundeis gelaufen.
Hierhin wollte Gese über die Schienen flüchten, an den »Schlesi«, den Bahnhof Schlesisches Tor.
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Quelle:
Juliane Metzker
Sie mussten sich dann entscheiden was sie machen. 3 sind dageblieben und haben Prügel gekriegt. Das war wohl gar nicht so schlimm, weil Zeugen dabei waren und die Polizei auch ziemlich schnell gekommen ist. Die anderen sind dann über die Gleise rüber zum Schlesischen Tor gelaufen. Gese hat aber gesehen, dass unten welche von den Punks mitlaufen und dann gedacht: ›Jetzt bin ich ganz schlau und klettere an einem Baum nach unten.‹ Sie haben ihn aber trotzdem erwischt und er ist ziemlich hart verprügelt worden. Ganz schlimm. Das beschreibt er auch sehr eindrücklich. Das waren wohl die schlimmsten Prügel, die er je bezogen hat, und ich glaube, das heißt etwas bei ihm. Seine Mutter meinte nur: Selbst schuld!
Ich fand Geses Geschichte interessant, weil er so ein richtiger Schlägertyp war – und das heute reflektiert. Er sagt, man braucht eine Weile dafür, um aus diesem schwarz-weißen Täter-Opfer-Denken herauszukommen.«
Houssam Hamade
»Angefangen hat mein Erwachsenenleben als glühender, kiffender Anarchist […]« So stellt sich Hamade auf seiner Website selbst vor. Er arbeitete als Türsteher, nahm an Kickboxwettbewerben teil, gründete mit Freunden einen profitlosen Club und studierte dann Sozialwissenschaften. Heute schreibt er. »Sich Prügeln« ist sein erstes Buch.
Bildquelle:
Juliane Metzker
Geses Geschichte ist eine von 18 Erzählungen, die der Autor und freie Journalist Houssam Hamade in seinem Buch aufgeschrieben hat. Über 50 Interviews hat Houssam Hamade geführt, um die Antwort auf eine Frage zu finden: In welchen Situationen legt sich dieser Schalter um, der Menschen sonst davon abhält zuzuschlagen?
Bei einem Bier in Berlin, wo die meisten Geschichten aus dem Buch spielen, haben Juliane Metzker und Katharina Wiegmann mit Houssam Hamade über Gewalt, männliche Kultur und Prügeltechniken gesprochen.
»Es gibt im Buch ein paar Geschichten, in denen Gewalt als befreiend empfunden wird«
Katharina:
Houssam, ist Gewalt manchmal doch eine Lösung?
Houssam:
Das ist eine schwierige Frage. Aber ich würde schon sagen: Ja. Ich habe mehr als 50 Menschen interviewt und dann 18 Geschichten aufgeschrieben. Nach der Recherche haben mich auch noch Leute kontaktiert. Bei 2 von ihnen war klar, die wurden in der Schule gemobbt. Als sie sich gewehrt haben, wurde es besser. Ich kenne das von mir selbst, ich wurde auch schon gemobbt und da hat das geholfen. Da war Gewalt eine Lösung. Im Buch gibt es ein paar Geschichten, in denen Gewalt als befreiend empfunden wird.
Juliane:
Warum hast du überhaupt ein Buch über das Prügeln geschrieben?
Houssam:
Die Idee hatte ich bei einer Party. Ich saß in der Küche, es war sehr laut, alle redeten durcheinander. Einer erzählte dann eine Prügelgeschichte. Er hatte sich am Tag vorher geprügelt und auch ein schlechtes Gewissen. Es war keine Prahlerei, sondern er dachte darüber nach, ob er sich dabei vielleicht scheiße verhalten hat. Der ganze Raum war still. Alle haben zugehört. Das war sehr beeindruckend.
Ich habe gemerkt: Das spricht ein Bedürfnis an. Ich denke immer viel darüber nach, was richtig und was falsch ist, wie sich Menschen verhalten und warum. Und ich habe den Eindruck, dass dieser Moment, in dem man sich entscheidet zuzuschlagen, ein Kristallisationspunkt ist. Da versammelt sich das Beste und das Schlechteste im Menschen. Wenn man für sich oder für andere einsteht, das halte ich für eine der besten Eigenschaften. Wenn man nach unten tritt, ist das eine der schlechtesten Eigenschaften der Menschen.
Beste Interviewvoraussetzungen: Juliane interviewt Houssam Hamade vor eine Kneipe auf der Wiener Straße.
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Quelle:
Katharina Wiegmann
Katharina:
Darüber schreibst du auch in deinem Buch. Die Spirale der Gewalt gibt es und sie ist dumm und hässlich. Genauso dumm und hässlich ist es, Leuten, die nach unten treten, nichts entgegenzusetzen. Ich finde es mitunter recht bewundernswert, wenn Menschen ihre Würde und ihren Raum verteidigen, obwohl das doch gefährlich ist. […] Denn wenn Gewalt sich eigentlich nicht lohnt und wir uns trotzdem wehren, deutet das darauf hin, dass es uns hier um etwas Wertvolles geht, etwas, das uns in diesem extremen Moment wichtiger ist als unsere Gesundheit.Houssam Hamade: »Sich Prügeln«
Katharina:
Was genau meinst du damit? Worum geht es?
Houssam:
Ich würde es mit dem Wort »Würde« zusammenfassen. Wer sich als wertvoll empfindet, spricht sich selbst Würde zu und will sich nicht knechten lassen. Dieses Bedürfnis steckt dahinter. Und auch, dass man das bei anderen nicht will und sagt: Ich lasse nicht zu, dass du erniedrigt wirst.
Katharina:
Steckt das wirklich hinter allen Erzählungen in deinem Buch? Die Geschichte von Gese klingt erst mal nach relativ stumpfer Gewalt.
Houssam:
Ich glaube, es gibt verschiedene Gründe dafür, Gewalt anzuwenden. Für sich einzustehen ist zumindest einer davon. Und Gese sagt zwar, dass es scheiße war, was er gemacht hat, aber er erklärt es auch. Wenn man immer zusammengestaucht wird, dann will man das irgendwann nicht mehr. Dann fühlt es sich gut an, über anderen zu stehen und stark zu sein. »Entweder oben oder unten« ist ja seine Logik. Ich möchte nicht behaupten, dass sich prügeln immer toll oder edel ist. Manchmal ist man vielleicht einfach nur ein Arschloch, das einem anderen eine reinhaut.
»Prügeln ist Teil der männlichen Kultur«
Katharina:
5 Geschichten sind Erzählungen von Frauen. Mich hat diese Zahl ehrlich gesagt überrascht,
Houssam:
Ich hatte eigentlich die Idee, es 50/50 zu machen. Ich wollte weibliche Perspektiven hören. Es war aber schwierig, denn von Frauen kamen nicht so viele Geschichten. Prügeln ist Teil der männlichen Kultur.
Juliane:
Es gibt in deinem Buch die Geschichte von einer Frau, die auf der Toilette bedrängt wird. Sie hat dann zugeschlagen, damit sie da rauskommt – das ist Selbstverteidigung. Dann erinnere ich mich noch an – auch eine Art der Selbstverteidigung. Und es gibt Eva; bei ihr ging es darum, dass sie mit ein paar zugekoksten Typen Party gemacht hat, mit denen nach Hause ging und es dann gefährlich wurde, als einer mehr wollte als sie. Ich glaube, es gibt keine Geschichte, in der die Frau die Aggressorin ist, oder?
Houssam:
Doch! Alissa. Sie arbeitet in einem Club, jemand schmiert da etwas an die Wand und sie entscheidet sich dafür, ihm »eine Nachricht zu überbringen« …
Juliane:
Okay, aber sie bleibt damit eine Ausnahme. Du hast gerade gesagt, dass Zuschlagen etwas mit der männlichen Kultur zu tun hat. Haben wir das als Frauen einfach nicht gelernt? Und sollten wir das vielleicht lernen?!
Katharina: »Ich glaube, ich habe diesen Moment erlebt, den du in deinem Buch beschreibst, Houssam …«
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Quelle:
Juliane Metzker
Katharina:
Ich glaube, ich habe diesen Moment erlebt, den du in deinem Buch beschreibst, Houssam – den Moment, in dem man sich entscheidet, ob man in eine Kampfsituation tritt oder nicht. Wir waren mit Freunden in einem Club in München, es war sehr eng, die Stimmung aufgeheizt. Wir kamen da rein und haben wohl ziemlich viel Raum eingenommen. Ich kann mir vorstellen, dass das einige Menschen geärgert hat, die vielleicht das Gefühl hatten, wir nehmen ihnen Raum weg. Wir hatten einfach viel Spaß miteinander und haben uns nicht groß darum geschert, was um uns herum passiert. Morgens sind wir dann total verschwitzt aus dem Club raus. Da baute sich auf einmal ein Typ vor mir auf, schaute mir in die Augen und sagte: ›Und dich ficke ich jetzt.‹ Ich habe mich dann, komplett im Affekt, ohne darüber nachzudenken, groß gemacht, ich glaube, ich war sogar ein bisschen größer als der Typ, und habe gesagt: ›Ich ficke vielleicht dich.‹Katharina
Houssam:
Gute Antwort!
Katharina:
Der wurde dann richtig, richtig aggressiv und war bereit zuzuschlagen. Im letzten Moment hat ein Freund von mir sein Gesicht vor meines geschoben. Der hat dann die Faust abgekriegt. Ich habe hinterher sehr viel über meine Reaktion nachgedacht und darüber, was dieser Typ in mir triggern wollte. Ich glaube, er hatte das Gefühl, an diesem Abend nicht genug Aufmerksamkeit und Raum bekommen zu haben. Die Reaktion, die er sich von mir gewünscht hätte, wäre vielleicht gewesen, dass ich ein bisschen kichere, mich schüchtern abwende und ein schlechtes Gefühl habe. Es ging ihm um Macht. Meine Reaktion in diesem Moment
Houssam:
Wie hast du dich dabei gefühlt?
Katharina:
Es hat sich gut angefühlt. Ich habe mich nicht kleingemacht. Aber es hätte auch anders enden können. Was, wenn er ein Messer dabeigehabt hätte? Das hätte ungut ausgehen können – und zwar nicht nur für mich. Ich habe in diesem Moment eigentlich auch für andere entschieden, wie diese Situation weitergeht. Es waren ja auch ein paar Männer dabei – und jetzt kommen wir wieder zu diesem Männer-Frauen-Ding: Wahrscheinlich habe ich intuitiv darauf gezählt, dass einer von denen sein Gesicht für mich hinhält. Ob ich jetzt wirklich bereit gewesen wäre, mich zu prügeln, möchte ich nämlich mal dahingestellt lassen …
Auf der Suche nach dem Baum, wo Skinhead Gese von den Schienen nach unten kletterte.
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Quelle:
Juliane Metzker
Juliane:
Ich weiß nicht, ob das von der Mutterrolle kommt, aber Frauen wird ja sonst immer ein eher deeskalierendes Wesen zugesprochen. Als ich 16 war, haben wir einen Geburtstag draußen im Feld gefeiert. Da kam dann eine Gruppe Jungs, die nicht dazu gehörte, die auch auf die Party und den Alkohol trinken wollten. Als sie damit anfingen, Stühle gegen die Fenster zu schmeißen, haben wir uns eingesperrt. Aber es hieß: Erst mal alle Männer rein, weil die Männer potenziell diejenigen sind, die die Aggressivität eskalieren lassen. Die Frauen haben draußen die letzten Sachen zusammengesammelt. Da stand schon die Idee dahinter: Wenn die uns sehen, gibt es eher Deeskalation statt Eskalation.Juliane
Houssam:
Das finde ich interessant. Vielleicht ist das gar nicht so blöd; von meiner männlichen Sozialisation her würde ich aber sagen, dass das ein ganz unehrenhafter Move war. Da muss man sich als Typ eher vor eine Frau stellen. Als reflektierter Mann muss man sich aber eigentlich bemühen, das mal zu durchbrechen.
Juliane:
Dazu habe ich auch eine Geschichte für dich. Wir waren mal in einem Club in Münster, da war ein Typ, der war so hart besoffen, dass er die ganze Zeit alle um sich herum angerempelt hat. Ich stand dummerweise Rücken an Rücken mit dem. Ich war ziemlich angepisst davon und hab mich irgendwann umgedreht und ihm einen Stinkefinger ins Gesicht gehalten. Der Typ hat mir dann 2 Stinkefinger ins Gesicht gehalten, dann aber gleich über mich hinweg auf die Jungs gestiert. Ich meinte sofort: »Hey, hier spielt die Musik!« Dann wurde ich aber auch schon von den Jungs weggezogen. Da wäre vielleicht sonst der Punkt für mich gewesen, den die Leute in deinem Buch beschreiben. Und da habe ich auch gedacht: Dürfen Frauen sich denn überhaupt prügeln?
Houssam:
Wenn ich mit meiner Freundin in so eine Situation komme, versuche ich immer zu überlegen, ob ich mich jetzt dazwischen stellen soll oder nicht. Manchmal will sie das vielleicht selbst lösen. Ich versuche dann einfach mit ihr zu kommunizieren und sie zu fragen.
Juliane:
Es gibt ja diese Phrase: Frauen schlägt man nicht. Und das hat gute Gründe, ich will Gewalt an Frauen auf keinen Fall relativieren oder sagen, dass die sich mal besser wehren sollen. Ich frage mich aber manchmal, ob das uns Frauen nicht auch schwächer wirken lässt und die Power nimmt.
Houssam:
Schwierig. Katharina, ich habe auch noch einen Gedanken zu deiner Reaktion auf den Typen. Sein »Ich ficke dich!« hat er ja vorgeblich sexuell gemeint. Du hast das total umgedreht und ganz klar auf den Machtfaktor, den er eigentlich meint, zugespitzt.
Katharina:
Ja, und das hat ihn durchdrehen lassen. Der wollte sich bestimmt nicht mit mir schlagen. Der wollte Macht ausüben.
Houssam:
Da will ich aber auch noch mal sagen: Es gibt Regeln unter Männern. Und solche Männer verletzen die Regeln.
Wenn sich jemand mir gegenüber so verhalten würde, dürfte ich ihm sagen: »Verpiss dich jetzt oder du kriegst eine aufs Maul.« Das wäre in Ordnung. Und das wissen die Typen auch. Aber sie gehen davon aus, dass Frauen nicht so antworten dürfen.
An U-Bahnhöfen in Berlin passiert so einiges. Und manches geht dort richtig schief. Deshalb spielen diese Orte auch immer wieder eine Rolle in den Geschichten, die Houssam Hamade aufgeschrieben hat – auch in seiner eigenen.
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Quelle:
Juliane Metzker
So prügelst du dich richtig
Juliane:
Houssam, du bist ja auch selbst mit einer Geschichte in dem Buch vertreten. »Die Stimme aus dem Inneren« heißt sie. Sie spielt auch an einem Berliner U-Bahnhof, am Frankfurter Tor. Dich haben 5 Typen angemacht, dann flog dir ganz schnell eine Faust ins Gesicht. Du warst dann am Boden und schreibst über diese Situation: Meine innere Stimme sagte: ›Schlag zu. Irgendeinen. Schlag ihm ins Gesicht.‹ Ich suchte mir den aus, der direkt vor mir stand. Ich haute zu, ohne jede Technik.Houssam Hamade: »Sich Prügeln«
Juliane:
Diese Reaktion finde ich interessant.
Houssam:
Ich habe gar keine richtige Erklärung für diese innere Stimme. Das hört sich ja fast ein bisschen esoterisch an. Ich habe das aber so wahrgenommen. Eine Stimme tief in mir, die langsam, wie in Zeitlupe, zu mir spricht. Ganz komisch. Die hat mir einfach nur gesagt: »Du musst aufstehen. Du kannst jetzt hier nicht liegen bleiben. Du musst zuschlagen.« Das war auch ein guter Ratschlag.
Juliane:
Im Buch steht auch, und das kannte ich bereits: Suche dir den Stärksten aus der Gruppe aus, dann wissen alle anderen, wo der Hase läuft. Ist das eine Art Technik?
Houssam:
Es wäre auf jeden Fall eine Technik, wie ich sie im Buch beschreibe. In der männlichen Kultur erzählt man sich Geschichten. Es gibt immer den Rockertypen, den du mit 14 kennst. Der erzählt dir: »Du musst dir immer den Stärksten nehmen und dem dann so richtig auf die Fresse hauen!«
Bei den Techniken beschreibe ich aber auch instinktive Reaktionen. Dass man einfach nur laut wird und brüllt. Das ist eine Reaktion, die ganz viele haben – vielleicht ist die evolutionär vererbt: Wenn sie in Gefahr sind, fangen sie an zu brüllen. Und ich sehe das als sehr sinnvolle Handlung in vielen Fällen, weil es den Gegner oder die Gegnerin einschüchtert und gleichzeitig die eigenen Kräfte in Wallung bringt.
Katharina:
Im Buch gibt es zwischen den Geschichten Einschübe, die kleine Handreichungen sind, wie man sich in einer Prügelei verhalten könnte. Stand dahinter auch der Gedanke, dass du deine Leserinnen und Leser dazu empowern möchtest, dass sie sich mal wehren? »Leute, die sich öfter prügeln, Arschlöcher, kennen diese Techniken. Und Leute, die keine Arschlöcher sind, kennen diese Techniken nicht.« – Houssam Hamade
Houssam:
Zuerst ging es mir darum, die Logik, die hinter einer solchen intensiven Situation steht, verstehbar zu machen. Aber wahrscheinlich ist es schon so. Leute, die sich öfter prügeln, Arschlöcher, kennen diese Techniken. Und Leute, die keine Arschlöcher sind, kennen diese Techniken nicht. Es hilft, sie zu kennen. Das heißt aber nicht, dass man sie dann auch anwenden kann.
Es gibt zum Beispiel den »Schlangenblick« – dabei guckt man jemanden ganz fies und gefährlich an. Ich habe das auch schon probiert, wurde aber durchschaut, und der Typ hat mir ins Gesicht gelacht. Ich würde daher eher »den Psycho« empfehlen: Man spielt einfach verrückt – dabei kann man auch zeigen. Das widerspricht sich nicht.
Juliane:
Welche Technik mich sehr interessiert hat, war »die Selbstprogrammierung« … Wenn ich nachts auf der Straße laufe und vielleicht schon den Schlüssel durch meine Faust gesteckt habe, um im Notfall wehrhafter zu sein, stelle ich mir manchmal schon vor, wie es wäre, wenn jetzt jemand um die Ecke springt. Du stellst dir eine bestimmte Situation vor: Jemand will dich angreifen. Und in Gedanken spielst du dann durch, wie du dich verhalten wirst. Und diesen Gedankengang wiederholst du immer und immer wieder. Das hat den Effekt, dass Nervenbahnen verknüpft werden und es dir dadurch viel leichter fällt, tatsächlich so zu handeln.Houssam Hamade: »Sich Prügeln«
Houssam:
Und dann stellst du dir vor, wie du ihn plattmachst?
Juliane:
Oder auch wegrenne, wenn das noch geht.
Houssam:
Was immer ein sehr ehrenhafter Move ist!
Juliane:
Ich mochte auch die Technik des Geschichtenerzählens … Dass man von einer grausamen Tat berichtet, die man (angeblich) schon begangen hat, um zu zeigen: Mit mir nicht! Sollte man sich so eine Geschichte ausdenken, damit man etwas in petto hat, wenn die Situation davor ist, zu kippen?
Houssam:
Es kann immer sein, dass das jemand durchschaut, darauf muss man sich dann auch schon programmieren. Aber ja, man kann sich schon so eine Geschichte ausdenken. Ich habe solche Geschichten. Ich habe zum Beispiel schon erzählt: »Lass mich in Ruhe, ich will nicht wieder in den Knast.«
Es geht vor allem darum, dass man sich selbst klarmacht, was man will. Ob es einem jetzt um Gerechtigkeit geht oder einfach darum, mit heiler Haut davonzukommen. Und dann entsprechend zu handeln.
Aussicht vom Bahnhof Schlesisches Tor
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Quelle:
Juliane Metzker
»In der richtigen Stimmung weiß man genau, was am meisten wehtut«
Katharina:
Es zieht sich auch ein bisschen durch das Buch, dass es 2 Dimensionen gibt, wenn man sich prügelt: das Körperliche und das Mentale. Was ist wichtiger?
Houssam:
Ich würde sagen: das Mentale. Es geht um Einschüchterung und darum, dass man sich eben nicht einschüchtern lässt. Wenn sie die richtige mentale Einstellung hat, kann eine Frau super viel Kraft entwickeln. Ihr habt euch bestimmt schon mal in einer Beziehung schlimm gestritten und sehr zielgenau die Dinge gesagt, die am meisten verletzen. Und ich glaube, das ist auch körperlich so. Wenn man in der »richtigen« Stimmung ist, dann weiß man auch genau, was am meisten wehtut.
Juliane:
Was mir bei deinen Geschichten auch aufgefallen ist: Ich hatte das Gefühl, dass die Leute ab einem bestimmten Punkt ganz genau wussten, was sie gerade tun.
Was mir aber ein bisschen gefehlt hat, was nur in Nebensätzen aufgekommen ist, ist die Dimension der Angst. Der Satz, an dem ich in deiner persönlichen Geschichte echt hängen geblieben bin, ist dieser: Wirklich passiert ist mir nichts, außer dass meine Brille schief war und ich etwa zwei Monate lang Angst hatte, raus zu gehen.Houssam Hamade: »Sich Prügeln«
Juliane:
Den fand ich krass. Dir ist nicht nichts passiert, wenn du 2 Monate danach so ein Gefühl hast!
Houssam:
Es gibt ja auch die Geschichte von Fabian, die in Neukölln spielt. Der erzählt etwas ganz Ähnliches. Das hat wirklich lange nachgewirkt. Seine Freundin hat sich danach ein Pfefferspray gekauft und mit Kampfsport angefangen.
Juliane:
Fabian war mit seiner Freundin unterwegs, dann ist den beiden ein Typ hinterher, hat sie angepöbelt und die ganze Zeit gesagt, was er mit der Frau machen will …
Houssam:
Ganz, ganz eklig. Das ist auch die schlimmste Geschichte, finde ich. Da gebe ich bei Lesungen immer eine heraus.
Juliane:
Stichwort Triggerwarnung: Manche der Menschen aus deinen Geschichten wirken selbstbewusst, aber bei einigen Situationen kann man schon sagen, dass sie einfach traumatisch sind. Wie hast du darauf geachtet, dass du bei ihnen keinen Trigger umlegst?
Houssam:
Die meisten sind ja auf mich zugekommen. Ich hatte den Eindruck, dass der Prozess des Erzählens den Leuten eher gutgetan hat.
Gewalt ist kein Unterschichtenphänomen
Katharina:
In bestimmten Milieus spricht man über solche Dinge nicht. Da wird es so dargestellt, als wäre Gewalt ein Unterschichtenphänomen. Dabei merken wir gerade im Gespräch, dass sehr viele existenzielle Fragen berührt werden: Würde, Stolz, das Aufstehen gegen Ungerechtigkeiten. Bist du das mit deinem Buch bewusst angegangen?
Houssam:
Ich kenne das noch aus meiner Schulzeit. Als ich mich gegen Mobber gewehrt habe, hieß es: »Es gehören immer 2 dazu!« Und: »Gewalt ist immer falsch!« Das ist beides falsch. Aus einer radikal pazifistischen Perspektive kann man vielleicht sagen, dass Gewalt immer falsch ist, und das respektiere ich auch. Aber es ist schon eine steile These.
Ich finde es super wichtig, dass wir über diese Themen sprechen. Es verbindet ganz viel – das Körperliche mit dem Geistigen. Egoismus mit Altruismus. Und es verbindet alle Klassen.
Das Buchcover von »Sich Prügeln«
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Quelle:
Houssam Hamade
Katharina:
Du arbeitest schon am nächsten Buch …
Houssam:
Ja. Es heißt »Arschloch« – darin erzählen mir Leute Geschichten, in denen sie selbst Arschlöcher waren. Es ist gar nicht so leicht, welche zu finden. Es geht mir ja auch selbst so: Mit Sicherheit war ich schon oft in meinem Leben ein Arschloch, es kann gar nicht anders sein, aber mir fallen diese Geschichten nicht ein. Und so geht es, glaube ich, fast allen.
Houssam Hamade sucht noch nach Menschen, die ihm ihre persönliche Arschloch-Geschichte erzählen wollen. Wenn ihr mit ihm in Kontakt treten wollt, schreibt ihm eine Mail an reden@houssamhamade.de.
Juliane schlägt den journalistischen Bogen zu Südwestasien und Nordafrika. Sie studierte Islamwissenschaften und arbeitete als freie Journalistin im Libanon. Durch die Konfrontation mit außereuropäischen Perspektiven ist ihr zurück in Deutschland klar geworden: Zwischen Berlin und Beirut liegen gerade einmal 4.000 Kilometer. Das ist weniger Distanz als gedacht.
von
Katharina Wiegmann
Als Politikwissenschaftlerin interessiert sich Katharina dafür, was Gesellschaften bewegt. Sie fragt sich: Wer bestimmt die Regeln? Welche Ideen stehen im Wettstreit miteinander? Wie werden aus Konflikten Kompromisse? Einer Sache ist sie sich allerdings sicher: Nichts muss bleiben, wie es ist.