Warum deine Schwächen in Wahrheit ein Zeichen von Stärke sind
In einer Arbeitswelt, die sich nur für Leistung interessiert, müssen sich alle ständig optimieren. Warum wir anfangen sollten, über unsere Grenzen zu sprechen.
Wer sich im Wettkampf befindet, sollte keine Schwächen zeigen. Der Angestellte, der sich für den frei werdenden Führungsposten in Stellung bringt, die Basketballerin, die um den »Starting Five«-Platz im Team kämpft, die Abgeordnete, die den vakanten Ministerposten will, sie alle wissen: Es geht nur mit Leistung. Nur, wenn man stärker ist als die Konkurrenz.
Es sind daher seltene und lehrreiche Momente, wenn jemand, der keine Schwächen zeigen darf, genau das tut und ganz und gar ungeschützt dasteht. So wie Angela Merkel an einem heißen Sommertag im Juni. Es war der erste Staatsbesuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Deutschland. Politiker sind es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen. Doch auf einmal interessierte sich niemand mehr für den erfolgreichen Politik-Neuling aus der Ukraine. Alle starrten auf Merkel, die in der prallen Berliner Mittagssonne am ganzen Körper zu zittern begann.
Wassermangel, erklärte die Kanzlerin später, als die gesamte deutsche Medienlandschaft bereits in Aufruhr war. »Sorge um Bundeskanzlerin«,
»Ich glaube, dass es so, wie es gekommen ist, eines Tages auch vergehen wird.«– Angela Merkel, Bundeskanzlerin
Einmal abgesehen von den vielen unseriösen Ferndiagnosen sind das nachvollziehbare Überlegungen. Es handelte sich schließlich um die mächtigste Person des Landes. Und bisher war völlig undenkbar, Angela Merkel in einer Situation zu erleben, in der sie die Selbstbeherrschung verliert.
Umso erstaunlicher war ihr anschließender Umgang damit. War zunächst noch von Dehydrierung die Rede, fand Merkel nach ihrem
Jemanden in der Öffentlichkeit über die eigene Psyche reden zu hören, ist ein seltenes Ereignis. Das Beispiel Merkel zeigt aber: Es ist möglich, in einer Leistungsposition Schwäche einzugestehen, ohne dabei an Souveränität zu verlieren. Es ist möglich, gleichzeitig zu zittern und trotzdem voll leistungsfähig zu sein. Zumindest, wenn man Merkels Aussagen über ihre eigene Gesundheit Glauben schenkt.
Das Beispiel zeigt aber noch etwas anderes. Unsere Gesellschaft hat Probleme damit, Schwächen auszuhalten. Schnell beginnen wir, an Menschen zu zweifeln, wenn sie scheinbar schwach sind. Wir können ja gar nicht anders, als in kausalen Zusammenhängen zu denken. Oft fallen diese Kausalitäten denkbar einfach aus: Ein Zitteranfall steht dann für Krankheit. Und wer krank ist, gilt nicht als leistungsfähig.
»Stärken und Schwächen sind immer subjektiv.« – Stephanie Huber, Mediatorin und Konfliktmanagerin
Menschen, die auf die ein oder andere Weise beeinträchtigt sind, etwa weil sie im Rollstuhl sitzen, wird schnell unterstellt, weniger belastbar zu sein. Das zeigt sich an einem anderen Beispiel aus der Politik: Seit der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble im Jahr 1990 Opfer eines Attentats wurde, ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. 7 Jahre später, als der amtierende Kanzler Helmut Kohl als einen möglichen Nachfolger Wolfgang Schäuble ins Gespräch brachte, diskutierte das Land darüber, ob denn ein Mann im Rollstuhl
Ja, warum denn nicht? Selbstverständlich kann man körperliche und psychische Einschränkungen und Behinderungen haben und gleichzeitig den Anforderungen im Beruf, in der Schule oder im Privatleben gerecht werden. Die Reaktionen auf Merkels Zittern zeigen einmal mehr, wie schnell an dieser Tatsache gezweifelt wird.
Warum es gut ist, Schwächen zu haben
Schwächen sind aber nicht nur hinnehmbar. Wenn wir Schwächen nicht als Schwächen begreifen, sondern als natürliche Grenzen der eigenen Belastbarkeit sowie als Grenzen der eigenen Fähigkeiten, dann sind sie erst eine Voraussetzung dafür, dass wir
So argumentiert auch der Soziologe Richard Sennett: »Indem wir uns mit anderen Menschen zusammentun, können wir individuelle Mängel ausgleichen« schreibt er in seinem Buch Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält (2012). Er schreibt darin über den Wert des Gemeinschaftssinns in der Arbeitswelt und darüber, wie der moderne Kapitalismus Kooperation und Konkurrenz aus dem Gleichgewicht gebracht hat.
Seine These: Ein Arbeitnehmer, der nur konkurriere, bleibe weit unter seinen Möglichkeiten. Es werde häufig als Schwäche missverstanden, wenn Kollegen abhängig voneinander seien. Dabei sei es genau andersherum: »Sie kooperieren, um etwas zu schaffen, das sie allein nicht schaffen können.«
Das ist völlig einleuchtend, wenn ich an meinen eigenen Beruf als Redakteur denke, der ohne die Zusammenarbeit mit Entwicklern, Designerinnen, Lektorinnen, Praktikanten und einer Geschäftsführung gar keinen Sinn hätte. Aber auch innerhalb meiner »Abteilung«, der Redaktion, sind Differenzierung und Kooperation notwendig.
Würden alle Autorinnen und Autoren unserer Redaktion darauf abzielen, in denselben Bereichen die gleichen Kenntnisse zu erlangen, dann wäre es unmöglich, besondere Kompetenzen für bestimmte Aufgaben – beispielsweise die Podcast-Produktion – zu erlangen. Ganz zu schweigen von thematischem Fachwissen.
Jede Profession hat ihr eigenes, grundlegendes Rüstzeug. Eine Basketballerin sollte nach Möglichkeit beide Hände schulen, weil sie sonst kaum auf höchstem Niveau spielen könnte. Es ist aber nicht notwendig, dass sie täglich Distanzwürfe von der 3-Punkte-Linie übt, wenn sie stark unter dem Korb ist. Sie kann es sich dann sogar erlauben, schwach von der Dreierlinie zu sein. Wenn es auf den entscheidenden Wurf ankommt, Sekunden vor dem Ablaufen der »Shot Clock«, dann geht der Ball an die Spielerin, die am besten Dreier werfen kann. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Selbstoptimierung aus Angst
Stärken zu schulen und von ihnen zu sprechen ist das eine. Schwächen zuzulassen und zu kommunizieren das andere. Es gibt gute Gründe, warum wir uns scheuen, davon zu sprechen. Der Soziologe Heinz Bude hat vor einigen Jahren die »Gesellschaft der Angst« diagnostiziert. Er spricht von der Angst, »als Einzelne auszurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren und im freien Fall ohne den Schirm eines haltenden Milieus oder einer traditionellen ›Verliererkultur‹ abzustürzen und im sozialen Nichts zu verschwinden.«
Um nicht in diesen Abwärtsstrudel zu geraten, investieren Menschen daher permanent in ihr soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital. Sie merzen ihre Schwächen aus und verbessern ihre Fähigkeiten.
Man kann Umwege machen, Pausen einlegen und Schwerpunkte verschieben; aber das muss einen Sinn machen und zur Vervollkommnung des Lebenszwecks beitragen. Die Angst, einfach so dahinzuleben, ist schwer ertragbar.
Man werde nicht mehr durch eine positive, sondern nur noch durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten. Man glaube, in jedem Moment mit seinem ganzen Leben zur Disposition zu stehen. Wer stehen bleibe und sich nicht weiterbilde, werde schnell zum Versorgungsfall, schreibt Heinz Bude.
Wer von eigenen Schwächen weiß, spricht also besser nicht darüber – und tut alles, um die Stärken zu stärken und die Schwächen zu schwächen. Wer mithalten will, dem bleibt dieser Logik nach nichts anderes übrig, als sich selbst zu optimieren und
Richard Sennett hat Flexibilität als ein grundlegendes Kennzeichen und als »das Zauberwort« des modernen globalen Kapitalismus beschrieben. Die Arbeitnehmerin müsse jederzeit bereit sein für Veränderungen. Beruf, Wohnort, Familie – alles sei den Anforderungen der Wirtschaft unterworfen.
Da das Normalarbeitsverhältnis immer häufiger prekären Arbeitsverhältnissen weicht und Beschäftigte heute in einem globalen Wettbewerb stehen, werden ihnen zunehmende Flexibilität und Leistung abverlangt. »Es ist nur natürlich, dass diese Flexibilität Angst erzeugt«, schreibt Richard Sennett in seinem 2006 erschienenen Buch Der flexible Mensch.
Wenn uns die ständige Angst umtreibt, das zu verlieren, was wir erreicht haben, sobald wir aufhören, an uns zu arbeiten – wie können wir dann über unsere Ängste und Zweifel reden, ohne gleich im Verdacht zu stehen, »Lowperformer« und Versager zu sein? Wie könnte denn eine Arbeitskultur der persönlichen Grenzen aussehen, in der vermeintliche Schwächen keine Jobs kosten, sondern begrüßt werden?
Wer Schwäche zeigt, wird nahbar
Eine Arbeitskultur der Leistungsbereitschaft haben wir bereits. Der Unternehmensführung kommt es entgegen, wenn wir permanent an unseren Stärken arbeiten und uns über Gebühr weiter optimieren. Eine Parallelstruktur – die Arbeitskultur der persönlichen Grenzen – muss auch von Führungspersonen umgesetzt werden. Und es gibt gute Gründe dafür, dass sie das in Zukunft häufiger tun.
Die Mediatorin und Konfliktmanagerin Stephanie Huber sagte vor wenigen Monaten
Als ich während meiner Recherche für diesen Artikel erneut mit Stephanie Huber spreche, sagt sie: »Stärken und Schwächen sind immer subjektiv.« In ihren Gesprächen mit Chefs und Angestellten habe sie häufig erlebt, dass Menschen, die etwas nicht schaffen, das subjektiv als Schwäche sehen. Wenn sie dann aber gegenüber anderen Mitarbeitern darüber sprechen, werde diese Offenheit positiv bewertet. »Die eigene Schwäche wird von außen als Stärke wahrgenommen«, sagt Stephanie Huber. Es sei daher gar nicht angemessen, von Schwäche zu reden. Wer sich anderen gegenüber öffnet, erscheint plötzlich ganz stark.
Beziehungen entstünden zwischen Personen, die menschliche Wesenszüge zeigen, nicht zwischen Menschen, die sich als perfekte Hülle präsentieren. Die Psychologie nennt das, was Stephanie Huber anspricht,
Das ist vor allem dann angebracht, wenn Eigenschaften, die man selbst als Schwäche sieht, besonders belastend sind. Und wenn Führungskräfte und Kolleginnen helfen könnten, das zu ändern. Denken wir noch einmal an die Basketballspielerin: Ihr Team setzt voll auf 3-Punkt-Spiel und sie hadert mit der eigenen miserablen Quote. Den Frust über ihre Schwäche hat sie in sich hineingefressen.
Das ändert sich erst, als sie sich in der Kabine den Teamkameradinnen öffnet. Entsprechend der »Self-disclosure«-Theorie wird das positiv aufgenommen. Die Mitspielerinnen ermutigen sie, manche bieten gemeinsame Trainings an, bekunden ihren festen Glauben an die Fähigkeiten der vermeintlichen Versagerin.
Davon profitiert nicht nur die Beziehung zwischen den Spielerinnen, sondern auch die einzelne Spielerin, die sich offenbart hat. Am Ende profitiert das gesamte Team, unabhängig davon, ob die Spielerin nun zur herausragenden Distanzwurf-Schützin wird oder nicht.
Schwächen sind häufig verborgene Stärken
Das fiktive Beispiel der Basketballerin zeigt: Schwächen sind immer Ansichtssache – und häufig veränderbar. Manchmal bilden Eigenschaften, die man selbst als Schwächen empfindet, den Keim einer eigentlichen Stärke. Wie sehr eine bestimmte Denkweise und das eigene Selbstbild dazu führen, dass wir uns für schwach halten und damit Erfolg verhindern, hat die US-amerikanische Psychologin Carol Dweck in ihren Arbeiten zum Thema »Mindset« erläutert. Ihre »neue Theorie des Erfolgs« hat 2006 zu einem regelrechten Hype in der Psychologie geführt.
Dweck spricht von einem dynamischen Selbstbild (»growth mindset«). Es zeichnet sich dadurch aus, dass Fähigkeiten flexibel sind und sie sich durch Übung verändern und entwickeln können.
Nicht immer ist das notwendig. Denn wenn nur über Stärken gesprochen wird,
Es gibt bessere Möglichkeiten, mit Schwäche umzugehen. Ihnen wohnt ein großes konstruktives Potenzial inne, das zu Kooperation, Vertrauensbildung und persönlichem Wachstum anregt. Eine Arbeitskultur, die Schwächen thematisiert und zulässt, überwindet sie letztendlich.
Titelbild: Brooke Cagle - CC0 1.0